Einleitung*
Mit der Wiedervereinigung. von 1990 hat sich auch die Perspektive auf die deutsche Nachkriegsgeschichte grundlegend gewandelt. Denn die deutsche Frage war nicht, wie viele angenommen hatten, durch die Teilung endgültig beantwortet. 1989/90 zeigte sich vielmehr, dass die deutsche Frage in den vergangenen Jahrzehnten nur auf Eis gelegt war. Als das Eis schmolz, gelangte sie wieder ans Licht der Öffentlichkeit. Zwar wurde die Wiedervereinigung erst durch die internationale Politik ermöglicht; doch wäre es wohl bei der Teilung geblieben, hätte die Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht stürmisch nach der Einheit verlangt und wäre die Wiedervereinigung in der westdeutschen Öffentlichkeit nicht "ein latentes Thema geblieben". Diese Beobachtungen zum Entscheidungsjahr 1989/90 veranlassen Zeithistoriker seither zu einer verstärkten Suche nach den verbindenden Elementen einer seit Beginn des Kalten Krieges prima facie getrennt verlaufenen Entwicklung. Dabei besteht freilich "die Gefahr einer nationalstaatlich ideologisierten gesamtdeutschen Geschichtsinterpretation". Um dies zu vermeiden, ist sowohl das Trennende als auch das Verbindende der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte nach 1945 zu analysieren. Dabei wäre das "Spannungsverhältnis zwischen der Verflechtung beider Teilstaaten (...) und einer bewußt oder unbewußt betriebenen oder gewünschten Abgrenzung" in den Mittelpunkt zu rücken.
Dieser Ansatz, den Christoph Kleßmann bereits 1993 propagiert hat, wird als "asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte" bezeichnet. Es handelt sich indes um eine nicht ganz zutreffende Zusammenfassung seiner Darlegungen, weil dabei die Tatsache zu kurz kommt, dass das Trennende in der fünfundvierzigjährigen Geschichte der Teilung alles in allem überwog. Alle drei Aspekte der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 - Trennung und Abgrenzung, Parallelitäten, Beziehungen und Verflechtungen - müssen indes in einer Gesamtdarstellung in dem Maße zum Tragen kommen, wie es deren Verlauf auch angemessen ist. Des Weiteren sollte nicht übersehen werden, dass eine solche Perspektive nicht die einzig mögliche auf die deutsche Geschichte in dieser Zeit ist. Daher seien den Darlegungen zum Stand einer Nachkriegsgeschichte, die das geteilte Deutschland mit seinen Gegensätzen und Verbindungen in den Blick nimmt, drei Bemerkungen vorangestellt. 1. Die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Zweistaatlichkeit darf nicht unter Verweis auf (tages-)politische Forderungen erfolgen. So ist es unzulässig, einen "neue(n) Anlauf zu einer integrierten Nachkriegsgeschichte" deshalb für notwendig zu erklären, "weil von seinem Gelingen Fortschritte der inneren Einheit sowie Fähigkeiten zur Zusammenarbeit in Europa abhängen". Auch das Verlangen von "Schulen, politische(r) Bildung und Öffentlichkeit (...) nach einer plausiblen Geschichte des eigenen Landes, der erweiterten Bundesrepublik" kann eine wissenschaftliche Rechtfertigung für ein solches Unterfangen nicht ersetzen. Im ersten Fall würde die Geschichte zur Magd der Politik degradiert; im zweiten bliebe ihr lediglich eine Zulieferfunktion für Bildungseinrichtungen. Vorrang gebührt der wissenschaftlichen Erkenntnis, die sich in ihren Fragen zwar von der Gegenwart anregen lässt, die aber ihre Ziele und Methoden autonom bestimmt. Nur dann kann zeitgeschichtliche Forschung ihrer "Servicefunktion" für andere Bereiche, die eher vermittelnd als ermittelnd tätig sind, gerecht werden; nur dann kann Zeitgeschichte Geschichtslegenden "kalt und entschieden (...) entlarven". 2. Die wissenschaftliche Forschung sollte sich davor hüten, im Lichte der Erfahrungen von 1989/90 in einen neuen Dogmatismus zu verfallen. Die deutsche Nachkriegsgeschichte kann auch weiterhin als Geschichte von zwei Staaten und Gesellschaften erzählt werden, die sich auf getrennten Wegen entwickelten. Diese waren zwar in vielfacher, aber sicher nicht in jeder Hinsicht aufeinander bezogen. Eigenentwicklungen der Bundesrepublik wie der DDR in den Blick zu nehmen ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Das gilt vor allem für die Zeit nach 1961, als die DDR sich hermetisch abriegelte und die wechselseitigen Einflüsse, vor allem jene in ost-westlicher Richtung, abnahmen. Mit Blick auf die Bundesrepublik ist in diesem Zusammenhang zu Recht hervorgehoben worden, dass ihre Geschichte, anders als die der DDR, 1989/90 eben nicht zu Ende ging. Gewiss steht die "neue" Bundesrepublik vor neuen Problemen und Herausforderungen, die zum Teil aus der Wiedervereinigung resultieren. In ihren Strukturen indes ruht sie auf den Fundamenten, die in der "alten" Bundesrepublik errichtet wurden. Inwieweit diese auch das "neue", wieder vereinigte Deutschland zu tragen vermögen, ist noch eine ungelöste, in unserem Zusammenhang aber nicht interessierende Frage. 3. Neben der deutsch-deutschen Perspektive auf die Nachkriegsgeschichte bieten sich noch weitere Möglichkeiten an, diese Jahrzehnte deutscher Geschichte in übergeordnete Zusammenhänge einzuordnen. Ohne eine Berücksichtigung der internationalen Zusammenhänge bleibt die deutsche Teilung letztlich unverständlich. Bundesrepublik und DDR gehörten der westlichen beziehungsweise östlichen Hemisphäre an, was entsprechend unterschiedliche Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in beiden Staaten hatte. In engem Zusammenhang damit steht die im Zeichen der Osterweiterung der Europäischen Union viel beschworene europäische Zugangsweise. Dabei wird freilich gern übersehen, dass dieser Ansatz für die Bundesrepublik als eine der Signatarmächte aller westeuropäischen Zusammenschlüsse seit der Montanunion weitaus sinnvoller ist als für die DDR. Neben der politischen und wirtschaftlichen Einordnung der Bundesrepublik in die (west)europäischen Gemeinschaften geht es dabei auch um Fragen, die sich etwa auf gesellschaftliche oder kulturelle Austausch- und Angleichungsprozesse mit Westeuropa beziehen. Eine Geschichte der "Ostintegration" der DDR in den RGW oder in den Warschauer Pakt stellt zwar zweifellos ein Desiderat der Forschung dar. Diese darf indes nicht einfach mit der westeuropäischen Integration parallel gesetzt werden, da sich die Prozesse in Ost und West grundlegend unterschieden. Vorsicht ist auch angebracht, wenn die DDR, deren Signum ihre nicht nur nach Westen gerichtete Abschottung war, nun "zum idealen Forschungsfeld einer vielfältigen histoire croisée internationaler Verflechtungen, Kooperationen und Konkurrenzen" erklärt wird. Jedenfalls ist eine Einordnung der DDR in transnationale Zusammenhänge, die gesellschaftliche Austauschprozesse jenseits von Politik und Wirtschaft betreffen, weitaus schwieriger als im Fall der Bundesrepublik.
* Dieser Aufsatz hat von intensiven Diskussionen mit meinen Kollegen Henrik Bispinck, Dierk Hoffmann, Michael Schwartz, Peter Skyba und Matthias Uhl stark profitiert.
Parallelgeschichten und neuere Synthesen
Darstellungen, welche die Geschichte der DDR und der Bundesrepublik parallel betrachten, gibt es kaum. Im engeren Sinne sind es bisher nur zwei Werke, die sich diesen Ansatz zu Eigen machen. Es handelt sich zum einen um die 1982/88 erstmals erschienene, mehrfach wieder aufgelegte, zweibändige, die Jahre 1945 bis 1970 umfassende deutsche Geschichte von Christoph Kleßmann. Naturgemäß gelingt es im ersten Band, der das erste Nachkriegsjahrzehnt in den Blick nimmt, sehr viel besser als im zweiten, die wechselseitigen Einflüsse, die weiterhin bestehenden Hoffnungen auf Realisierung der deutschen Einheit und die dem entgegenstehende Eingliederung der beiden Teilstaaten in die jeweiligen Blöcke in einer Gesamtdarstellung zu integrieren. Wie Kleßmann selbst einräumt, ist es für die Jahre 1955 bis 1970 methodisch und darstellerisch ein schwieriges Problem, dem Anspruch "einer stärkeren Verklammerung beider Teilgeschichten, zumindest in der Gestalt einer weitgehend formalen Parallelisierung", gerecht zu werden. Denn Bundesrepublik und DDR entwickelten sich "weitgehend unabhängig voneinander und folgten eigenen außenpolitischen und gesellschaftlichen Imperativen". Dies wird auch in der Darstellung deutlich, in der, anders als im ersten Band, die parallelen Entwicklungen in West- und Ostdeutschland nacheinander abgehandelt werden, wenngleich an den relevanten Stellen immer wieder Bezug auf den jeweils anderen Staat genommen wird.
Sehr viel konsequenter als Kleßmann "parallelisiert" Peter Bender in essayistischer Manier die Geschichte beider Staaten. Davon ausgehend, dass Bundesrepublik und DDR aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft "vor gleichen Problemen und Aufgaben standen", verfolgt er das Ziel, "die beiden Stränge der deutschen Nachkriegsentwicklung so zu verknüpfen, dass westdeutsche Leser auch die ostdeutsche Geschichte und ostdeutsche Leser auch die westdeutsche Geschichte in den Blick bekommen". So anregend die Lektüre über weite Strecken auch ist, zeigen einzelne Passagen die bei einem solchen Verfahren bestehende Gefahr, dass fundamentale Unterschiede eingeebnet werden. Dies gilt etwa für die Abschnitte über Opposition gegen Adenauer und Ulbricht, die sich weniger in der Sache als in der Form unterschieden habe - "im Westen meist offen und im Osten hinter den fest verschlossenen Türen des Zentralkomitees".
Auch wenn neuere Synthesen meist nicht den ehrgeizigen Versuch unternehmen, die Geschichte der DDR mit der der Bundesrepublik zu parallelisieren oder zu verklammern, ist doch auffällig, dass viele dieser Darstellungen die DDR auf die eine oder andere Weise mit einbeziehen. Das geschieht freilich auf höchst unterschiedliche Weise, wie etwa die Werke von Gerhard A. Ritter, Peter Graf Kielmansegg und Heinrich August Winkler zeigen. Gerhard A. Ritter geht es in seinem erweiterten Essay "Über Deutschland" um den Ort der "alten" Bundesrepublik, der DDR und der "neuen" Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. Es handelt sich vor allem um einen Versuch, die Gegenwart aus der jüngsten Vergangenheit zu erklären. Im Mittelpunkt stehen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in beiden deutschen Staaten; gefragt wird vor allem nach Wandel und Beharrung, nach Kontinuitäten und Brüchen. Dieses Vorgehen bedingt, dass die Systemkonkurrenz zwischen Bundesrepublik und DDR zwar durchaus gesehen wird, aber nicht im Zentrum steht. Einen anderen Ansatz verfolgt Peter Graf Kielmansegg mit seiner "Geschichte des geteilten Deutschland". Darin bezeichnet er die Wege der Bundesrepublik und der DDR "als zwei konkurrierende Versuche, im unentrinnbaren Schatten der Katastrophe deutsche Geschichte neu beginnen zu lassen". Zwar verdeutlicht er, dass auch die diesbezüglichen Strategien der DDR nicht von vornherein aussichtslos waren; "Zukunftsfähigkeit", so das dezidierte Urteil Kielmanseggs, gewann indes letztlich nur die Bundesrepublik. Heinrich August Winkler schließlich interpretiert die deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung als "langen Weg nach Westen". In dieser Perspektive beschritten beide deutsche Staaten nach dem Untergang des deutschen Reiches - womit dessen antiwestlicher Sonderweg endete - noch einmal Sonderwege: die DDR einen (von der Parteidoktrin vorgegebenen) "internationalistischen" und die Bundesrepublik einen "postnationalen". Erst mit der Wiedervereinigung seien beide Sonderwege beendet worden, und Deutschland habe als "demokratischer, postklassischer Nationalstaat unter anderen" zu sich selbst und zugleich endgültig zum "Westen" gefunden.
Die Parallelgeschichten und die genannten Synthesen zeigen einerseits, dass die DDR als Teil der deutschen Geschichte nach 1945 durchaus ernst genommen wird. Zu kritisieren, dass der ostdeutschen Entwicklung in fast allen diesen Werken weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird als der westdeutschen, wäre möglich, aber letztlich verfehlt. Denn es geht den Autoren, wie dargelegt, nicht um eine gleichmäßige Behandlung, und ihre Arbeiten sind an den von ihnen selbst gesetzten Zielen zu messen. Andererseits lässt sich festhalten, dass eine deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die der getrennten Entwicklung beider Teilstaaten ebenso gerecht wird wie den weiterhin bestehenden Verbindungen und Beziehungen, die ihre Bezogenheit aufeinander ebenso integriert wie ihre Abgrenzung voneinander, bisher noch aussteht. Dabei handelt es sich zum einen um ein konzeptionelles Problem; zum anderen liegt die Schwierigkeit darin, dass trotz des Booms der DDR-Forschung seit der Wiedervereinigung die Forschungslage zu den einzelnen hier interessierenden Fragen höchst unterschiedlich ist.
Zur konzeptionellen Seite hat sich vor kurzem Konrad Jarausch geäußert. Da die gängigen Großerklärungen (etwa: Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Misserfolgsgeschichte der DDR) in diesem Zusammenhang versagen, plädiert er für eine "chronologisch sensible und inhaltlich plurale Sequenzperspektive", da nur so "die Komplexität kontrastierender Erfahrungen in Ost und West zu erfassen" sei. Abgesehen davon, dass ausschließlich individuelle oder kollektive Erfahrungen kein Maßstab für den Historiker sein dürfen, handelt es sich eher um einen Versuch, das Problem zu umgehen, statt es zu lösen. Wichtiger als solche Überlegungen ist es, zunächst den Stand der Forschung zu skizzieren und, davon ausgehend, Richtungen aufzuzeigen, welche die künftige Forschung nehmen sollte, um sich einer deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 nähern zu können.
Deutsch-deutsche Verbindungen und Beziehungen
Das spannende Thema der deutsch-deutschen Beziehungen im Sinne von Deutschlandpolitik, wechselseitigen Einwirkungsversuchen, institutionellen und persönlichen Kontakten wurde bereits vor der Wiedervereinigung unter den verschiedensten Aspekten bearbeitet. Es gehört sicher zu den Gebieten der Forschung, die nach 1990 mit am stärksten von den nun zugänglichen DDR-Archivalien profitiert haben. Im Unterschied zu den meisten DDR-Beständen in den inzwischen gesamtdeutschen Archiven gilt für die Akten bundesdeutscher Herkunft weiterhin eine dreißigjährige Sperrfrist. Die daraus entstandene, zu Recht beklagte "archivarische Asymmetrie" ist sicher ein Hindernis auf dem Weg zur Erforschung der westdeutschen Deutschlandpolitik in den letzten anderthalb Jahrzehnten vor 1990. Dennoch konnten auch für die bundesdeutsche Seite die Lücken teilweise geschlossen werden: sei es durch die Nutzung einschlägiger Nachlässe in Parteiarchiven, sei es durch die vorzeitige Freigabe wichtiger staatlicher Akten für größere Darstellungen oder Akteneditionen. Das Ergebnis der intensiven Beschäftigung mit diesem Material ist eine beachtliche Anzahl an wissenschaftlichen Arbeiten und Dokumenteneditionen, die sich vornehmlich mit den politischen Beziehungen und Kontakten sowie mit geheimdienstlichen und anderen Unterwanderungsversuchen (vor allem in Ost-West-Richtung) befassen.
Die Verbindungen zwischen den Deutschen in Ost und West blieben am lebendigsten in den Kirchen, die trotz staatlicher Spaltung mehr oder weniger an ihrer Zusammengehörigkeit festhielten, teilweise im Sport und im Zusammenhang mit der Abwanderung der Deutschen aus der DDR in die Bundesrepublik (der eine oft übersehene, allerdings sehr viel geringer dimensionierte Wanderungsbewegung in östlicher Richtung entsprach). Zu all diesen Themen liegen erste Überblicke und Spezialstudien vor. Selbst ein so diffiziles Thema wie der Freikauf von politischen Häftlingen aus der DDR wird inzwischen nicht nur von ehemaligen Beteiligten, sondern auch wissenschaftlich bearbeitet.
Dass die Alltagserfahrungen der Menschen mit der Teilung erst ansatzweise erforscht sind, liegt sicher an der schwierigen Quellenlage und an methodischen Problemen; unverständlich ist jedoch, warum zum innerdeutschen Handel außer einigen Überblicken und Spezialaufsätzen bisher erst eine einzige Monographie erschienen ist. Trotz eines insgesamt befriedigenden Forschungsstandes sind auf diesen Gebieten also noch weitere Studien wünschenswert. Zu nennen wären etwa die geheimdienstlichen Perzeptionen und Aktivitäten des Westens, für deren Erforschung sich die Quellenlage etwas gebessert hat, das weite Feld der innerdeutschen wirtschaftlich-finanziellen Beziehungen, aber auch Flucht und Übersiedlung aus der DDR nach 1961 und der Reise- und Besucherverkehr zwischen beiden Staaten.
Integrierende Perspektiven und Synthesekerne
Die beiden deutschen Staaten standen indes nicht nur in einem direkten Sinne in Kontakt miteinander. Sie mussten darüber hinaus mit Problemen umgehen, die aus der gemeinsamen jüngsten Geschichte resultierten. Unmittelbar nach 1945 standen die Entnazifizierung, die Integration der Vertriebenen aus den Ostgebieten, die Wiedergutmachung und die Zahlung von Reparationen in beiden Teilen Deutschlands auf der Tagesordnung. Darüber hinaus ging es - vor allem in den späteren Jahrzehnten - um Probleme, denen die Industriestaaten systemübergreifend ausgesetzt waren. Trotz aller Gegensätzlichkeit der Systeme gab es eine Reihe von Phänomenen, die aufgrund weltweiter Trends in beiden Staaten auftraten und deren vergleichende Untersuchung sich lohnt. Hans Günter Hockerts bezeichnet solche Phänomene als "integrierende Perspektiven oder Synthesekerne" für die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR. In dem von ihm herausgegebenen Sammelband "Koordinaten deutscher Geschichte in der Episode des Ost-West-Konflikts" werden einige solcher Perspektiven skizziert. Eine Untersuchung der deutsch-deutschen Geschichte unter diesem Blickwinkel hätte den Vorteil, dass sie, ausgehend von ähnlichen Phänomenen, vergleichend vorgehen könnte: Gemeinsamkeiten könnten ebenso herausgearbeitet werden wie Unterschiede und damit zu einem differenzierten Bild des Umgangs der Bundesrepublik wie der DDR mit Phänomenen, die beide Staaten betrafen, beitragen.
Doch welche "Synthesekerne" eignen sich besonders für eine solche Untersuchung? Wo versprechen tiefer gehende Bohrungen auch Hoffnungen auf Erkenntnisgewinn? Auch in dieser Hinsicht können einzelne Beiträge des von Hockerts herausgegebenen Bandes nützlich sein. Dort werden unter anderem Fragen nach der Bedeutung der Religion und des Bürgertums für beide Staaten gestellt. Dass die DDR in weitaus stärkerem Maße als die Bundesrepublik säkularisiert war, ist bekannt. Auch die Begründung, die dafür gegeben wurde, ist einleuchtend: Es war die Kombination einer mangelnden Verankerung von Religion und Kirche in einer eigenständigen Volkskultur mit einer fast durchgehend, über 60 Jahre hinweg praktizierten antikirchlichen Politik. Beides war für die Bundesrepublik so nicht gegeben. Ähnlich gelagert ist der Fall bei einer West- und Ostdeutschland vergleichenden Betrachtung von "Bürgertum": Während mit Blick auf die Bundesrepublik durchaus von einer bürgerlich geprägten Gesellschaft die Rede sein kann, gab es in der DDR Bürgertum allenfalls noch in einigen wenigen Residuen, die zudem keine größere Ausstrahlungskraft auf die Gesamtgesellschaft entfalten konnten.
Demgegenüber bildet die sozioökonomische Krise der Industriegesellschaft von Mitte der sechziger bis Ende der siebziger Jahre ein lohnendes Untersuchungsfeld. Denn beide Staaten waren von ihr betroffen, die Bundesrepublik etwas früher und die DDR etwas später. Zwar ist unübersehbar, dass die DDR, die vor allem auf eine Ausweitung der Kreditaufnahme im Westen und eine Fortschreibung der Subventionierung durch die Sowjetunion setzte, den Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft nicht bewältigt hat. Doch die Frage, wie in beiden deutschen Staaten die Krise wahrgenommen und nach welchen Bewältigungsstrategien gesucht wurde, könnte den Ausgangspunkt für eine weiterführende vergleichende Analyse bieten. Ähnliches gilt, wie ebenfalls bereits ansatzweise gezeigt, für die staatlichen Versuche, die negativen Folgen ökonomischer Krisen mittels Sozialpolitik abzubremsen oder abzufedern. Da Sozialpolitik für die DDR trotz der propagierten Überwindung des kapitalistischen Systems weiterhin notwendig blieb, lassen sich DDR und Bundesrepublik auch als Sozialstaaten unterschiedlicher Prägung mit Gewinn miteinander vergleichen. Auch das Paradigma der "Wissensgesellschaft" könnte komparativen Studien zugrunde gelegt werden. Denn Verwissenschaftlichungsprozesse, die etwa im Gesellschaftssystem, in der Wirtschaft, in der Politik undin der Wissenschaftsorganisation sichtbar wurden, lassen sich für West- und Ostdeutschland gleichermaßen beobachten. Wissenschaft und moderne Technologien sollten den wirtschaftlichen Fortschritt ebenso sicherstellen wie das militärische und politische Überleben in der bipolaren Welt des Kalten Krieges. Die Gründung von Großforschungseinrichtungen in den Bereichen Anwendung und Technologie, eine bis dahin ungekannte Ausweitung des Bildungswesens und die verstärkte Beratung der Politik durch wissenschaftliche Experten waren in den sechziger und frühen siebziger Jahren kennzeichnend für beide deutsche Staaten.
Jenseits der von Hockerts angeregten und zusammengeführten Forschungen sind weitere Gebiete für einen solchen systematischen Vergleich denkbar. Zu nennen wären Forschungsgegenstände wie Umweltgeschichte - einschließlich der Geschichte der Umweltpolitik -, die zunehmende Individualisierung der Lebensstile oder auch kulturgeschichtliche Themen wie die Produktkommunikation in Ost und West. Für deren Auswahl ist entscheidend, dass sich eine gemeinsame, vergleichende Fragestellung mit Gewinn verfolgen lässt.
Wechselseitige Perzeptionen und ihre Wirkungen
Eine andere weiterführende Möglichkeit, die deutsch-deutsche Geschichte nach 1945 zu behandeln, besteht darin, den Perzeptionen des jeweils anderen Staates und deren Wirkungen systematischer nachzugehen, als dies bisher geschehen ist. Dieser Ansatz begreift die beiden deutschen Staaten als Konkurrenten, die einander nie aus den Augen ließen, sich voneinander sichtbar abgrenzten, in der Konkurrenz aber stets aufeinander bezogen blieben. Dass vor dem Hintergrund "der Gegensätzlichkeit und engen Aufeinanderbezogenheit der beiden Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden" die Nation in einer "dialektischen Einheit" verbunden war, sollte indes nicht leichtfertig behauptet werden, bevor dies nicht durch entsprechende Forschungen erhärtet worden ist.
Indizien für eine solche "Verflechtung in der Abgrenzung" (Kleßmann) sind vorhanden. Am deutlichsten ist dieser Zusammenhang in der Außenpolitik der beiden Staaten in den fünfziger und sechziger Jahren erkennbar. Dem Alleinvertretungsanspruch Bonns, der 1955 in die Form der Hallstein-Doktrin gegossen wurde, stand das Streben Ost-Berlins nach Anerkennung gegenüber: Während die Bundesrepublik im Sinne der Hallstein-Doktrin die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen von Drittstaaten mit der DDR verhindern wollte, suchte Letztere krampfhaft nach Mitteln und Wegen, um ihre internationale Isolation aufzubrechen. Auch die Bestrafung von NS-Verbrechen einschließlich des gesamten Komplexes "Vergangenheitsbewältigung und Justiz" war ein wesentlicher Bestandteil der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. Die DDR suchte ihren "Antifaschismus" durch propagandistische Kampagnen gegen "NS-Blutrichter" in Diensten der Bundesrepublik, durch Schauprozesse gegen prominente und umstrittene westdeutsche Politiker wie Theodor Oberländer und Hans Globke und durch harte Strafen in NS-Verfahren zu untermauern. All dies traf in der Bundesrepublik seit Ende der fünfziger Jahre auf einen sich wandelnden Zeitgeist im Hinblick auf die NS-Vergangenheit, löste aber auch regierungsinterne Kontroversen aus. Der DDR ging es weiterhin nicht um eine möglichst systematische Strafverfolgung gegen NS-Täter, sondern darum, die Bundesrepublik zu diskreditieren oder einen Ansehensverlust der DDR zu vermeiden. NS-Prozesse wurden daher oft mit Blick auf den größtmöglichen operativen Nutzen in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz geführt. Als letztes Beispiel sei auf Überlegungen in der SED-Führung 1956 verwiesen, eine Rentenreform in der DDR durchzuführen, der zufolge die Renten stärker an Löhne und Gehälter gekoppelt werden sollten. Daraus wurde zwar nichts; die Diskussion zeigt indes, dass die westdeutsche Rentendebatte, die zur Rentenreform von 1957 führen sollte, sich auch auf die DDR auswirkte.
Trotz dieser Indizien, denen sich noch weitere hinzufügen ließen, sind die gegenseitigen Perzeptionen von politischen Entscheidungen, Programmen und politischen Ideen sowie von verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Prozessen noch nicht systematisch erforscht. Das gilt auch für die Frage, ob und wie sich diese Perzeptionen auf den verschiedenen Politikfeldern und in den gesellschaftlichen Subsystemen beider Staaten ausgewirkt haben. Das Spektrum reicht von intentionaler Kopie über die Einschränkung von Handlungsoptionen durch den jeweils anderen bis zu bewusster Abgrenzung bzw. gezielter Ausblendung oder Nichtwahrnehmung. Dazu ist ein Projekt am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin mit dem Arbeitstitel "Das doppelte Deutschland. Die Perzeption des Anderen und ihre Wirkungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte" in Vorbereitung.
Ziel ist es nicht, die deutschen Nachkriegsentwicklungen primär aus einer Aufeinanderbezogenheit beider Staaten zu erklären; es geht vielmehr um die Bestimmung der aus der deutsch-deutschen Sondersituation resultierenden Faktoren, die Einfluss auf die jeweilige Entwicklung hatten. Da ein analytischer Zugriff auf diesen Bereich der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte als Ganzes kaum möglich ist, soll in etwa 15 bis 20 thematischen Längsschnitten die ost- und die westdeutsche Entwicklung unter der skizzierten Fragestellung und aufeinander bezogen untersucht werden. Im Zentrum stehen unterschiedliche Politikfelder sowie gesellschaftliche und kulturelle Prozesse, die Aufschlüsse über den Grad der Verflechtung bzw. gegenseitigen Abstoßung versprechen.
Dass diese Bemühungen zu einer neuen "Meistererzählung" der deutschen Geschichte nach 1945 führen, ist angesichts der zahlreichen, oft kaum miteinander kompatiblen Zugänge zu diesem Teil der Zeitgeschichte wenig wahrscheinlich. Gleichwohl sind sie notwendig, um der deutsch-deutschen Vergangenheit in ihrer Komplexität Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das wieder vereinigte Deutschland benötigt kein einheitliches Geschichtsbild, sondern eines, in dem die getrennten Wege ebenso ihren Platz haben wie die verbindenden Elemente der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte.