Einleitung
Die europäische Hochschulpolitik ist im Umbruch. Der so genannte Bologna-Prozess schreitet voran, im Jahre 2010 werden fast alle Studiengänge modularisiert sein, es wird dann keine Magister- und Diplom-, sondern nur noch Bachelor- und Masterabschlüsse geben (bei den Staatsexamina scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein). Das Gros der Studierenden wird dann nicht nur die Fachhochschulen, sondern auch die Universitäten bereits nach drei Jahren verlassen. Die Vorgaben der Universitätsverwaltungen zur Standardisierung und mehrfachen Wiederholbarkeit der Modulprüfungen stellen sicher, dass kaum ein Student bis zum Bachelor-Abschluss auf der Strecke bleiben wird. Professoren, die einen Großteil ihrer Studierenden für nicht "studierfähig" halten, werden diese Überzeugung im eigenen Interesse nicht mehr in die Prüfungspraxis einfließen lassen. Die hohen Abbrecherquoten und langen Studienzeiten besonders der geisteswissenschaftlichen Studiengänge werden der Vergangenheit angehören.
Eines der Ziele des Bologna-Prozesses, nämlich einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen, wird erreicht sein; möglicherweise sogar auch ein unausgesprochenes Nebenziel: die Kosten pro Studierenden mit der durchschnittlichen Verweildauer an den Hochschulen zu senken.
Wer die Wissenschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte verfolgt hat, dem fällt es schwer, dabei nicht zynisch zu werden. 1977 hatte die Kultusministerkonferenz über alle Parteigrenzen hinweg beschlossen, den damals abzusehenden Studentenberg zu "untertunneln" und eine "Überlast" für einige Jahre hinzunehmen. Aus der vorübergehenden Überlastung einzelner Fächer wurde ein Dauerphänomen fast aller Fächer. Der Studentenberg entpuppte sich als eine erste Anhöhe, von der es weiter bergauf ging - von Untertunnelung konnte keine Rede sein. Vor wenigen Monaten wurde die Prognose der Kultusministerkonferenz bekannt, nach der in den kommenden Jahren mit einem weiteren, politisch gewollten Anstieg von jetzt rund 2 Millionen Studierenden auf dann 2,7 Millionen zu rechnen sei. Ein Stellenausbau ist nicht vorgesehen.
Schon in den späten siebziger Jahren gab es die Forderung, die Fachhochschulen massiv auszubauen, da die höheren Studierendenquoten auch den Bedarf nach einer stärkeren Vorstrukturierung, ja, Verschulung der Studiengänge mit sich brachten. Dies ist nicht erfolgt. Auch heute noch studiert die große Mehrzahl nicht an Fachhochschulen, sondern an Universitäten. Aber jetzt wird ein großer, wenn nicht der größte Teil ihrer Lehrkapazitäten zur Fachhochschule umgewidmet. Vielleicht ist das ja in der Tat, nach Jahrzehnten der Passivität, die einzige verbliebene Option; die beste ist es nicht.
Der Vergleich mit US-amerikanischen Spitzenuniversitäten ist beliebt. Die wichtigste Vergleichsgröße jedoch weniger: Es ist das Betreuungsverhältnis, also die Zahl der Studierenden pro Professor. An den Ivy-League-Universitäten bewegt sich das Betreuungsverhältnis um den Faktor 10, also 10 Studierende pro Professor. Je nach Fach schwankt diese Zahl in Deutschland, wenn man die ganz kleinen, gelegentlich als Orchideenfächer bezeichneten Studiengänge ausnimmt, zwischen 30 und 200.
Hinzu kommt, dass die führenden amerikanischen Forscher nur ein bis zwei Lehrveranstaltungen abhalten, was eine intensive Diskussion mit den Teilnehmern und eine forschungsnahe Gestaltung der Lehre erlaubt.
Dies sei an einem Beispiel illustriert. Greifen wir ein deutsches Universitätsinstitut mit sieben Professuren und 1400 Bachelor-Hauptfachstudenten heraus; das Institut hat also eine Betreuungsrelation von 200 Studierenden pro Professor. Der Lehrbetrieb ist nur durch die Beteiligung einer Vielzahl von bezahlten und unbezahlten Lehrbeauftragten möglich, die aber in der Regel kein Prüfungsrecht haben; davon ausgenommen sind die Privatdozenten und außerplanmäßige Professoren. Bei einer angestrebten niedrigen Abbrecherquote und Regelstudienzeiten von drei (Bachelor) bzw. weiteren zwei Jahren (Master) bedeutet dies, dass in jedem Jahr von sieben Professoren 400 BA-Abschlüsse zu betreuen sind und zusätzlich bei 600 MA-Studierenden 300 Masterarbeiten. Ein Professor oder eine Professorin betreut also pro Jahr 100 Abschlussarbeiten - Promotionen und Habilitationen nicht eingerechnet. Die Anzahl abzufassender Gutachten für Stipendienanträge für deutsche Stiftungen und ausländische Universitäten ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen; die Erwartung der Studierenden, jederzeit Auskunft und Rat einholen zu können, ebenso. Die Praxis der E-Mail-Kommunikation erspart einerseits Wartezeiten in den Sprechstunden, führt jedoch andererseits zu einer oft nicht mehr überschaubaren Studenten-Korrespondenz.
Wenn man amerikanischen Kollegen solche Zustände schildert, glauben sie, sofort Bescheid zu wissen: Das kennt man doch von miserablen City-Colleges, an denen dann allerdings nur - mittelmäßige bis dürftige - Lehre und keine Forschung stattfindet. Wer unter solchen Bedingungen versucht, neben Lehre und Administration auch Forschung ernst zu nehmen, gerät zwangsläufig in einen schwer auflösbaren Konflikt: Die Verantwortung gegenüber den eigenen Studenten, das Interesse an ihrer Entwicklung, ein hohes Engagement in der Lehre lassen die zeitlichen Spielräume für die eigene Forschung auch bei 60- bis 80-Stunden-Wochen schrumpfen, in Extremfällen auf die wenigen ruhigeren Wochen in der Sommerpause. Die Universität, überführt in eine "Hohe Schule", verliert so ihren besonderen Charakter als Ort der Integration unterschiedlicher disziplinärer Sichtweisen, der Verbindung von Forschung und Lehre und der Begegnung wissenschaftlich Interessierter verschiedenen Alters und Kenntnisstandes, der Bildung von Persönlichkeit, Urteilskraft und Entscheidungsstärke.
Die amerikanischen Spitzenuniversitäten verfügen über hohe jährliche Etats, das gilt für private ebenso wie für staatliche Einrichtungen (etwa die führenden des staatlichen kalifornischen Universitätssytems). Hier stehen bis zu 100.000 US-Dollar pro Student und Jahr bzw. zwei Milliarden US-Dollar bei 20.000 Studierenden zur Verfügung. Die deutschen Spitzenuniversitäten müssen sich mit einem kleinen Bruchteil dieser Summe (etwa ein Zehntel) zufrieden geben. Dafür ist ihre Leistung durchaus beachtlich. Viele Absolventen deutscher, europäischer und japanischer Universitäten füllen in den USA die Lücken des wissenschaftlichen Nachwuchses, die die relativ schmale Spitze des amerikanischen Universitätssystems nicht bereitstellen kann. Dies gilt insbesondere für die Natur- und Technikwissenschaften, aber auch für einige Geisteswissenschaften.
In der Tat ist das Leistungsgefälle erstaunlich gering. Amerikanische Kollegen, die an deutschen Universitäten lehren, stöhnen unter der ungewohnten teaching load, sind aber von den Sprachkenntnissen, dem Bildungshintergrund und der Selbständigkeit der deutschen Studierenden meist beeindruckt. Umgekehrt irritierte mich vor Jahren, dass selbst Studierende auf dem Weg zu einer Promotion in Philosophie in den USA in der Regel keinen direkten Zugang zu den klassischen Texten in Griechisch und Latein haben, geschweige denn Kant im Original lesen können, während italienische Philosophie-Studenten selbstverständlich Deutsch lernen, um Heidegger zu verstehen. Hier, in der Multilingualität, im Respekt vor anderen Sprachen und Kulturen, in der Vielfalt kultureller und wissenschaftlicher Traditionen, in gelebter, nicht nur proklamierter "diversity" liegt eine besondere Stärke des europäischen Wissenschaftsraums, die ausgebaut und nicht in falscher Angleichung an US-Standards nivelliert werden sollte.
Wenn man Effizienz mit dem Quotienten von Output zu Input definiert, dann ist das überkommene deutsche Hochschulsystem in hohem Maße effizient: Bei niedrigen Kosten produziert es eine hohe Zahl Magistrierter, Diplomierter und Promovierter, deren Qualität international anerkannt ist. Es gab in der Vergangenheit in der Regel kein Problem bei der Anerkennung eines deutschen Diploms in Physik oder eines Magisters in Geschichte an amerikanischen Top-Universitäten. Man kann nur hoffen, dass dies nach der Umstellung auf die modularisierten Studiengänge so bleibt.
Es gibt jedoch deutliche Indizien, etwa in Gestalt entsprechender öffentlicher Äußerungen von Uni-Präsidenten, dass zumindest der dreijährige deutsche Bachelor nach Umstellung der Schulzeit von insgesamt 13 auf 12 Jahre von US-Universitäten nicht als gleichwertig anerkannt werden wird. Die Vorgaben des Bologna-Prozesses erlauben auch einen vierjährigen Bachelor. Diese Option wird bisher merkwürdigerweise in Deutschland nicht genutzt. Für einzelne geisteswissenschaftliche Fächer, die ausreichende Sprachkenntnisse in Hebräisch (Theologie) oder Italienisch (Kunstgeschichte) voraussetzen, ist ein dreijähriges Studium zu kurz. Bis diese Sprachkenntnisse erworben sind, ist die Hälfte des Studiums bereits vorbei.
Andere, etwa technikwissenschaftliche Studiengänge mit dem international hoch angesehenen Abschluss des deutschen Diplomingenieurs, sehen sich außerstande, ihre Absolventen schon nach sechs Semestern auf einen sensiblen Arbeitsmarkt mit hohen Qualitätsanforderungen und Sicherheitsstandards zu entlassen. In diesen und anderen Fällen wäre ein vierjähriger BA die angemessene und Bologna-kompatible Antwort. Die ausdrücklich vorgesehene Differenzierung der BA-Studiengänge je nach Charakter der Einrichtung spräche ebenfalls für diese Option, abgesehen von der je nach Fach als unterschiedlich bedeutsam einzuschätzenden Frage der Anerkennung jenseits des Atlantiks.
Mir scheint - auch nach einer genaueren Betrachtung des Vorgehens in anderen EU-Staaten -, dass in Deutschland der Bologna-Prozess generell zu genormt und zu administrativ umgesetzt wird. Andere Normierungen gehen vor allem zu Lasten der Geisteswissenschaften, die bislang eine international anerkannte Stärke des deutschen Universitätssystems waren. Die Geisteswissenschaften haben hierzulande eine eminente Erfolgsgeschichte in den vergangenen Dekaden aufzuweisen. Sie waren bis zu ihrer Expansion seit den sechziger Jahren entgegen dem Humboldt'schen Universitätsideal zum großen Teil Ausbildungsfächer für Gymnasiallehrer.
Folgerichtig wurde daher ein "akademisches Proletariat" erwartet, weil es für all die Philologen, Historiker und Philosophen, Kultur- und Sozialwissenschaftler außerhalb der Schulen keine eigenen Stellen gab, weder in den öffentlichen Verwaltungen noch in der Privatwirtschaft. Dann geschah das gänzlich Unerwartete: Die Forschungsleistung der Geisteswissenschaften differenzierte sich aus, bildete neue interdisziplinäre Verbünde und selbständige Fächer aus, und ihre Studierenden kamen in den Genuss einer anspruchsvollen, wenig verschulten, aber forschungsnahen Lehre, die zugegeben viele Studierende - ausweislich hoher Abbrecherquoten - überforderte. Hier setzt der Bologna-Prozess zu Recht an. Auch die für ein wissenschaftliches Studium im engeren Sinne nicht geeigneten Studierenden sollen die Universitäten in Zukunft mit einem berufsqualifizierenden Abschluss verlassen können und nicht als Studienabbrecher ihren Berufsweg beginnen müssen.
Zugleich ist der besondere Charakter der Geisteswissenschaften aber durch eine zu weit gehende Verschulung und eine Orientierung an Praxisrelevanz bedroht. Es war in den vergangenen Dekaden selten das spezielle Fachwissen, das einem Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer den Weg in den Beruf geebnet hat. Es waren vielmehr Fähigkeiten wie Urteilsfähigkeit, sprachliche Kompetenz, kulturelle Empathie und Geschick im schriftlichen Ausdruck, die in Kombination mit einer Veränderung des Arbeitsmarktes besonders im Bereich Medien, Verlage, Werbung und Kommunikation, die Nachfrage nach Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer bestimmten. Zudem setzte sich langsam auch in Deutschland die angloamerikanische Praxis durch, wonach die jeweiligen spezifischen Fähigkeiten erst im Beruf - training on the job - erworben werden, während die Bewerber nach allgemeinen Merkmalen der Persönlichkeit, der Bildung und des Sozialverhaltens ausgesucht werden. Classics zu studieren, um Banker zu werden, war in Großbritannien schon vor Jahrzehnten nichts Ungewöhnliches. So weit sind wir in Deutschland noch nicht; ja, das Fortwirken zünftischer Traditionen macht sogar eine besondere Stärke der deutschen Wirtschaft aus.
Bisher studierte man in den Geisteswissenschaften drei Fächer: ein Hauptfach und zwei Nebenfächer. Das studium generale früherer Zeiten gab es bestenfalls noch in unbefriedigenden Schrumpfformen. Dennoch war eine gewisse Breite des geisteswissenschaftlichen Studiums garantiert, besonders wenn es mit Spracherwerb und Auslandsaufenthalten verbunden war. Das US-amerikanische BA-Studium ist in den ersten beiden Jahren generell breit und allgemeinbildend angelegt und schließt viele Wahlmöglichkeiten ein. Dies hängt mit seiner historischen Genese zusammen: Es sollte ursprünglich das Gefälle zwischen einem deutschen oder französischen Gymnasialabschluss und einem amerikanischen Highschool-Abschluss des 19. Jahrhunderts ausgleichen und die Absolventen damit im engeren Sinne erst studierfähig machen. Die Umstellung auf die modularisierten Studiengänge in Deutschland erfolgt hingegen eher nach dem Muster eines weitgehend verschulten Ausbildungsgangs in einer Disziplin mit wenig Wahlmöglichkeiten und einem engen thematischen Fokus. Dies ist für viele Fächer sinnvoll, in den meisten Geisteswissenschaften bedroht es jedoch die spezifische Wissenschaftskultur und das Qualifikationsprofil ihrer Absolventen.
Als mich der Deutsche Bundestag als Sachverständiger zu einer Anhörung zur Situation der Geisteswissenschaften in Deutschland einlud,
Unterdessen bin ich aufgrund aktueller Erfahrungen skeptischer geworden. Ein anderes Szenario erscheint mir nun nicht mehr unplausibel: Im Zuge der Reformen wird ein Forschungs- und Wissenschaftsbegriff paradigmatisch, der den Geisteswissenschaften weitgehend fremd ist. Forschung wird in Gestalt großer, 50 oder 200 Forscher einschließender Cluster gefördert, die Forschungsleistung wird nach Drittmitteleinwerbung und veröffentlichten Papers in amerikanischen Review Journals bewertet. Die größere Buchpublikation - für die geisteswissenschaftliche Forschung nach wie vor zentral (daher auch der Widerstand gegen die Abschaffung der Habilitation gerade von Seiten dieser Fächer) und für ihre breitere Wahrnehmung (und damit für ihre gesellschaftliche und politische Relevanz) unverzichtbar - wird entwertet.
Publikationen in der Muttersprache oder in einer anderen Sprache als Englisch zählen nicht mehr. Die stilistische Sorgfalt - charakteristisch für geisteswissenschaftliche Publikationen - schwindet, die "Schrumpfform" des Amerikanischen, wie sie in internationalen englischsprachigen Zeitschriften dominiert, nivelliert die geisteswissenschaftliche Terminologie, klassische Quellen und fremdsprachige Texte werden lediglich in ihren englischen Übersetzungen rezipiert etc.
Der Zustand der amerikanischen humanities ist jedenfalls besorgniserregend - marginalisiert und zugleich hochgradig ideologisiert mit umstrittenen Standards wissenschaftlicher Seriosität. Die philosophy departments werden übrigens nicht den humanities zugeordnet, was auch mit den Argumentationsstandards analytisch geprägter Philosophie zusammenhängt, die mit denjenigen der humanities schwer vereinbar sind.
So muss es nicht kommen, aber die Wahrscheinlichkeit dafür scheint mir gestiegen zu sein. Die ersten Erfahrungen mit modularisierten Studiengängen, mit dem Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder, in dem die Geisteswissenschaften keine nennenswerte Rolle spielen, sowie die Diskussionen um die Kriterien der Forschungsevaluation lassen für die Geisteswissenschaften in Deutschland nichts Gutes ahnen. Noch ist es nicht zu spät, dem Prozess entgegenzusteuern. Es steht viel auf dem Spiel, denn die Geisteswissenschaften sind in Deutschland eng mit einem Netz von hochkarätigen Kulturinstitutionen der Städte, der Länder und des Bundes verbunden. Kaum ein anderes Land der Welt weist eine solche Dichte an Museen, Theatern und Philharmonien auf, die kulturelle Traditionen wahren und fortentwickeln. In den deutschen Feuilletons werden die bedeutenderen geisteswissenschaftlichen Publikationen und Kontroversen wahrgenommen und kommentiert. Die Geisteswissenschaften haben in Deutschland eine breite interessierte Öffentlichkeit und eine kulturelle Prägekraft, um die uns nicht nur amerikanische Kollegen beneiden. Wir sollten - bei allem Reformbedarf der deutschen Hochschulen - unsere wissenschaftlichen und kulturellen Stärken nicht beschädigen. Es wäre in Deutschland nicht die erste Reform, die Ergebnisse zeitigt, die niemand gewollt hat.