Einleitung
Die Branche der Biographik erfreut sich einer Dauerblüte. "Man könnte meinen", kommentierte Ulrich Raulff vor einigen Jahren, "es gäbe keine andere Textart mehr, keine Geschichte und keine Philosophie. 'Biography` ist zur tragenden Säule des Buchmarkts geworden; sie unterwandert die Literatur und resümiert das Beste, was die Sachbücher zu bieten haben. Es ist, als ob das Publikum von einem maßlosen Hunger nach geschriebenem Le-ben befallen sei, einer Art literarischem Kannibalismus. Roland Barthes, der als Strukturalist ein Feind der Biographik war, als Liebhaber des Texts aber ein Freund des biographischen und autobiographischen Experiments, hätte das Phänomen das 'biographische Verlangen' genannt."
Biographisches Verlangen und Unbehagen
Das anhaltende "biographische Verlangen" ging indes lange mit wissenschaftlichen Vorbehalten gegenüber dieser Gattung einher - vor allem in Deutschland, anders als in Großbritannien und den USA, wo die Biographie traditionell den Ruf einer Königsgattung genießt. Hierzulande stieß die biographische Methode bei Geschichtsforschern wegen des angeblich konservativ-historistischen Charakters und der behaupteten Theoriearmut auf Skepsis und löste eine Auseinandersetzung aus, die in den siebziger Jahren mit der Etablierung der "historischen Sozialwissenschaft" oder gar mit dem "Triumph der historischen Strukturanalyse" - so einer ihrer Kritiker - einen Höhepunkt erreichte.
Es mag zutreffen, dass die "Abneigung gegen die Biographie" zu einem guten Teil der "schmerzlichen Einsicht" entstammt, so Klaus Harpprecht 1998 mit spitzer Feder, "dass sie in Gottes Namen auch Literatur ist: dass sie Gestaltung, Formkraft, Urteilswillen und vor allem Sprache verlangt - Talente, die der Schöpfer nicht im Übermaß auf die akademische Welt der Deutschen herabregnen ließ".
Wenn die Politologen auch längst ihre alten Vorbehalte gegenüber diesem Genre aufgegeben haben, so nimmt die Biographieforschung in ihrem Bereich doch weiterhin kaum mehr als einen randständigen Platz ein. Der Politikwissenschaftler Paul-Ludwig Weinacht beklagte, das gängige Dimensionen-Gefüge des Politischen spare personale Aspekte weitgehend aus. Die "general theories" der Disziplin, monierte er, seien "so abstrakt geworden, dass 'Personen` in ihnen nicht einmal als 'Spielsteine` darstellbar sind"
Dagegen stellte Paul Erker 1993 in seinen Überlegungen zur "Zeitgeschichte als Sozialgeschichte" innerhalb der sozialhistorischen Forschung einen Trend zu einer "new biographical history" und einer "new elite history" fest.
Mittlerweile sind die Frontlinien aufgebrochen, schlagen - in der Geschichtswissenschaft allemal - "Intentionalisten" und "Strukturalisten" versöhnliche Töne an und suchen nach einer symbiotischen Verknüpfung beider Ansätze. Der Gedanke Heinrich von Treitschkes vom bewussten Willen handelnder Männer, der die Geschichte mache, gilt heute als ebenso naiv wie eine Position, die den Geschichtsverlauf getreu der marxistischen Lehre allein auf ökonomische Bewegungsgesetze zurückführt. Gleichwohl finden sich in biographischen Studien mit akademischem Anspruch noch häufig elaborierte, mehr oder weniger ertragreiche methodologische und theoretische Ausführungen, die einem "Unbehagen an der wissenschaftlichen Biographie"
Wie fruchtbar es sein kann, sich von der Fixierung auf einen methodischen Zugang oder ein geschichtstheoretisches Konzept zu verabschieden, belegte am Beispiel einer Einzelbiographie Ian Kershaw in eindrucksvoller Weise. Sein "Hitler" ist, gleichsam als gesellschaftsbiographisches Werk, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Versöhnung von Persönlichkeit, Gesellschaft und Struktur in der NS-Forschung.
Kershaws von einem Methodenpluralismus getragene Arbeit, die eine personenbezogenemit einer gesellschaftlich-ökonomischen und einer politisch-ideologiegeschichtlichen Sichtweise in Einklang bringt, scheint den alten Streit zwischen "Strukturalisten" und "Personalisten" aufgehoben zu haben. In den Reaktionen auf sein Buch war nur noch wenig von den über viele Jahre hinweg heftig ausgetragenen intellektuellen und methodologischen Gefechten zu spüren, die um Nutzen, Grenzen und, wie es bisweilen schien, um Gefahren der Individualbiographie geführt worden ist.
Neben Kershaws Arbeit ist Ulrich Herberts Studie über Heydrichs Stellvertreter bei der Gestapo, Werner Best, hervorzuheben. Die Untersuchung des Lebenswegs fungiert hier als Sonde, um Zeitumstände, ideologische Denkmuster und die Funktionsweise von Herrschaftsstrukturen näher zu erforschen.
Anders als bei der Individualbiographie gibt es über die Methodik der Kollektivbiographie, welche die Lebensläufe von - eindeutig definierbaren - sozialen oder politischen Gruppen schreibt und sich gleichfalls im Spannungsfeld von Struktur und Persönlichkeit bewegt, keine nennenswerten Kontroversen. Es mangelt an einer kritischen Bestandsaufnahme der bisherigen Forschung und einer Würdigung der Erfahrungen mit einer Methode, die nicht nur in der Soziologie (weniger der Politologie
Der Aufsatz möchte im Folgenden die (zeit)historisch orientierte kollektive Biographik skizzieren. Im Hintergrund steht dabei die leitende Frage nach Nutzen und Grenzen des mittlerweile viel erprobten gruppenbiographischen Ansatzes. Nach einem Blick auf frühe britische Erfahrungen mit der Kollektivbiographie rückt die deutsche Entwicklung dieses Forschungsfeldes seit den siebziger Jahren in den Mittelpunkt der Betrachtung. Am Ende soll eine knappe Leistungsbilanz dieser Methode gezogen werden.
Britische und deutsche Erfahrungen
Es mag an der "Nicht-Staatskultur" (Karl Rohe) Großbritanniens und einem dort stark personalisierten Verständnis von Politik liegen, dass sich hier selbst politikwissenschaftliche Studien stärker als andernorts politischen Akteuren widmen und sich das biographische Genre überaus großer Beliebtheit erfreut. Die britische Forschung hat nicht nurbedeutende Einzelbiographien hervorgebracht, sondern zu einem wesentlichen Teil auch den Boden für eine kollektive Biographik bereitet. Auf diese Traditionslinien verweist Lawrence Stone, dessen einflussreiche Studie "An Open Elite?"
"Prosopographie", so seine Definition, "bezeichnet die Untersuchung der allgemeinen Merkmale des Werdegangs einer Gruppe von handelnden Personen der Geschichte durch ein zusammenfassendes Studium ihrer Lebensläufe." Diese Merkmale werden etwa durch Fragen nach Geburt und Tod, Heirat und Familie, sozialer Herkunft, wirtschaftlicher Stellung, Wohnsitz, Ausbildung, Berufserfahrung oder Religion näher bestimmt und erörtert. Die Prosopographie oder Kollektivbiographie beabsichtigt nach Stone zweierlei: Erstens untersucht sie die Sozialprofile und -strukturen spezifischer Gruppen im zeitlichen Wandel; zweitens möchte sie - und dies ist der diffizilere, empirisch schwerer zu belegende Teil - die "Wurzeln einer politischen Handlung", so gut es geht, freilegen: "Die Aufdeckung der eigentlichen Interessen, von denen man annimmt, dass sie sich hinter politischer Rhetorik verbergen; es betrifft die Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Affiliationen politischer Gruppierungen, die Aufdeckung der Funktionsweise eines politischen Apparates und die Identifizierung jener, die die Hebel bedienen." Stone erinnert zu Recht daran, dass die kollektivbiographische Methode ursprünglich als "Hilfsmittel zur Erforschung der politischen Geschichte eingeführt" und erst später von den Sozialhistorikern entdeckt und gleichsam vereinnahmt worden ist.
Das Aufblühen der Prosopographie in Großbritannien während der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erklärt Stone mit einer Krise der Geschichtswissenschaft. Diese sei ganz auf institutionen-, verwaltungs-, verfassungs- und diplomatiegeschichtliche Fragestellungen orientiert gewesen oder habe sich auf die Lebensläufe einzelner "Großer" konzentriert, ohne deren Wirtschafts- und Machtinteressen freizulegen - in Stones Worten: ohne "die wahren Ziele hinter der Nebelwand politischer Rhetorik zu enthüllen"
Es ist bislang nicht systematisch untersucht worden, inwieweit sich die "britischen Erfahrungen" auf die deutsche Geschichtswissenschaft ausgewirkt haben. Auffällig ist indes eine Parallele: Auch die deutsche Schule der kollektiven Biographik bildete sich in einer Zeit heraus, die eine Krise der Geschichtswissenschaft erlebte.
Die Durchsetzung des sozialhistorischen Paradigmas trug wesentlich zu Entwicklung und Erfolg der kollektiven Biographik in Deutschland bei. Allerdings verstand sie sich von Anfang an als eine Chance zur Überwindung des alten Methodenstreits, indem sie eine "doppelte Erkenntnisrichtung" verfolgt: "Kollektive Biographie lässt einerseits Rückschlüsse auf das Typische, das Allgemeine zu, d.h. auf allgemeinere gesellschaftliche Aggregate oder auf die Gesamtgesellschaft - und dies ist zweifellos die eindeutig dominierende Erkenntnisrichtung in der Forschungspraxis. Andererseits lässt kollektive Biographie auch den Rekurs auf das Untypische, das Abweichende, das Individuelle zu, d.h. auf kleinere gesellschaftliche Aggregate oder auf den individuellen Lebenslauf selbst."
Jede Kollektivbiographie zielt mittels des Vergleichs der einzelnen Mitglieder auf die Herausarbeitung von Regelmäßigkeiten, schließlich auf eine Typisierung und Klassifikation der Resultate. So gestaltete sich als Ergebnis einer Studie über die 213 SPD-Angehörigen von Reichs- und Länderregierungen während der Weimarer Republik der "typische" Lebenslauf folgendermaßen: "Als sozialdemokratischer Minister im Reich/in den Ländern der Weimarer Republik wurde danach am ehesten berufen, wer männlich, evangelisch (aber zeitweise dissident), 47 Jahre, gelernter Arbeiter, langjährig Reichs- und/oder Landtagsabgeordneter/Fraktionsführer war und in Preußen (Reichsminister) bzw. im jeweiligen Bundesland (Landesminister) wohnte."
Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre beschäftigt sich das Zentrum für Historische Sozialforschung in Köln mit der theoretischen Fortentwicklung der kollektiven Biographik und ihrer Anwendung in der Praxis. Ganz überwiegend widmen sich die verschiedenen Projekte der Analyse parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Themen lauten: "Struktur und Wandel parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland 1848 - 1953"; "Biographisches Handbuch der sozialdemokratischen Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867 - 1933"; "Biographisches Handbuch der Abgeordneten deutscher Nationalparlamente 1848 - 1933"; "Lebensschicksale der ehemaligen Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik ab 1933"; "Die Rekrutierung der politischen Klasse in der Bundesrepublik Deutschland" sowie "Kollektive Biographie der Landtagsabgeordneten der Weimarer Republik 1918 - 1933".
Gerade die Verknüpfung von biographischer Lexikographik und kollektiver Biographik
Mittlerweile existiert auch außerhalb des Kölner Mekkas der deutschen Kollektivbiographen eine Reihe deutscher Erfahrungen mit der Kollektivbiographik: So haben Gerd Meyer und Eberhard Schneider die Macht- bzw. Funktionselite der DDR prosopographisch analysiert.
Leistungen und Kritik
Die britischen und die deutschen Erfahrungen belegen, dass es sich bei der Kollektivbiographie oder Prosopographie inzwischen um eine mündig gewordene und vielfach angewandte Methode handelt. Stone konstatierte bereits vor über dreißig Jahren: "Sie hat die Torheiten und Ausschweifungen ihrer Jugend überwunden und beginnt, die alltägliche Routinearbeit der ersten Jahre des verantwortungsvollen mittleren Altersabschnittes aufzunehmen."
Die kollektive Biographik nimmt dabei in mehrfacher Hinsicht eine Mittlerposition ein. Sie erfüllt gleichsam eine Brückenfunktion zwischen verschiedenen Disziplinen, nicht zuletzt zwischen der politikwissenschaftlichen Elitenforschung, der soziologischen Lebenslaufforschung und der geschichtswissenschaftlichen Biographieforschung. Innerhalb der Zeitgeschichtsforschung steht die kollektive Biographik zwar den Prämissen einer historischen Sozialwissenschaft besonders nahe, stellt aber zugleich vielfältige Anknüpfungspunkte zur Politikgeschichte her und bewegt sich zwischen qualitativen und quantitativen Forschungsansätzen. Sie ermöglicht nicht nur die Typisierung des Individuellen, sondern auch die Individualisierung des Typischen. Gerade im Falle von Elitestudien bietet es sich an, ja ist es zum Teil geboten, die prosopographisch gewonnenen Daten und die "typischen" Lebensläufe mit einzelnen "exemplarischen" Fallstudien zu vergleichen,
Es besteht mithin eine doppelte Gefahr: Erstens drohen die abweichenden Stimmen nicht genügend zur Geltung zu kommen und individuelle Ausprägungen in der Masse der Kollektivdaten unterbewertet oder gänzlich übersehen zu werden. Zweitens - und eng damit zusammenhängend - birgt die Reduktion auf biographische Kerndaten (zu festgelegten und kodierten Variablen) das Risiko, das Ziel der Biographik - zumindest der individuellen - zu verfehlen, nämlich Charaktere zu erfassen und zu verstehen. Kollektivbiographie ohne Fallstudien, gleichsam als Sicherheitsmechanismus, erscheint als ein wenig fruchtbares Unternehmen, und bei einer sehr geringen Gleichförmigkeit der Lebensläufe eines Kollektivs dürfte die Anwendbarkeit der Methode mehr als fragwürdig erscheinen.
Ohne Zweifel zählt aber zu den großen Leistungen der Prosopographie die vergleichende Analyse von Sozialprofilen und -strukturen. Kollektivbiographie reduziert auf eine Soziographie
Schon Stone nannte es eine "große intellektuelle Schwäche der Prosopographen", dass sie nur eine "relativ geringe Bereitschaft" besäßen, "den Ideen, Vorurteilen, Leidenschaften, Ideologien, Idealen und Grundsätzen in ihrer Geschichtsperspektive einen Platz einzuräumen".