Einleitung
Die Integration Europas jenseits von Wirtschaftsgemeinschaften, wie sie die Nachkriegsgeschichte dominierten, und über den vormaligen Eisernen Vorhang hinweg ist ein langfristiges Projekt. Insbesondere die heutige Jugend bestimmt deshalb die Zukunft und Erfolg dieses Projektes. Über die Haltung junger Menschen zu Europa weiß man allerdings recht wenig. Ist Europa insgesamt und die EU-Osterweiterung im Besonderen eher ein Schreckgespenst, das einen kompensativen Nationalismus befördert, oder fungieren junge Menschen als Motor der europäischen Integration? Die Autorinnen und Autoren bisher vorliegender Analysen befassen sich eher allgemein mit den Problemen, die der Integrationsprozess in der Gesamtbevölkerung mit sich bringt, und fokussieren kaum auf junge Menschen.
Die so genannte EU-(Ost)Erweiterung wurde am 1. Mai 2004 formell vollzogen - zehn neue Mitgliedsstaaten aus Osteuropa und dem Mittelmeerraum wurden Teil des Projektes "Europäische Integration". Die EU zählt seitdem etwa 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus 25 Ländern. Der Prozess der Erweiterung ist nicht abgeschlossen. Rumänien und Bulgarien werden im Jahre 2007 beitreten, Kroatien und vermutlich auch die Türkei zu einem späteren Zeitpunkt. Weitere Länder des Balkans und auch die Ukraine haben Beitrittsambitionen.
Immer wieder wird allerdings gefragt, ob das Projekt der europäischen Integration in der Bevölkerung insbesondere der angestammten EU-Länder (Italien, Frankreich, Deutschland und Benelux) auch angenommen wird oder ob es - in der Form, in der es aktuell betrieben wird - eher neuem Nationalismus Vorschub leistet. Die europäische Integration wird bisher gern als ein auf politischer, rechtlicher oder wirtschaftlicher Ebene vollzogenes Unterfangen betrachtet, das von Eliten getragen wird und in der Bevölkerung nicht oder noch nicht angekommen ist. Während die Systemintegration voranschreitet, verläuft die Sozialintegration deutlich langsamer.
Allerdings ist der Bekanntheitsgrad dieses Sachverhaltes unter den Bürgern sehr gering.
Nur eine parallele Entwicklung von System- und Sozialintegration wird langfristig das Projekt Europa festigen.
Wie Melanie Morisse-Schilbach und Katja Schröder hervorheben, stellt die stetige Veränderung des Objektes der Identitätsbildung durch die Erweiterungsschritte eine besondere Schwierigkeit der Entwicklung von europäischer Identität unter EU-Bürgerinnen und -Bürgern dar.
Ein Gefühl der Identität muss sich auf Grundlage dieser Unterschiedlichkeit weniger auf das Vorhandensein von Ähnlichkeit gründen als vielmehr auf den gemeinsamen Willen zum Erfolg des Projektes Europa. Thomas Meyer spricht hier von einer "Projektidentität", die sich weniger am Status quo als an den Zielen des Projektes der Integration orientiert.
Der Prozess des Zusammenwachsens Europas wird vorrangig von den - jetzt - jüngeren Altersgruppen zu leisten sein. Delhey bewertet diesen Sachverhalt positiv; er glaubt an ein wachsendes Sozialkapital in Gestalt von Vertrauen in die EU, da insbesondere die jüngeren Altersgruppen mehr Vertrauen in Bürger der (neuen) Mitgliedsländer zeigten als die älteren.
Die hier vorgelegte Analyse wirft einen komparativen Blick auf diese These und kontrastiert sie mit der These, dass die (Ost)Erweiterung der EU eher Quell eines kompensativen - Besorgnisse um negative Konsequenzen der Erweiterung verarbeitenden - Nationalismus ist. Es wird danach gefragt, ob es Unterschiede in verschiedenen Altersgruppen in der Haltung zu Europa und dem Projekt der europäischen Integration gibt. Dabei wird zwischen dem Altmitglied Deutschland und den Neumitgliedern Polen und Tschechische Republik verglichen und erarbeitet, inwieweit sich in den Erweiterungsländern ein anderes Stimmungsbild zeigt als in Deutschland.
Die Daten
Datengrundlage der folgenden Analysen ist eine Repräsentativstichprobe für die gesamte deutsche Wohnbevölkerung ab 14 Jahren (N = 1 008), ergänzt durch drei repräsentative Stichproben der Grenzregionen Deutschlands (N = 513), Polens (N = 397) und der Tschechischen Republik (N = 409). Als Grenzregion wurde ein 50 Kilometer breiter Streifen beiderseits der Grenze definiert. Es wurden jeweils nur Personen deutscher, polnischer bzw. tschechischer Staatsangehörigkeit befragt.
Befragungszeitraum war in allen Gebieten der Juni 2003, die Erhebungen fanden also etwa ein Jahr vor dem faktischen Vollzug der EU-(Ost)Erweiterung statt. Es kam ein vollstandardisierter Fragebogen zur Anwendung, der nach dem Ansatz der Translation-Back-Translation ins Polnische und Tschechische übersetzt wurde.
Verbundenheit mit Europa - Aspekte der Sozialintegration
Ein Mangel an Sozialintegration in der Europäischen Union wird von verschiedenen Autoren thematisiert. Münch betont, dass die emotionale Verbundenheit ein wichtiger Baustein für eine Integration auf der sozialen Ebene ist.
Insgesamt wird erwartet, dass die soziale Integration der jüngeren Altersgruppen stärker ist, da historische Konflikterfahrungen hier weitaus geringere Bedeutung haben sollten, und dass kompensativer Nationalismus eben kein Jugendphänomen, sondern ein Reaktionsmuster der Älteren ist.
Zuerst sei ein Blick auf die gefühlsmäßige Bindung an Europa geworfen: Diese wurde auf eine sehr direkte Weise mit der Frage nach der Verbundenheit mit Europa erfasst. Insgesamt finden sich in allen Altersgruppen und Regionen relativ starke Verbundenheitsgefühle: 75 bis 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und den Grenzregionen geben an, sich mit Europa eher oder sogar sehr verbunden zu fühlen. Diese Gefühle sind in der jüngsten Altersgruppe allerdings in allen Regionen etwas geringer ausgeprägt als bei älteren Befragten. Die Verbundenheitsgefühle erreichen aber dennoch auch bei den Jungen ein relativ hohes Niveau, so dass junge Menschen im Lichte dieser ersten Analysen weder als Avantgarde des integrierten Europas noch als Protagonisten eines kompensativen Nationalismus anzusehen wären (vgl. Abbildung 1 der PDF-Version).
Betrachtet man im Vergleich dazu die Verbundenheit mit dem eigenen Land, relativiert sich dieses Bild der Altersdifferenziertheit. Für die Bezugsgröße "eigenes Land" zeigt sich eine weitaus deutlichere Altersdifferenzierung, die dafür spricht, dass bei jüngeren Menschen insgesamt die Tendenz, sich mit staatlichen oder kollektiven Größen zu identifizieren, abnimmt bzw. geringer ausgeprägt ist. In Deutschland (Gesamt) liegt die Verbundenheit mit dem eigenen Land in den jüngeren Kohorten sogar noch niedriger als jene mit Europa. Auffällig ist zudem, dass in der deutschen Grenzregion im Unterschied zu Gesamtdeutschland die Identifikation mit Deutschland stärker ausgeprägt ist und die Verbundenheit mit Europa schwächer (vgl. Abbildung 2 der PDF-Version).
Dieser Befund alarmiert in gewisser Weise, da gerade die Grenzregionen als "Laboratorien" der Integration gesehen werden können.
Betrachtet man nationalistische Orientierungen unmittelbarer, indem man etwa nach der Zustimmung zu Statements wie dem folgenden fragt, "Die Werte unseres Nationalstaates werden zu wenig geschützt", so zeigt sich auch hier, dass nationalistische Einstellungen in den Grenzregionen, also in grenznahen Gegenden von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Bayern, stärker ausgeprägt sind als im restlichen Deutschland. Gleichzeitig gibt es nun klare Altersunterschiede: Ältere stimmen solchen Aussagen signifikant stärker zu als Jüngere. Diese Tendenz findet sich - auf deutlich höherem Niveau - auch in den polnischen und tschechischen Grenzregionen. Allerdings stehen nationalistische Gefühle nur in Deutschland in einem negativen Verhältnis zu einer Verbundenheit zu Europa (r = -0,16), wohingegen es in Polen und der Tschechischen Republik tendenziell positive, aber statistisch nicht signifikante Zusammenhänge gibt (vgl. Abbildung 3 der PDF-Version).
Da der Begriff Europäische Union in der Frageformulierung ("Wie verbunden fühlen Sie sich mit Europa?") gar nicht genannt wurde, muss das politische Projekt EU von den Befragten auch nicht unbedingt assoziiert werden. Insgesamt zeigt sich allerdings bei einer konkreten Erwähnung der EU-Osterweiterung wiederum eine sehr positive - regional etwas unterschiedliche - Haltung: Während in Deutschland knapp 70 Prozent der EU-Osterweiterung zustimmen (67,9 Prozent Grenzregion/69,9 Prozent Gesamt), sind es in Polen 76,8 Prozent und in der Tschechischen Republik 84,6 Prozent. Betrachtet man die Altersdifferenzierung, so zeigt sich in Deutschland und den beiden Beitrittsländern ein unterschiedlicher Trend. In Deutschland überwiegt eine positive Haltung bei den ältesten Befragten, gefolgt von den jüngsten, bei einer deutlich skeptischeren Haltung bei den 30- bis 64-Jährigen. In Polen und in der Tschechischen Republik sind es regelmäßig die jüngsten Befragten, die sich der EU-Osterweiterung gegenüber besonders aufgeschlossen zeigen, während mit zunehmendem Alter wachsende Skepsis zu konstatieren ist (vgl. Abbildung 4 der PDF-Version).
Dieser Trend betrifft im Übrigen nicht nur die EU-Osterweiterung, sondern auch die EU im Allgemeinen (vgl. Abbildung 5 der PDF-Version).
Die etwas größere Distanz der jüngeren Deutschen hatte sich bereits bei der Frage nach der Verbundenheit mit Europa gezeigt. Auch hier zeigten die Jungen sich etwas distanzierter als die Älteren. Dies könnte mit einer allgemein größeren Distanz zu kollektiven Identifikationsobjekten zusammenhängen.
Delhey sieht im Vertrauen gegenüber unseren Nachbarn eine wichtige Quelle für Bindekraft zwischen den Völkern.
Auch wenn mangelnde Sozialintegration von vielen Autoren als Haupthindernis für eine positive Entwicklung in Europa gesehen wird, lässt sich ein solcher Mangel zumindest auf der Ebene affektiver Gefühle und Haltungen zu Europa, der EU oder deren Osterweiterung in den von uns betrachteten Regionen nicht ohne weiteres feststellen. Es gibt ein relativ hohes Maß an Zustimmung quer durch alle Altersgruppen zu Europa und zum politischen Projekt EU. Natürlich beziehen sich die Äußerungen nur auf eine sehr allgemeine und grundsätzliche Haltung, die anhand von Detailfragen und bei Belastungen auf ihre Nachhaltigkeit geprüft werden müssen. Ein negatives Klima für Europa lässt sich jedenfalls im Jahre 2003 in Erwartung der großen Erweiterungsrunde nicht ausmachen. Die These, dass die jüngeren Altersgruppen positivere Haltungen zeigen, kann jedoch für Deutschland ebenfalls nicht belegt werden. Es zeigen sich insgesamt relativ geringe Altersdifferenzen, wobei positivere Einstellungen - wenn es denn einmal Altersunterschiede gibt - eher bei Älteren zu finden sind. In den Beitrittsländern zeigt sich - wie zu erwarten - insgesamt eine etwas "euphorischere" Haltung, die dort auch eher von den Jüngeren getragen wird.
Ursachen für eine Identifikation mit Europa
Im folgenden Abschnitt wird ein Blick auf mögliche Gründe für eine positive Identifikation mit Europa geworfen. Sylke Nissen betont, dass die Identifikation mit Europa nicht allein emotional zu mobilisieren ist, sondern dass nutzenorientierte Aspekte hier eine Rolle spielen.
Nimmt man Sorgen und Hoffnungen im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung als Indikatoren für erwartete Kosten bzw. erwarteten Nutzen, so zeigt sich bezüglich der Hoffnungen, dass sie in Deutschland kaum altersspezifisch differenziert sind. In den polnischen und tschechischen Grenzregionen hingegen zeigen sich die Jüngeren deutlich hoffnungsfroher als die Älteren (vgl. Abbildung 7 der PDF-Version).
Betrachtet man die Sorgen im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung, so zeigt sich mit Ausnahme der polnischen Grenzregion ein klarer Alterseffekt - die Älteren machen sich eher Sorgen als die Jüngeren (vgl. Abbildung 8 der PDF-Version).
Betrachtet man weiter den Zusammenhang zwischen emotionaler Verbundenheit und den Kosten- und Nutzenerwartungen, den Nissen postuliert,
Um abschließend ein umfassenderes Bild der Ursachen für die Entwicklung von Gefühlen der Verbundenheit mit Europa im Kontext der EU-Osterweiterung zu bekommen, stellen wir noch eine komplexere statistische Analyse vor. Mit Hilfe der so genannten multiplen Regression lässt sich ein simultaner Blick auf alle in Betracht gezogenen Einflussfaktoren werfen und eine Bewertung dieser in ihrem je eigenen Anteil an Verbundenheitsgefühlen mit Europa im Kontext der EU-Osterweiterung vornehmen. Auch diese Auswertung wurde wieder nach Altersgruppen getrennt durchgeführt, diesmal jedoch nur für die (gesamt-)deutsche Repräsentativstichprobe.
Was verrät uns Abbildung 9 der PDF-Version über die Gründe für eine hohe Akzeptanz des Projekts EU-Erweiterung? Sie zeigt zunächst einmal deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Das subjektive Gefühl geringer Kosten (bei den jüngeren Befragtengruppen) und großen Nutzens (bei den älteren Befragten) ist der wichtigste Grund für eine Befürwortung der Erweiterung der EU. Vorgefertigte Haltungen leisten jedoch einen ebenfalls recht beträchtlichen Beitrag zur Erklärung, warum jemand das Projekt EU-Erweiterung befürwortet bzw. warum nicht. Und gerade hier gibt es große Altersdifferenzen. Bei jungen Menschen ist die nationalistische Grundeinstellung der wichtigste Hemmschuh für eine Unterstützung des Projekts EU-Erweiterung. Bei Älteren hingegen spielt es keine Rolle, ob jemand nationalistische Einstellungen favorisiert; wichtig ist vielmehr die allgemeine Sympathie für Polen und Tschechen.
Fazit
Kommen wir zur eingangs aufgeworfenen Frage zurück, ob Jugendliche im Kontext der EU-Osterweiterung eher als Motor der Integration Europas oder als Protagonisten eines kompensativen Nationalismus fungieren, so fällt eine eindeutige Antwort schwer. Besonders große Unterschiede in den Einstellungen zum Projekt Europa zwischen Menschen verschiedenen Alters sind in Deutschland nicht auszumachen; es gibt solche Unterschiede eher in den Beitrittsländern. Junge Menschen sind dabei in keiner der betrachteten Regionen ausgeprägt nationalistischer als andere Altersgruppen; typischerweise sind es nach wie vor ältere Bevölkerungsgruppen, die nationalistische Einstellungen favorisieren.
Dennoch gibt es eher Grund zur Sorge denn zur Beruhigung: Nur bei jungen Menschen gibt es einen gegen Europa und dessen Erweiterung gerichteten Abwehrnationalismus. Wer jung und nationalistisch eingestellt ist, lehnt das Projekt Europa in der Regel ab; noch verstärkt ist dies in den Grenzregionen zu Polen und zur Tschechischen Republik der Fall. Will man die Akzeptanz des Projekts Europa erhöhen, so scheint es eine in allen Altersgruppen viel versprechende Strategie zu sein, den je individuellen Nutzen und die eher geringen Kosten des Projekts EU-Erweiterung verstärkt herauszustreichen. Gezielt bei jungen Menschen - auch und vor allem in Grenzregionen - gilt es hingegen zusätzlich aktiv den Gefahren nationalistischer Orientierungen entgegenzuwirken.