Einleitung
Was Zeitgeschichte sein kann, stellt einen alten Streit dar. Bereits im Ersten Weltkrieg wurde von dem späteren Kölner Historiker Justus Hashagen ein recht zeitbezogener Begriff entwickelt,
Zeitgeschichte im ersten Sinn ist in jeder Gesellschaft und vor jeder Wissenschaft da. Geschichte wird berichtet, ist ein Teil des kommunikativen Gedächtnisses, das wissenschaftlicher Korrektur nur schwer zugänglich ist, aber gerade daher eine besondere Herausforderung für die Geschichtswissenschaft bildet. Darüber hinaus gibt es positiv gesehen die Chance der Zeitzeugenbefragung, negativ die Schwierigkeit der Sperrfristen von Akten in Archiven. Das sollte nach wie vor ein wichtiges Kriterium für Zeitgeschichte bilden. Schon daher kann der Epocheneinschnitt gut 50 Jahre nach Rothfels' Ausführungen nicht mehr 1917 sein, sondern sollte in der politischen Geschichte, die auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausstrahlt, eher auf 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs samt seinem besonderen Charakter als Vernichtungskrieg bzw. auf 1989/90 mit dem Ende kommunistischer Herrschaft gelegt werden. Das gilt für Europa, aber auch für weite Teile der übrigen Welt. Beide Daten bilden relative Konstruktionen, die ihren Sinn haben. Man kann also nach meinem Vorschlag die ältere Zeitgeschichte nach Rothfels zu den Akten legen und mit Hans-Peter Schwarz neben der neueren auch eine "neueste Zeitgeschichte" unterscheiden.
Was hier für die deutsche Zeitgeschichte aufgeführt ist, gilt natürlich auch im größeren Rahmen. Schon Rothfels argumentierte welthistorisch. Heute wäre man mit inhaltlichen Kriterien wohl vorsichtiger. Bedeutet europäische Zeitgeschichte nicht dasselbe wie deutsche Zeitgeschichte, nur im größeren Rahmen? Otto von Bismarck reagierte allergisch, wenn von Europa statt von nationalen Interessen die Rede war, aber auch in jüngster Zeit titelte etwa brillant Timothy Garton Ash "Im Namen Europas", als er die bundesdeutsche Heuchelei europäischer Argumentationsmuster anstelle offener deutscher Interessenbenennung zu entlarven trachtete.
In der Gegenwart ist Europa in aller Munde, da doch 2004 die Osterweiterung auf 25 Staaten vollzogen worden ist, wobei gelegentlich die Bezugsgrößen durcheinander geraten; mal heißt es - korrekt - Osterweiterung der EU, mal aber auch - fälschlich - Europas. Gerade in ehemaligen "Oststaaten" ist seit den achtziger Jahren häufig von einer "Rückkehr nach Europa" die Rede gewesen - in welches Europa, und: War "Osteuropa" nicht auch immer Europa? Je enger die Staaten Europas zur europäischen Integrationsorganisation gehören, desto eher hört die genannte Unterscheidung auf - aber "Zeitgeschichte" bestimmt sie allemal.
Meistererzählungen der Zeitgeschichte
Gerade weil jüngst erlebte Geschichte ständig präsent ist, gibt es dominierende Erzähl- und Betrachtungsweisen, die sich vom erlebten und erinnerten Bereich der individuellen Geschichte bis auf die europäische Ebene verlagern können oder ihn mitdenken - die Zeitgeschichte Europas. "Meistererzählungen" wird das im Anschluss an die englischen "master narratives" sinnvollerweise genannt, denn diese wirken, und sie prägen die Sicht.
1. Die Aufbaugeschichte aus den Zerstörungen und dem Massentod des Weltkriegs heraus: "Auferstanden aus Ruinen".
2. Vom "Westen" her gedacht: die Modernisierung Europas, "Wohlstand für alle!";
3. Aus gleicher Perspektive, aber stärker auf die Staatenpolitik gerichtet: die Geschichte der westeuropäischen Integration als Erfolgsgeschichte, vom Sechsereuropa der Montanunion zur Europäischen Union des Jahres 2004 mit 25 Mitgliedstaaten; die "Adventserzählung": "erst sechs, dann neun, dann zwölf - jetzt 25!"
4. Die Ostintegration: der sozialistische Block als welthistorisch überlegenes Modell des Fortschritts, gefährdet durch kapitalistischen Imperialismus, "Der Sozialismus siegt!" (Er verlor dann doch in fast jeder Hinsicht.)
Eine andere "Meistererzählung" markiert ein tragisches Narrativ:
5. Das Katastrophenzeitalter, über das Eric Hobsbawm im "kurzen 20. Jahrhundert" für die Zeit bis 1945 sprach, wurde von einem "goldenen Zeitalter" bis Mitte der siebziger Jahre abgelöst, dem seither neue Instabilität im "Erdrutsch" neuer Krisen in Richtung auf eine Globalisierung gefolgt sei.
6. Die Verdrängung Europas als zentraler Akteur der Weltgeschichte: Dekolonisierung und Globalisierung, "Europa schrumpft".
Eine dialektische Sicht zeichnet zwei weitere Blicke aus:
7. Die Beziehungsgeschichte eines unterschiedlich strukturierten Paares, des Ostens und des Westens: Es grenzte sich voneinander ab, versuchte hin und wieder die Annäherung, trug heftige Auseinandersetzungen aus, zog sich trotz Ablehnung an und kam nicht voneinander los. Dieses Europa der dialektischen Wechselwirkungen ohne Synthese oder Versöhnung tritt erst langsam deutlicher hervor: "Sie küssten und sie schlugen sich."
8. Europa im Ost-West-Konflikt: der Kalte Krieg als vermiedener heißer Krieg der Blöcke, der aber nach innen gravierende Folgen hatte, indem er die Ängste und Drohungen in die Gesellschaften trug und andere Formen der Verdrängung oder des Austrags fand; "der Krieg gegen die menschliche Einbildungskraft" (Michael Geyer).
Ein peripherer Blick:
9. Die Sicht der "Kleinen": Sie beobachteten das Treiben der "Großen", waren davon abhängig, wollten aber nie so werden wie jene. Und wenn sie ihrer mehr oder weniger "kindlichen" Unmündigkeit entwachsen waren, wurden sie immer noch keine ganz Großen, wollten es auch gar nicht sein; aber es gab immer den Wunsch oder die Überzeugung, es besser machen zu können als diese.
Schließlich ist es sinnvoll, von einem katastrophischen Narrativ zu sprechen:
10. Der Niedergang, ja die drohenden Vernichtung, die von atomaren Gefahren, militärisch oder zivil, ausging, dann die ökologische Endlichkeit entdeckte und in Diagnosen über die ungesteuerte Globalisierung mündete: "Die Grenzen des Wachstums" - gewiss nicht auf Europa beschränkt.
Diese Schneisen mögen genügen, weitere ließen sich unschwer hinzufügen. Es mag im Ansatz ein europäisches Gedächtnis geben,
Auf Meistererzählungen bauen oft die beabsichtigten Impulse zur Traditionsbildung und Geschichtspolitik auf, die im politischen und kulturellen Raum ausgeprägt sind. Geschichtswissenschaft kann darin nur als Teil einer pluralistischen Gesellschaft ihre Erkenntnisse einbringen, etwa in "kulturellen Gedächtnistraditionen, medialen Vergegenwärtigungen und politischen Inszenierungen". Affirmativ-propagandistisch oder kritisch-destruierend sind die wichtigsten Grundhaltungen. "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" markiert einen zentralen Punkt der allgemeinen Debatte,
Das "gedachte Europa" bezieht sich primär auf die Europaideen und -vorstellungen, auf die Wünsche und Ziele Einzelner und ganzer Organisationen, auf die Konstruktionen von Europa. Das "gelebte Europa" richtet sich eher auf Methoden und Gegenstände der Kultur- und Sozialgeschichte und sucht Gemeinsamkeiten, Prägungen und Besonderheiten auszumachen. Das "vereinbarte Europa" betrachtet demgegenüber den Rahmen der kodifizierten und verrechtlichten Stränge, vom europäischen Gemeinschaftsrecht bis zu dessen mehr oder weniger starker Akzeptanz und geglückter Umsetzung. Aus dem Zusammenwirken methodischer Grundüberlegungen und allgemeiner Erzählungen ließen sich Muster entfalten, dabei dann die Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und Differenzen beider Ebenen erörtern, die Grade möglicher oder erwarteter Fruchtbarkeit von Grundkategorien und deren Entfaltung ermitteln. Das kann hier nicht geschehen, wohl aber sollen einige Themenfelder und Ansätze benannt werden.
Europäische Zeitgeschichte
1. Kriterien der Konstruktion. Natürlich ruht Europa nicht in sich, sondern agiert nach außen, wird von außen wahrgenommen. "Europa" bildet eine Bezugsgröße, die zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich konstruiert wurde. Das betrifft die räumliche Ausdehnung ("Russland gehört zu Europa"; "Die Türkei bildet keinen Bestandteil des Kontinents"
2. Binnendifferenzierung und Grenzen. "Der Balkan",
3. Blockkonstruktion und Grenze im "Kalten Krieg". Für die neuere europäische Zeitgeschichte ist es darüber hinaus zentral, wie die Trennlinie quer durch Europa konstruiert wurde und heute zu deuten ist. Nicht nur im Rahmen der Meistererzählungen, sondern auch analytisch sind die Ursachen, aber auch die Wirkungen und Folgen der Grenze durch Europa bedeutsam. Da gibt es ganz alte Schichten, die auf Antike und Mittelalter zurückgehen und nicht vollständig "tot" sind.
4. Der Beginn der Forschung über den integrierten Osten. Europäische Zeitgeschichte könnte also aus östlicher Sicht einen Schwerpunkt auf die Beziehungen zum Westen mit ihrer gestörten und behinderten Kommunikation legen. Kommunikation war aber möglich und blieb wichtig. Sie sollte aber auch deutlich die Integrationsmechanismen und -formen innerhalb der Blöcke zum Thema machen. Auch dies könnte neben den manifesten Unterschieden Gemeinsamkeiten stärker als bislang geschehen zutage fördern. Gerade im Bereich politischer Herrschaft bleiben nicht nur die Gründe für den Verfall und das friedliche Ende des "Ostblocks" zu klären, sondern auch für seine jahrzehntelange Dauer und relative Stabilität. Das hat Jürgen Kocka unlängst für die DDR-Geschichte angemahnt,
5. Westeuropäische Integrationsforschung bildet derzeit den dominierenden Trend der Europäischen Zeitgeschichte. Hier boomt die Forschung und macht die politische Parole der Ost-"Erweiterung" der Gegenwart auch für die Zeitgeschichte des Westens zur analytisch fruchtbaren Maxime: "Widening, Deepening and Acceleration".
6. Komparative Geschichte - die Anfänge. Eine vergleichende europäische Geschichte ist erst in jüngster Zeit in Gang gekommen und besteht für die Zeitgeschichte in ersten Ansätzen, geht es doch um langfristige Prozesse, die sich am besten zum Vergleich eignen.
7. Europäische Erinnerungskultur? Letztlich geht es auch um europäische Erinnerung, in der sich Meistererzählungen und ihre wissenschaftliche Erforschung kreuzen und bündeln. "Erinnerungsorte" gehören dazu, sich dynamisch entwickelnde Merk- und Gedenkpunkte, die nicht in erster Linie räumliche Dimensionen haben müssen. Aber gerade hier stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen europäischen Fundus. Da sind wir wieder dicht an den Meistererzählungen. Wenn nicht alles täuscht, sind es die Erinnerungstage der europäischen Geschichte, die eine relativ neue Gattung an kultureller Traditionspflege hervorgebracht haben. Waren es früher primär die 100- oder 50-Jahr-Feiern, so sind, medial gestützt, heute auch Zehnerjubiläen der jüngeren Geschichte Teil ausgiebiger öffentlicher Geschichtsrepräsentation - zwischen Erinnerungen der Mitlebenden, staatlichen oder gesellschaftlichen Erinnerungspolitiken und Agenda setting. Aber auch da, wo es sich um gesamteuropäische Erfahrungen handelte, sind Erinnerungsgemeinschaften bis in die jüngste Zeit hinein national gewesen. Die gesamteuropäische Beteiligung über die Grenzen der Kriegsgegner des Ersten oder Zweiten Weltkriegs hinweg könnte hier etwas Neues in Gang gebracht haben. Es fehlen die Voraussetzungen für eine Erinnerungskultur in Europa, die in gemeinsamer Form an Vorgänge oder Erfahrungen erinnerte, wenn sich diese nicht in der Beliebigkeit offizieller Zeremonien oder Deklarationen verflüchtigt. Demgegenüber regen sich gegenläufige Trends, die von gleicher Bedeutung sind. Der Begriff der "Vertreibungen" - als zwangsweiser Bestandteil von Migration neutral zu beschreiben - sei hier nur genannt. Damit sind wir erneut bei den genannten Meistererzählungen angelangt, die zu Fragen und Methoden der Geschichtswissenschaft in einem gelegentlich fruchtbaren Spannungsverhältnis stehen. Europäische Zeitgeschichte kann leichter differenzieren und vor allem sektoral Gewalt- und Leidphänomene ohne unmittelbare moralische Bewertung skizzieren. Ein öffentlicher Umgang mit Geschichte mit starkem Identifikationsbedürfnis für die je eigene Sicht der Dinge vermag das sehr viel schwerer zu leisten.
Schlussbemerkungen
Deutsche und europäische Zeitgeschichte mögen sehr viel gemeinsam haben, der europäische Befund von Desiderata wird vielfach für die deutsche Seite bereits besser ausgefüllt. "Die DDR-Geschichte wird in absehbarer Zeit zu den am besten erforschten Feldern der Zeitgeschichte gehören", formulierte Christoph Kleßmann 1998 optimistisch.
Eine wirkliche Europäische Zeitgeschichte steckt noch in den Anfängen. Sie ist stärker dem öffentlichen Umgang, der politischen Instrumentalisierung, aber auch der kulturellen Prägungen durch vorangegangene Zeiten unterworfen als andere Perioden. Das bildet zugleich Reiz und Herausforderung wie methodische Erschwernis und Last. Nationale Perspektiven machen den "Blick über den Tellerrand" nach wie vor nicht leicht - erst recht nicht die Sicht auf den gesamten Vorrat an "Tellern". Sport als Teil gegenwärtiger medialer Massenwirklichkeit lebt weitgehend in nationalen Kulturen; wie könnte es da der Geschichte ganz anders gehen?
Das gilt zumal für "Eurovisionen"
Der geographische Europabegriff kann aus den genannten Gründen nicht auf eine reine Erweiterung Kerneuropas auf immer weitere Regionen abzielen. Die "Rückkehr nach Europa" war eine berechtigte und wertgebundene Forderung gerade von Intellektuellen in Ost(mittel)europa seit den achtziger Jahren; analytisch vermag sie die wechselseitigen Einflüsse weder zur Zeit des akuten Ost-West-Konflikts von 1945/49 bis 1989/91 noch die Entwicklung seither zu fassen, die nur als Anpassung an bereits vorgefundene Standards der Europäischen Union gesehen wird. Europäische Zeitgeschichte umfasst mehr als die Vorgänge in den sich erweiternden europäischen Integrationsgemeinschaften.
Besonders fruchtbar scheinen mir Ansätze zu sein, die mehrere Ebenen in Europa berücksichtigen. Das zielt nicht nur auf das "Regieren" der EU, sondern auch auf unterschiedliche Ebenen der Identifikation, wonach sich Identitäten - so schwer sie im Einzelnen zu fassen sind - auf mehreren Ebenen (oder in konzentrischen Kreisen) ausmachen lassen, die von Nahbereichen aufsteigend zumindest von der Region an auch Staat/Nation und dann Europa umfassen könnten. Gerade der Vergleich von Beziehungen könnte dabei sehr fruchtbar sein.
Recht herkömmlich ist schon immer der Blick auf Europa untersucht worden,
Zukunftsträchtig sind Versuche, vergleichend an die europäische Zeitgeschichte heranzugehen, auch wenn der diachrone Zeitraum seit 1945 noch zu geringe Distanz bietet. Die Vergleichsgegenstände und -ebenen sind überall zu finden und potenziell unendlich. Darüber hinaus scheint es lohnend, die Beziehungen innerhalb Europas gerade auf einer weit verstandenen kulturellen Ebene zu thematisieren. Transfergeschichten und Wechselwirkungen könnten diese Einflüsse besser fassen als herkömmliche Herangehensweisen.
Europäische Zeitgeschichte sollte eingebunden sein in die Außenwahrnehmungen wie in die Außenbeziehungen. Dazu gehören die globalen Prägungen und Einflüsse, die für Europa (und darüber hinaus) in der jüngeren Zeit zu einer außerordentlichen Verdichtung der Kommunikation auf allen Ebenen geführt haben, verbunden mit einer Beschleunigung und zeitlichen Verkürzung bis hin zur elektronischen Verbindung in Echtzeit - und dies zu erschwinglichen Kosten.
Linear angelegte Meistererzählungen sollten nicht unbedingt das Ziel wissenschaftlich fundierter Gesamtdarstellung sein; vielmehr wäre eine Geschichte gegenläufiger Bewegungen, dialektischer Widersprüche und vielfacher Interaktionen, ein Europa des Nebeneinanders und des Pluralismus, von freiwilligen oder erzwungenen Einheitsbestrebungen und ihren Gegenkräften wohl lohnender - und auch angemessener.