Einleitung
Seit den neunziger Jahren gibt es in China einen breiten Diskurs über den Begriff Zivilgesellschaft und seine Anwendung. Dabei ist das konzeptionelle Verständnis durchaus ein anderes als im Westen. Von der Begrifflichkeit her (gongmin shehui = Gesellschaft des öffentlichen Volkes) steht hier die Verantwortung von Bürgerinnen und Bürgern im Hinblick auf öffentliche Güter und gutes Verhalten im Mittelpunkt - weniger die Frage nach politischer Macht. Entsprechend geht es um ein nicht-konfrontatives Modell von Zivilgesellschaft, das den Staat nicht herausfordern soll.
Ein solch unterschiedliches Verständnis hängt nicht nur mit dem politischen System, sondern auch damit zusammen, dass China sich noch immer im Prozess des state-building befindet. Die Institutionen des Staates, durch die das Zusammenleben der Menschen geregelt und dem Einzelnen wie den Gruppen Erwartungssicherheit gegeben wird, befinden sich noch im Prozess der Entstehung - etwa im Hinblick auf Rationalisierung, Verrechtlichung und Schaffung eines Rechtssystems. Die neuen Regeln gesellschaftlichen Verhaltens in einem sich rasch wandelnden Gemeinwesen müssen erlernt und verinnerlicht werden. Eine kontrollierende Öffentlichkeit und ein Prozess der "Zivilisierung" im Umgang miteinander sowie im Umgang des Staates mit seinen Bürgern müssen sich erst noch herausbilden. In Staaten wie China, in denen diese Institutionenbildung noch nicht weit fortgeschritten ist, übt der Staat zunächst eine übermächtige Kontrolle aus und beschneidet die Handlungen seiner Bürger. Von einer vom Staat autonomen Zivilgesellschaft kann hier noch nicht gesprochen werden.
Gleichwohl entsteht Zivilgesellschaft nicht erst mit vollendeter Demokratisierung. Von daher interessiert uns, ob sich in China Sphären herausbilden, die zwar nicht völlig autonom, aber auch nicht deckungsgleich mit dem Staat sind, und aus denen sich Keimzellen autonomer gesellschaftlicher Sphären entwickeln könnten. In diesem Sinne meinen wir mit "Zivilgesellschaft" vornehmlich die Herausbildung einer öffentlichen Sphäre jenseits des party-state. Der polnische Soziologe Piotr Sztompka hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Zivilgesellschaft nicht die Trennung von Staat und Gesellschaft in den Vordergrund gerückt, sondern die Frage, welche Voraussetzungen für eine Zivilgesellschaft in postsozialistischen Gesellschaften gegeben sein müssen. Um "zivilgesellschaftliche Kompetenz" als Voraussetzung für Civil Society zu erlangen, bedürfe es einer Unternehmenskultur als Voraussetzung für Teilnahme an der Marktwirtschaft; einer Bürgerkultur als Vorbedingung für Partizipation an einer demokratischen Ordnung; einer Diskurskultur als Voraussetzung für eine Teilnahme an freier geistiger Auseinandersetzung und einer Alltagskultur als Vorbedingung für die tagtägliche Interaktion in einer modernen Gesellschaft.
In einer Gesellschaft wie China lässt sich dies auf folgende vier Bereiche beziehen: erstens auf die Herausbildung eines privaten Wirtschaftssektors in Abgrenzung zum einstmals dominanten Staatssektor und damit verbunden die Herausbildung einer Unternehmerschaft; zweitens die Entstehung von Bürgern, die am öffentlichen Leben partizipieren (individuell und kollektiv, etwa in Vereinen und NGOs); drittens die Herausbildung einer geistigen Auseinandersetzung über gesellschaftliche Fragen und Probleme (auch über das Internet) und viertens die Entwicklung eines zivilen Umgangs miteinander, auch in kontroversen Fragen, das heißt die Entstehung einer Streitkultur. Im Folgenden befassen wir uns mit der Herausbildung der ersten drei Bereiche. Im Hinblick auf den vierten hat es zwar Fortschritte gegeben (größere Akzeptanz anderer Meinungen und Lebensformen), eine "Streitkultur" hat sich aber noch nicht entwickeln können.
Voraussetzungen für Civil Society
Herausbildung eines privaten Wirtschaftssektors und einer Unternehmerschaft: Mit den Wirtschaftsreformen in den neunziger Jahren und der damit verbundenen Rückkehr zu privaten Bewirtschaftungsformen im ländlichen Raum war der Startschuss zur Zulassung unterschiedlicher Eigentumsformen sowie lohnabhängiger Beschäftigung gegeben. Der Privatsektor erwies sich schon bald als Motor wirtschaftlicher Entwicklung; zugleich verloren die planwirtschaftlich geführten Staatsbetriebe auf dem Markt ihre Konkurrenzfähigkeit. Der Staat verkaufte bzw. vergab daher in den neunziger Jahren einen Großteil der kleinen und mittelgroßen Staatsbetriebe an Privatpersonen. Entscheidender war jedoch der Aufruf, einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachzugehen. Ökonomische Selbständigkeit wurde zunehmend gefördert und rechtlich abgesichert. Ausgehend vom ländlichen Raum machten sich Millionen Menschen zunächst mit kleinen Handwerks- und Handelsbetrieben selbständig. Sie entwickelten sich rasch zu größeren Unternehmensformen. Ca. 90 Prozent aller Unternehmen sind heute Privatbetriebe, auch wenn noch mehr als 40 Prozent der Beschäftigten in (großen) staatlichen Unternehmen tätig sind, mit abnehmender Tendenz.
Diese "Privatisierung von unten" führte zu einer Ausweitung der Einkommensunterschiede und zur Herausbildung neuer sozialer Schichten. Über die Gründung von Unternehmervereinigungen und Branchenverbänden stärkten die Unternehmer ihre Verhandlungskraft mit dem Staat. Durch ihr Engagement in Parlamenten aller Ebenen, Beziehungen zu Funktionären, Medienkampagnen und auch durch Korruption nahm ihr gesellschaftlicher Einfluss zu. 2002 beschloss der XVI. Parteitag der KPCh, dass Unternehmer einen wichtigen Bestandteil der sozialistischen Marktwirtschaft bildeten. Sie konnten von nun an in die Kommunistische Partei eintreten, ihr Eigentum wurde dem Staatseigentum rechtlich gleichgestellt.
Entstehung von Bürgern und Bürgerkultur: Voraussetzung für eine Bürgergesellschaft ist die Existenz von "Bürgern". Vier Kriterien kennzeichnen m.E. den Bürgerbegriff: erstens die Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten der Bürger; zweitens ein wachsender Lebensstandard für die breite Bevölkerung; drittens freiwillige oder ehrenamtliche Tätigkeiten im Interesse der Gesellschaft und viertens bürgerliche Freiheitsrechte. Letztere existieren bislang nur in eingeschränktem Maße. Aber in den letzten Jahren wurden die Partizipationsmöglichkeiten und -rechte auf den unteren Ebenen (Dörfer, Wohnviertel) ausgeweitet, unter anderem durch Einführung von Wahlen auf der Ebene der Dörfer und städtischen Nachbarschaftsviertel per Gesetz. Auch wenn das noch nicht überall funktionieren mag, meine eigenen Untersuchungen in China belegen, dass die Menschen Wahlen zunehmend als ihr "Recht" begreifen und rationale Wähler entstehen, die den Zusammenhang von Wahlen und Verantwortlichkeit der Gewählten erkennen ("Wer sich nicht für uns einsetzt, wird nicht wiedergewählt").
Da der Staat in einer sich differenzierenden Gesellschaft nicht mehr alle Aufgaben selbst übernehmen kann, versucht er, die Menschen für Partizipation an sozialen Aufgaben zu mobilisieren. "Freiwillige" sollen sich in den städtischen Wohnvierteln um sozial Schwache, Alte, Behinderte und Randgruppen kümmern, für eine saubere Umwelt sorgen, ein Kulturleben entwickeln usw. Allerdings sind das Interesse an Partizipation und die Zahl solcher "Freiwilligen" gegenwärtig noch gering. Die Bessergestellten sind beruflich stark beansprucht und zeigen bislang wenig Interesse, sich sozial zu engagieren. Die Armen wiederum sind primär mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Von daher sind es in erster Linie Parteimitglieder (hauptsächlich solche im Ruhestand), Rentner und Sozialhilfeempfänger (Letztere sind verpflichtet, regelmäßig an öffentlichen Aufgaben in ihrem Wohnumfeld teilzunehmen), die sich für soziale Aufgaben mobilisieren lassen.
Mit steigendem Lebensstandard großer Teile vor allem der Stadtbevölkerung sind Protoformen eines Bürgerlebens (Tätigkeit in Vereinen und Interessensgruppen wie Berufs- und Fachverbänden oder Hobbyvereinen) entstanden - eine wichtige Voraussetzung für das, was als "Bürgergesellschaft" bezeichnet wird. Maos "Massen" entwickeln sich allmählich zu Bürgern, zumindest im urbanen Raum.
Vereinigungen und NGOs:
Anders als in Deutschland sind solche Organisationen nicht einfach autonom. Laut Gesetz bedarf es für die Anmeldung in der Regel einer "Bürgschaftsorganisation" von Partei oder Staat, welche die Anmeldung vornimmt und auch eine gewisse Kontrolle ausüben soll (so muss beispielsweise ein Briefmarkenverband über die Post angemeldet werden). Dies bedeutet nicht, dass diese Organisationen gleichgeschaltet wären und nur unter Partei- oder Staatskontrolle arbeiten könnten. Bei dem Großteil der Vereine handelt es sich um Organisationen, die sportlichen, beruflichen, kulturellen, sozialen, wissenschaftlich-technischen, gesundheitlichen oder anderen Interessen nachgehen. Daneben ist seit den neunziger Jahren eine große Vielfalt an sozialen Organisationen und Stiftungen entstanden, die sich für den Umweltschutz, bedrohte Tierarten, soziale Randgruppen, Aidskranke, Drogenabhängige, ethnische Minderheiten, die Erhaltung von Kulturgütern und Landschaften oder den Verbraucherschutz engagieren, aber auch für die Verbreitung von grassroots-Wahlen, Partizipation in Nachbarschaftsvierteln oder die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern. Erfolgreich agierten in den letzten Jahren unter anderem Initiativen gegen Wasserkraftwerke in der Provinz Yunnan, eine Initiative gegen die Verlegung des Pekinger Zoos oder eine Bewegung "Klimaanlage 26 Grad" (zur Eindämmung der Energieverschwendung durch Klimaanlagen), um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Solange nicht explizit politische oder politisch brisante Ziele verfolgt werden, unterstützt der Staat (in der Regel der Zentralstaat) solche Vereinsgründungen. Sie sollen zur Lösung konkreter sozialer Probleme und damit zur Verbesserung von Governance beitragen.
Da es bislang keine bäuerliche Interessenvereinigung gibt, bilden sich zunehmend "Meinungsführer" und "Bauernanwälte" heraus: Personen, die von den Bauern einzelner oder mehrerer Dörfer beauftragt werden, Probleme bei höheren Stellen vorzutragen, Petitionen zu formulieren und einzureichen (ein gesetzlich verbrieftes Recht). Teilweise gründen Bauern auch "Wirtschaftsvereine", die dann für soziale Rechte der Landbevölkerung eintreten sollen. Solange der Staat eine offizielle Interessenvereinigung nicht zulässt, wird sich der Protest allerdings weiter im Untergrund sammeln.
Religiöse Vereinigungen besitzen gegenwärtig keine Vorreiterrolle für zivilgesellschaftliche Prozesse. So sind die anerkannten Religionsgemeinschaften strikter staatlicher Kontrolle unterworfen. Allerdings haben sich vor allem im ländlichen Raum wieder traditionelle Tempelvereinigungen, Sekten und Untergrundkirchen etabliert. Diese können zwar als gesellschaftliche "Widerstandsnester" gegen den lokalen Staat fungieren, sie werden aber vom Staat nicht toleriert und vermögen daher keinen wirklichen Einfluss auf zivilgesellschaftliche Prozesse zu nehmen.
Auch wenn Vereine und NGOs nicht im gleichen Maße autonom sind wie in Deutschland - in einer Gesellschaft, in der die unabhängige Existenz von parallelen Organisationen (neben der KPCh) nicht erlaubt ist, sind Verflechtungen von Vereinen mit staatlichen oder Parteiinstanzen ausgesprochen hilfreich, weil sich Probleme dadurch informell und auf dem Verhandlungswege lösen lassen. Die chinesische "Verhandlungsgesellschaft", in der Interessen sozialer Gruppen weniger formal durchgesetzt als indirekt ausgehandelt werden, bedarf im gegenwärtigen Zustand sogar einer solchen Verflechtung, damit Interessen einfacher realisiert werden können. Zugleich sind solche halbautonomen Organisationen als Vorläufer autonomer wirtschaftlicher und politischer Vereinigungen zu begreifen. Sie besitzen Doppelcharakter, weil sie sowohl Elemente staatlicher Dominanz als auch von Autonomie enthalten, das heißt staatlichem Korporatismus unterliegen, wo-bei der Staat diesen Vereinigungen eine gewisse funktionale Autonomie lässt, solange sie ihn nicht politisch herausfordern.
Diskurskultur
Die wachsende Autonomie der Gesellschaft im Verlauf des Reformprozesses begünstigte eine stärkere Autonomie der Intellektuellen. Zunehmend machten und machen Intellektuelle sich Gedanken über die Zukunft des politischen Systems. Es gibt in der Auseinandersetzung etwa um politische Reformen einen Diskussionsspielraum auch für Intellektuelle, die offen Kritik üben. Solange sie die symbolische Grenze politischer Äußerung (Akzeptanz des politischen Systems) einhalten, werden ihre Meinungen weitgehend toleriert. Die Form öffentlicher Diskurse lässt sich am Beispiel der intellektuellen Debatte über Korruption verdeutlichen. Korruption wird in der akademischen Debatte als politisches und zugleich systemisches Phänomen begriffen. In dem Maße, wie die Korruptionsdebatte den innerchinesischen Diskurs über politischen Wandel und Demokratisierung stärkt, ließe sich u.U. auch der Sichtweise chinesischer Intellektueller zustimmen, wonach die innerchinesische Auseinandersetzung über Korruption und deren bewusste Erkennung und Bekämpfung letztlich den Umbau zu einer rationalen, auf einem Rechtssystem fußenden Gesellschaft begünstigt. Allerdings scheinen die Konsequenzen der gegenwärtigen Debatte darüber weit hinauszureichen. Nicht das Rechtssystem, sondern zunehmend die politischen Strukturen (und damit letztlich die Fundamente des politischen Systems per se) stehen im Mittelpunkt der Kritik, auch wenn dies nicht immer so offen formuliert wird. Die offiziell gezogene Akzeptanzgrenze, der "Vertrag" zwischen Parteiführung und Intellektuellen, sieht vor, die Herrschaft der KP und das politische System nicht direkt in Frage zu stellen: political correctness im chinesischen Sinne zu wahren. Dies wird von den meisten Intellektuellen berücksichtigt. Und doch zielt die Argumentation darüber hinaus, etwa wenn der Regierungsberater Yu Keping schreibt, das politische System bilde die strukturelle Grundlage für politische Korruption. Ohne Kontrolle durch die Bürger, offene politische Informationskanäle und politischen Wettbewerb sei Korruption nicht einzudämmen.
Das Internet hat zweifellos zu einer neuen Form von Öffentlichkeit geführt, weil dort gesellschaftspolitisch relevante Fragen breit diskutiert werden. Sozialwissenschaftler argumentieren daher, das Internet fördere in China die Herausbildung einer Zivilgesellschaft. Es stimuliere öffentliche Debatten sowie die Artikulierung von Problemen und fungiere alsgesellschaftliches Überwachungsorgan.
Wie neuere Untersuchungen verdeutlichen, entwickelt sich das Internet jedoch nicht per se zu einem Instrument politischer Veränderung. Der Soziologe Yang Guobin hat auf neue Besonderheiten in China hingewiesen: Durch das Internet erweise sich Politik nicht mehr nur einfach als ein abstrakter Herrschaftsfaktor, sondern in Verbindung mit dem unterhaltenden Surfen im Netz auch als eine neue Form des (freiwilligen) politischen Alltagsdiskurses und der Freizeitbeschäftigung.
Ohne Zweifel ist die Zahl der Internetportale mit Nachrichten, aktuellen Informationen und der virtuellen Gemeinschaften in den letzten Jahren signifikant gestiegen. Vor allem gebildetere und jüngere Menschen in den Städten beteiligen sich an politischen Debatten und definieren damit das Verhältnis Staat-Gesellschaft auf neue Weise. "Durch die Anonymität des Internets", so Martin Woesler zu Recht, "ist eine kritische Öffentlichkeit entstanden".
Zwar versucht der party-state das Internet zu kontrollieren; er blockiert allzu weit gehende gesellschaftspolitische Diskussionen und systemkritische ausländische Websites. Auch verhaftet er zu Abschreckungszwecken von Zeit zu Zeit Cyber-Dissidenten, die dann zu hohen Haftstrafen verurteilt werden. Die Grundstimmung der Internetnutzer und die gesellschaftspolitischen Debatten lassen sich dadurch allerdings nicht eindämmen.
Die politische Führung ist durchaus an gesellschaftskritischem und partizipatorischem Verhalten vor allem der Jugend interessiert, zumal sich über das Internet einerseits soziale Missstände aufdecken lassen und sich andererseits der Unmut von Bürgern kanalisieren lässt. Internetdiskussionen an sich stellen noch keine Herausforderung des Systems dar. Sie können sogar dazu beitragen, die Legitimität des politischen Systems zu stärken. Bei den Internetnutzern handelt es sich primär um jüngere Personen mit hohem Bildungsstandard sowie um Vertreter der neuen Mittelschichten, denen nicht an einer Veränderung des politischen Systems gelegen ist, sondern an dessen Effektivierung im Sinne von Good Governance.
Entsteht in China eine Zivilgesellschaft?
Bei der Etablierung von Faktoren, die der Gesellschaft mehr Raum geben, spielen Partei und Staat nach wie vor eine zentrale Rolle. Da Ende der siebziger Jahre keine entwickelten Marktstrukturen, keine Unternehmerschaft und keine starke, partizipierende Gesellschaft existierten, übernahm der party-state die Aufgabe, die institutionellen Bedingungen dafür zu schaffen. Da es keine Unternehmer gab, übernahmen zunächst lokale Funktionäre die Aufgabe lokaler Entwicklung. Sie gründeten oder erwarben Unternehmen und erfüllten damit unternehmerische Aufgaben. In den Dörfern setzte der party-state Dorfwahlen durch; in den Städten schuf er Nachbarschaftsviertel, deren Leitungen gewählt werden müssen, und Freiwilligenverbände. Da es kaum Freiwillige unter den Bewohnern und kaum Sinn für Bürgerpflichten gibt, werden zunächst abhängige Gruppen wie Parteimitglieder (organisatorisch abhängig) oder Sozialhilfeempfänger (sozial abhängig) für soziale Arbeiten in den Nachbarschaftsvierteln herangezogen. Dadurch soll nicht nur ein erster Kreis von Aktiven herangebildet, es soll auch erreicht werden, dass über eine "Vorbildfunktion" andere Bewohner in soziale Partizipationszusammenhänge gebracht werden.
Unter Maßgabe fehlender institutioneller Bedingungen für eine Zivilgesellschaft sieht der party-state seine Rolle darin, diese Voraussetzungen zu initiieren. Eine Zivilgesellschaft "von oben" soll geschaffen werden. Den städtischen Nachbarschaftsvierteln wird dabei die Aufgabe zugedacht, Partizipation und gesellschaftlich ehrenamtliches (freiwilliges) soziales Engagement zu fördern. Die Renmin Ribao schreibt über diese Funktionalität des party-state, Partizipationsbereitschaft und -qualität der Stadtbewohner seien noch nicht sehr hoch. Von daher müsse der Staat als "Triebkraft" fungieren und einen top-down Prozess initiieren, um die Bewohner zur Partizipation in ihren Nachbarschaftsvierteln anzuspornen. Ihm komme dabei die Aufgabe zu, den Menschen bei der Erhöhung der Partizipationskapazität und dem Erlernen von Partizipation zu helfen.
Der Politologe J. S. Migdal hat gezeigt, dass Staaten als "politische Architekten" fungieren können, wenn Strukturen einer Zivilgesellschaft schwach ausgeprägt sind und ein starker Staat einer noch relativ schwachen Gesellschaft gegenübersteht.
Es ist nun gerade die Kombination von mobilisierter Partizipation, mobilisierten "Freiwilligen", der Einführung von Basiswahlen und der Gründung von Nachbarschaftsvierteln, welche die Voraussetzungen für eine kontrollierte und illiberale "Zivilgesellschaft" schaffen soll. Bereits der World Development Report von 1997 ("Der Staat in einer sich ändernden Welt") hat hervorgehoben, dass der Staat einerseits Prozesse initiieren, andererseits im Interesse größerer Effizienz und Bürgernähe öffentliche Aufgaben delegieren muss (an Bürger, NGOs oder den Privatsektor).