Einleitung
Die Diskussion um Welt- oder Globalgeschichte beginnt in Deutschland erst allmählich Fuß zu fassen. Noch lebt diese Diskussion vom Engagement Einzelner. Den Verwicklungen der Globalisierung und der Komplexität der Gegenwart wird man jedoch auch in Deutschland mit nationaler Geschichte und selbst mit einer Ausweitung auf europäische Perspektiven nicht mehr gerecht.
Im Folgenden möchte ich erstens allgemein die Notwendigkeit neuer Orientierungen, dietransnationale und weltgeschichtliche Perspektiven einschließen, skizzieren; zweitens werde ich darauf eingehen, inwiefern sich die neue Weltgeschichte von älteren universalhistorischen Entwürfen unterscheidet; drittens werde ichnicht nur die Frage erörtern, was "realhistorisch" neu ist und inwiefern folglich eine neue welthistorische Orientierung notwendig geworden ist, sondern auch, auf welche Weise Weltgeschichte und neue Globalgeschichte auf diese neuen Phänomene reagieren.
Neue Orientierungsnotwendigkeiten
Die Dominanz der nationalen Geschichte war bis in die 1960er Jahre hinein weitgehend unangefochten. Das entspricht der Tradition der Geschichtswissenschaft, die ihre Professionalisierung im 19. Jahrhundert in engster Anlehnung an den Nationalstaat erreicht hat. Eine Aussage über die "Welt" ist jedoch in jedem historischen Narrativ enthalten, nicht zuletzt auch im " Containermodell" der nationalen Geschichte.
Die Selbstverständlichkeiten einer politisch ausgerichteten Nationalgeschichte (nicht jedoch die Nationalgeschichte per se) gerieten seit den späten 1960er Jahren zunächst durch die Sozialgeschichte unter Beschuss und büßten in der Folgezeit durch eine Reihe neuer Ansätze zumindest teilweise ihre Legitimität ein: durch die dekonstruktivistische Frauen- und Geschlechtergeschichte, sodann durch die Alltagsgeschichte sowie in den USA vor allem durch die ethnischen Geschichten, mithin durch diejenigen Ansätze, die man heutzutage gerne unter kulturhistorischem Vorzeichen zusammenfasst. In diesem Prozess pluralisierte sich die Geschichtswissenschaft. An die Stelle "der Geschichte" traten "die Geschichten", und aus dem "edlen Traum" von der historischen Objektivität gab es ein unsanftes Erwachen.
Was nun hat es mit der Weltgeschichte auf sich, undwas kann diese leisten?
Charles Maier beschreibt die Verschiebungen der Erinnerung an die Gräuel des 20. Jahrhunderts, wie sie sich im letzten Jahrzehnt angedeutet und teilweise auch vollzogen haben. Das Signum "1989" hat den Holocaust in gewisser Weise historisiert. Neben die Erinnerung an den Holocaust ist die Notwendigkeit getreten, die Lager der kommunistischen Regime zu erinnern und aufzuarbeiten. Historisch vergangen, so Maier, seien letztlich beide: der Holocaust wie der Gulag, auch wenn sie für die Erinnerung von Menschen ebenso wie die Erinnerungskulturen von Nationen nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Die Zukunft gehöre, so Maier, der postkolonialen Erinnerung mit allem Unrecht und allen bis in die Gegenwart hinein spürbaren Verletzungen, die aus dem Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts resultieren und die zunehmend stärker als ethnische Proteste sowohl innerhalb westlicher Gesellschaften als auch auf internationaler Ebene artikuliert werden. Eric Hobsbawm und Dan Diner analysieren, was Letzterer den "Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts" mit "seiner lärmenden Rhetorik widerstreitender Universalien" genannt hat, mithin die Weltentwürfe des liberalen Kapitalismus und des Bolschewismus, jener großen Kontrahenten des Kalten Krieges. Hobsbawm fügt sein persönliches Erleben in das katastrophenreiche 20. Jahrhundert ein, ein Erleben, das den Menschen oft wenig Optionen ließ und ihnen gleichwohl wichtige, nicht zuletzt sehr persönliche Entscheidungen abverlangte.
Schließlich sei noch ein weiterer Autor genannt, der zwei Jahre lang um die Welt gereist ist, um die dramatischen Veränderungen, die sich in unserer Lebenszeit vollziehen, zu verstehen: Manuel Castells hat in seinem faszinierenden dreibändigen Werk "The Information Age" nicht nur die Revolutionierung unserer Kommunikationssysteme beschrieben, sondern auch den Charakter neuer Kriege und die neue, lokale wie globale, Armutsdifferenzierung, die er als "Fourth Worldization" bezeichnet. Seine zwischen 1996 und 1998 entstandenen Bücher sind bemerkenswert, nicht zuletzt im Hinblick auf die Weitsicht, mit der der Autor einige Jahre vor dem 11. September 2001 die weltweite Zunahme terroristischer Angriffe prognostiziert hat.
Diese Arbeiten sind gelungene Versuche, auf die neuen Orientierungsnotwendigkeiten der Gegenwart in einem Zeitalter globaler Verstrickungen Antworten zu finden. Für eine Diskussion um Weltgeschichte oder um globale Perspektiven des historischen Verständnisses im europäischen Kontext bieten sie wertvolle Anknüpfungspunkte, die es weiter zu verfolgen gilt.
Konzepte von Welt- bzw. Globalgeschichte
Wenn wir von "Weltgeschichte" sprechen, müssen wir sagen, was wir damit meinen, damit der Annahme vorgebeugt wird, hier handele es sich um eine Anknüpfung an die universalhistorischen Entwürfe der Aufklärung.
Diese der Aufklärung verpflichteten Strukturprinzipien lassen sich bis in die Modernisierungstheorien der 1960er Jahre verfolgen, deren entscheidendes Merkmal ihre eurozentrische Ausrichtung war. Die Modernisierungstheorien gingen - am deutlichsten im Stufenmodell von Walt W. Rostow
Zusammengefasst bedeutet das: Was ältere, zumeist in der Aufklärung und in eurozentrischen Weltbildern verankerte welt- oder universalhistorische Entwürfe von den heutigen Bemühungen unterscheidet, sind erstens die Konstruktion des handelnden historischen Subjekts, bzw. handelnder Kollektivsubjekte; zweitens die apodiktische Annahme, dass Europa das Zentrum, der Rest der Welt hingegen die Peripherie sei; und drittens die Vorstellung, dass der historische Prozess mehr oder weniger automatisch auf Fortschritt, Modernisierung, Demokratie sowie eine vernünftige Weltordnung hinauslaufe.
Worin unterscheidet sich die neue Welt- oder Globalgeschichte von den alten universalhistorischen Entwürfen? Die Terminologie ist nicht immer trennscharf, aber viele Autoren machen einen Unterschied zwischen world history und global history. "World history" meint häufig "die ganze Geschichte der ganzen Welt" ("the whole history of the whole world"), eine Form von Weltgeschichte, die Jürgen Osterhammel zu Recht als höhere Form des Wahnsinns bezeichnet hat, die lediglich zu "uninspirierten Datenkollagen" führe.
In den USA boomt Weltgeschichte. Sie verändert ganze history departments.
Das Erfassen "emergenter" Phänomene
Sicher ist es für Historiker und Historikerinnen richtig zu betonen, dass das, was heute unter dem Schlagwort der Globalisierung abgehandelt wird, nicht unbedingt neu ist, sondern dass es Weltzusammenhänge oder sogar ein "Weltsystem" (Wallerstein) spätestens seit der Frühen Neuzeit gegeben hat. Es gibt aber durchaus Entwicklungen, die tatsächlich neu für das 20. Jahrhundert, präziser: dessen zweite Hälfte, sind und die einen spezifisch neuen Weltzusammenhang konstituieren. Diese Entwicklungen gehen in allgemeinen Weltzusammenhängen, oder, wie Ross Dunn und William McNeill es nennen, "interactive zones", früherer Jahrhunderte nicht auf bzw. können als solche nicht zureichend erfasst werden. Manuel Castells hat eine beeindruckende Liste dessen, was welthistorisch gesehen neu ist, zusammengestellt:
Soweit die Faktoren, die Castells anführt. Auch der Vorstoß ins All, Satelliten in der Stratosphäre, die Nuklearspaltung und daraus folgende Gefährdungen, gegen die Territorialstaaten ihre Bürger nicht schützen können (Atombombe; Tschernobyl), und Umweltprobleme wie Ozonlöcher oder die globale Erwärmung sind historisch Phänomene, die sich nicht mit dem Verweis auf die bereits seit Jahrhunderten zu beobachtende Globalisierung erledigen, sondern die in der Tat historisch gesehen neuartige Phänomene sind.
Wenn in Deutschland inzwischen von der "einen Welt" gesprochen wird - ein Sprachgebrauch, der die lange Zeit vorherrschenden Vorstellungen von einer Ersten, Zweiten und Dritten Welt abzulösen beginnt -, so ist das als Zeichen einer wachsenden Wahrnehmung der welthistorischen Verknüpfungen und sich daraus ergebender neuer Perspektiven zu begrüßen. In der Vorstellung von der "einen Welt" ist jedoch auch ein Euphemismus enthalten. Ja, wir haben es mit einer zusammenhängenden und sich wechselseitig beeinflussenden Welt zu tun. Aber wir haben es nicht mit einer Welt zu tun, in der die konzeptionell eingebauten Ungleichgewichtigkeiten und Peripherisierungsprozesse des die Welt sich unterwerfenden faktischen und mentalen Eurozentrismus, so wie sie in der Rede von der Ersten, Zweiten und Dritten Welt zum Ausdruck kommt, nun in schöner political correctness durch mehr Einheit und Gleichheit ersetzt würden. Was wir gegenwärtig erleben, ist eine sich refragmentierende Welt entlang von Bruchstellen, für die es nicht nur neue Konzepte zu entwickeln, sondern die es auch empirisch aufzuarbeiten gilt: entlang von Zentren und Peripherien; Bildungschancen und außerordentlich unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs zu kulturellem Kapital; Alter und Geschlecht; der Wirkungskraft von regionalen wie globalen Kapital-, Waren- und Arbeitsmärkten.
Auch die Position im internationalen Schichtungssystem, auf die Peter Heintz als bedeutsame Wirkungsmacht hingewiesen hat, ist für die Lebens- wie die Zukunftschancen jedes und jeder Einzelnen von großer Bedeutung.
Dieser Wandel ist in der Tat gravierend und zum größten Teil noch unverstanden. Ein Spezifikum der Globalisierung ist es beispielsweise, dass diese keine erkennbar politische Form mehr annimmt. Vielmehr unterminieren die Kräfte der Globalisierung vorhandene politische Organisationsformen, etwa durch die Bedeutung von transnationalenKommunikationsnetzwerken, multinationalen Konzernen und Nichtregierungsorganisationen.
Hinter all diesen Problemen verbergen sich veritable Forschungsprobleme, die sich nur mehr als globale fassen lassen und die das Containermodell nationaler Geschichten sprengen. Aus seiner profunden Kenntnis welthistorischer Entwicklungen heraus prognostiziert der Historiker William McNeill den Anbruch eines neuen Zeitalters: "I suspect that human affairs are trembling on the verge of a far reaching transformation."
Man könnte meinen, dass, nachdem die diskursiven Dekonstruktionen die dominante nationale Geschichtserzählung über mehrere Jahrzehnte hin "von unten" - durch die Frauen- und Geschlechtergeschichte, durch die Geschichte des Alltagslebens und einzelner Gruppen, durch Oral History und eine neue Kulturgeschichte - in Frage gestellt und verändert haben, die Welt- und Globalgeschichte das Gleiche nun "von oben" tue. Weltgeschichte markiert jedoch nicht als Ansammlung transnationaler Geschichtserzählungen einfach nur eine neue Ebene oberhalb der nationalen Geschichtsschreibung. Sie ist ein neuartiges, oder, wie die Soziologen dies nennen, "emergentes" Phänomen: "Die Spezifik emergenter Phänomene liegt darin, dass sie mit dem bisherigen theoretischen Wissen nicht hinreichend zu erklären sind."
Die neue Welt- oder Globalgeschichte ist ein Ansatz, der bislang nicht oder nur unzureichend wahrgenommene Phänomene zu beschreiben versucht. Der religiöse Fundamentalismus und die neue Rolle von Religion in der Politik in Teilen der Welt sind ein Beispiel. Wenn wir in Deutschland und Europa von religiösem Fundamentalismus sprechen, so schauen wir in der Regel auf den islamischen Fundamentalismus. Der christliche Fundamentalismus, der die Präsidentschaft von George W. Bush bestimmt hat, kommt uns dabei seltener in den Sinn. Wer weiß schon, dass den amerikanischen Truppen im Irak nicht nur private Söldner, sondern auch christliche Missionare gefolgt sind und dass damit dort ein Modell implementiert wird, das stark an den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts erinnert?
Angesichts der Notwendigkeit, eine globalisierte Welt anders als mit den herkömmlichen Konzepten nationaler Geschichtserzählungen zu beschreiben, weil die Phänomene, die es zu beschreiben gilt, historisch neu sind, es also um neue empirische Tatbestände geht, darf ein Aspekt nicht übersehen werden: Es geht bei den Diskussionen um Weltgeschichte auch um einen Trend zur neuen Synthesebildung. Das ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Fragmentierung der Geschichtswissenschaft (wie unserer Lebenswelten) in den letzten Jahrzehnten. Tatsächlich ist die Weltgeschichte aus den Dekonstruktionen einer objektivistischen und zumeist auf das Nationale fokussierten Geschichte hervorgegangen, und die Beziehungen zu postkolonialen Ansätzen, aber auch etwa zur Geschlechter- oder Umweltgeschichte sind deutlich vorhanden. Weltgeschichte kann hinter diese Ansätze nicht zurückfallen - sie hatten ja ihren guten Sinn-, sondern sie muss diese in sich aufnehmen und integrieren.
Weltgeschichte als Zeitgeschichte
Welt- oder Globalgeschichte ist immer Zeitgeschichte im Sinne eines bewussten Nachdenkens über die eigene Geschichte und eines Neupositionierens im Weltzusammenhang. Das heißt: Welt- und Globalgeschichte ist in erster Linie der Versuch, sich zur empirischen wie zur imaginierten Welt der Gegenwart in Beziehung zu setzen. Weltgeschichte (wie auch die Diskussion der Soziologen über "Weltgesellschaft") geht von dem Gedanken aus, dass "eine eigene weltweite Dynamik existiert, die den Bezugshorizont für Interaktionen und Kommunikation darstellt". Dabei geht es um eine Ebene, ohne die "die moderne Gesellschaft und ihre Kontingenz nicht hinreichend zu erklären und zu beschreiben wäre".
Dabei ist es einerseits irrelevant, das heißt, es spricht nicht gegen ihre Bedeutsamkeit, anderseits jedoch durchaus wirkungsmächtig, dass die weltgesellschaftlichen und welthistorischen Bezüge von den meisten Menschen gar nicht wahrgenommen werden. Peter Heintz ebenso wie Michael Geyer beschreiben diesen Tatbestand sogar als ein Spezifikum des Weltzusammenhangs, in dem wir operieren.