Einleitung
Deutlicher als jemals zuvor in der über 50-jährigen Geschichte der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Staaten Afrikas südlich der Sahara haben sich in den letzten fünf Jahren eine Vielzahl substanzieller gemeinsamer Interessen ausgeprägt. Zwar teilten die Bundesregierungen und ihre Gegenüber in Afrika auch schon in den Dekaden zuvor ein Mindestmaß an entwicklungs- oder friedenspolitischer Rhetorik, nie zuvor allerdings waren sich beide Seiten im Hinblick auf Problemwahrnehmungen und notwendige Handlungsstrategien so einig wie zu Beginn dieses Millenniums - und dies nicht nur auf der Ebene allgemeiner entwicklungspolitischer Lyrik, sondern in sehr viel weiter reichenden, auch unmittelbar handlungsrelevanten Fragen.
Dieser Interessenkonsens schlägt sich in der gemeinsamen Unterstützung der Millennium Development Goals (MDG) der Vereinten Nationen sowie der New Partnership for Africa's Development (NEPAD) der Afrikanischen Union nieder.
Der neue afrikapolitische Konsens
Den Millennium Development Goals und NEPAD gemeinsam ist der Versuch, globale Entwicklungsziele zu definieren und eine gemeinsame Lösungsstrategie für die Länder des Nordens und des Südens zu entwerfen. Mit der Annahme der MDG haben sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im September 2000 darauf verständigt, die extreme Armut und den Hunger weltweit bis zum Jahr 2015 zu halbieren (gemessen an den Zahlen von 1990). Für Afrika hieße dies unter anderem, die Zahl derer, die ihr Leben mit weniger als einem US-Dollar am Tag bestreiten müssen, von 227 Mio. (1990) auf 113,5 Mio. (2015) zu reduzieren. (Aktuell beläuft sich diese Zahl allerdings auf 316 Mio.)
NEPAD bekräftigt diese Ziele, formuliert weiter gehende Entwicklungsvisionen und bietet dem Norden darüber hinaus einen konkreten Entwicklungspakt an. Ausgehend von einer Initiative der Präsidenten Südafrikas, Nigerias und Algeriens, haben sich die Staaten Afrikas im Juli 2001 auf einen Kanon von Politikzielen verständigt - Armutsreduzierung, nachhaltiges Wachstum, Integration Afrikas in die Globalisierung, Stärkung der Rechte von Frauen - und sich auf eine Reihe von Prinzipien geeinigt, deren wichtigste gute Regierungsführung, afrikanische ownership, Partizipation der Bevölkerung und regionale wie internationale Partnerschaften sind. Im Gegenzug für die Selbstverpflichtung auf diese Prinzipien und die gegenseitige, zunächst freiwillige Kontrolle ihrer Einhaltung (peer review) versprechen sich die Befürworter von NEPAD einen verstetigten Ressourcentransfer aus dem Norden, langfristig in Form von ausländischen Direktinvestitionen, kurzfristig zu einem großen Anteil noch in Form von Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Um die weitgesteckten, im Wesentlichen mit den MDG korrespondierenden Entwicklungsziele des NEPAD-Programms erreichen zu können, muss sich über einen Zeitraum von 15 Jahren, also bis 2015, ein jährliches Wirtschaftswachstum von sieben Prozent einstellen, sollen über die bereits erweiterte Initiative zugunsten der hoch verschuldeten Entwicklungsländer (HIPC 2) hinaus weitere Schuldenerlasse erfolgen, und schließlich muss ein jährlicher Mittelzufluss in Höhe von 64 Mrd. US-Dollar (bzw. zwölf Prozent des afrikanischen Bruttoinlandsprodukts) gesichert werden.
Obgleich NEPAD in den politischen Apparaten Deutschlands durchaus auch auf Kritik gestoßen ist, hat sich die Bundesregierung - insbesondere das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Gestalt seiner Staatssekretärin und persönlichen G-8-Afrikabeauftragen des Bundeskanzlers, Uschi Eid (B90/Die Grünen) - dieses Programm von Anbeginn an zu Eigen gemacht. Tatsächlich haben die MDG, und mehr noch NEPAD, der afrikapolitischen Diskussion in Deutschland neue Impulse verliehen, einen überparteilichen Orientierungsrahmen geschaffen und somit zu einer Renaissance der deutschen Afrikapolitik beigetragen. Die Bundesregierung hat ihre Hilfe unter anderem in Form des "Aktionsprogramm 2015", der regionalen Afrikakonzepte des Auswärtigen Amtes bzw. des BMZ sowie der Mitarbeit am Afrika-Aktionsplans der Gruppe der sieben großen demokratischen Industriestaaten plus Russland (G 8) zum Ausdruck gebracht.
Dies ist zunächst einmal Ausdruck einer gemeinsamen Problemwahrnehmung hinsichtlich der wichtigsten Herausforderungen, mit denen sich die Staaten Afrikas konfrontiert sehen - Armut, Hunger, gewaltsame Konflikte, ökonomische Marginalisierung, HIV/Aids, Umweltprobleme unter anderem in den Bereichen abnehmender Biodiversität, Versteppung und Verwüstung, Wassermangel usw. Dies gilt aber insbesondere auch im Hinblick auf die geeigneten Strategien, mit denen Afrika diesen Herausforderungen begegnen soll. Beide Seiten teilen die Sicht, dass es zunächst einmal Aufgabe der afrikanischen Staaten selbst - und nicht der internationalen Politik - sei, diese Herausforderungen anzunehmen. Eines der Leitmotive von NEPAD lautet daher African ownership. Zweitens wird der Art und Weise der Herrschaftsausübung eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der Agenda zugeschrieben: Good Governance ist das entsprechende Schlagwort, mit dem "gute Regierungsführung" - gemeint ist: demokratische Praxis, Gewährleistung der Menschenrechte und breite Partizipation der Bevölkerung - eingefordert wird. Drittens wird, in Abgrenzung zur bisherigen Praxis der neopatrimonialen Rentenökonomien,
Wandel in der deutschen Afrikapolitik
Wie ist diese Entwicklung nun vor dem Hintergrund der bisherigen deutschen Afrikapolitik einzuordnen? Die gemeinsame politische Linie, die zwischen Deutschland und den Staaten Afrikas erkennbar wird, ist zunächst einmal Spiegel eines veränderten Interessenbegriffs in der deutschen Außenpolitik insgesamt, damit auch in der Afrikapolitik. Spätestens seit den siebziger Jahren wird deutsche Afrikapolitik als relativ frei von "harten" nationalen Interessen wahrgenommen. Die deutschlandpolitische Instrumentalisierung auch der Afrikapolitik war durch die Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen im September 1973 nicht endgültig obsolet geworden.
Seit Mitte der siebziger Jahre hat die Bundesrepublik auch auf dem Gebiet der Afrikapolitik vielmehr ein Rollenverständnis entwickelt, das als Zivilmachtkonzept beschrieben worden ist, im Sinne einer außenpolitischen Kultur, die durch den partiellen Souveränitätstransfer auf arbeitsteilige Organisationen der internationalen Politik, die Beteiligung an Regimebildung, einen Trend zur Verrechtlichung und die Erweiterung institutionalisierter Kooperation, ferner durch die Verflechtung von Interessen und universellen Werten sowie die Ausbildung spezifischer Handlungsmuster geprägt ist.
Mit dem Amtsantritt der rot-grünen Koalition im Herbst 1998 veränderten sich die Eckwerte deutscher Afrikapolitik zunächst kaum. Afrika blieb marginalisiert. Das Handelsvolumen stagnierte auf niedrigem Niveau, und die Summe der privaten Direktinvestitionen in Afrika blieb gering. Der Abwärtstrend beim Volumen der Entwicklungszusammenarbeit, dem traditionell wichtigsten Instrument deutscher Afrikapolitik, setzte sich erst einmal fort: Wurde 1990 noch 0,42 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) für öffentliche Entwicklungshilfeleistungen (ODA) aufgebracht, so war dies 1998 und 1999 jeweils nur noch 0,26 Prozent.
In einer Grundsatzrede zur Afrikapolitik unterstrich Außenminister Joschka Fischer im März 2000 in Johannesburg, dass deutsche Afrikapolitik in erster Linie die Förderung der jungen Demokratien in Afrika zum Ziel habe. Sie begreife Rechtssicherheit und den Schutz der Menschenrechte als Grundvoraussetzung für die Herstellung bzw. den Erhalt von Frieden und Sicherheit sowie wirtschaftlichen Wohlstand.
In der Entwicklungszusammenarbeit brach die Bundesregierung im Mai 2000 mit dem in der Vergangenheit gepflegten "Gießkannenprinzip", d.h. der Vergabe von Entwicklungshilfe an möglichst viele Staaten in Afrika (diese Politik hatte ihren historischen Ursprung in dem Bemühen, die internationale Anerkennung der DDR zu verhindern). Um die Effizienz dieses wichtigen Instruments zu steigern, reduzierte die Bundesregierung die Zahl der Empfängerländer und konzentrierte in diesen Staaten auch die Zahl der Entwicklungshilfeprojekte. Ursprünglich 16 afrikanische Staaten wurden zu "Schwerpunktländern" erklärt, in denen sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit künftig auf drei Sektoren (wie z.B. Dezentralisierung, Bildungs- oder Gesundheitswesen) konzentrieren wollte. Neun weitere Staaten wurden in den Rang von "Partnerländern" erhoben, in denen künftig jeweils nur noch ein Schwerpunktsektor gefördert werden sollte. Im Ergebnis verblieben von 48 Staaten Afrikas südlich der Sahara nur noch 22 als Partner der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
Auch die deutsche Afrikapolitik blieb von den Folgen des 11. September 2001 nicht ausgenommen. Die Vertreter deutscher Afrikapolitik fanden im politischen Raum nun wieder mehr Gehör und konnten ihre Rhetorik in stärkerem Maße auch mit finanziellen Mitteln unterlegen. Auch wenn sie den systematischen Nachweis einer Kausalbeziehung zwischen Armuts- und Terrorismusbekämpfung schuldig blieben, half die wiederholte Behauptung eines solchen Zusammenhanges auch in Deutschland, z.B. den rückläufigen ODA-Trend umzukehren. Der ODA-Anteil am BSP stieg 2000 leicht auf 0,27 Prozent und wurde seitdem auf diesem Niveau stabilisiert. Im Rahmen der EU-Beschlüsse zum UN-Entwicklungsgipfel von Monterrey (Mexiko) im März 2002 willigte die Bundesregierung ein, den ODA-Anteil am BSP bis zum Jahr 2006 auf mindestens 0,33 Prozent zu erhöhen. Die Forderung nach einem neuen Entwicklungspakt - wie ihn NEPAD darstellte - galt deutschen Politikern nunmehr als eine sinnvolle Antwort auf den Terror.
In der Folge der neuen politischen Rhetorik nach dem 11. September wurde nun auch die Afrikapolitik stärker zur Arena ursprünglich anderen geographischen Räumen vorbehaltener Politikinstrumente, so etwa der Militärpolitik. Im Rahmen des US-geführten "Anti-Terror"-Einsatzes Enduring Freedom, nahm die Bundesmarine ab 2002 mit dem größten Einsatz seit ihrem Bestehen am Horn von Afrika eine Schlüsselstellung bei der Sicherung und Kontrolle der Seewege ein. Sie operierte, teilweise als Inhaber der alliierten Kommandogewalt, mit zwischenzeitlich bis zu 1 470 Mann und drei Fregatten sowie Marinefliegern von Basen in Djibouti und Kenia aus.
Zu den von der Bundesregierung im Rahmen von NEPAD und G-8-Aktionsplan geförderten Grundstrukturen der neuen afrikanischen Sicherheitsarchitektur zählen die multinationale, Teilstreitkräfte übergreifende afrikanische Eingreiftruppe, die bis zum Jahr 2010 aufgebaut werden soll, sowie technische Hilfe auf der Ebene der Afrikanischen Union (AU) und der Regionalorganisationen (wie z.B. das Kofi Annan International Peace Training Centre in Ghana, das Peace Support Training Centre in Kenya oder der Konfliktbewältigungsmechanismus der AU).
Afrikapolitische Konvergenz und hegemoniales Entwicklungsmodell
Zur Mitte der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung kann für die deutsche Afrikapolitik also tatsächlich von einer erheblichen Interessenkongruenz zwischen Deutschland und den Staaten Afrikas gesprochen werden, die bis in die Ausgestaltung bestimmter Politikfelder reicht. Wie ist die Entstehung gemeinsamer Interessen zu erklären?
Die Ausbildung gemeinsamer Interessen zwischen Deutschland und Afrika folgt einem globalen Trend, der durch nationale Besonderheiten akzentuiert wird. Der allgemeine Trend kann als die Hegemonie eines neoliberalen Entwicklungsmodells begriffen werden, die sich in den neunziger Jahren herausgebildet hat.
Auf den ersten Blick mag es also so erscheinen, als habe Deutschland die politischen Forderungen Afrikas in einer neuen Art und Weise aufgegriffen. Bei genauerer Betrachtung jedoch muss in Rechnung gestellt werden, dass die afrikanischen Staaten, allen voran Präsident Thabo Mbeki aus Südafrika, ein Mantra wiederholen, dass genau jenen hegemonialen neoliberalen Diskurs widerspiegelt, der gerade nicht in Afrika entstanden ist. Der neue afrikapolitische Konsens trägt zwar ein afrikanisches Gewand - er kommt aber nicht aus Afrika. So wie NEPAD ist er Ausdruck des hegemonialen Entwicklungsdiskurses des Nordens, dem einige Eliten Afrikas aus Einsicht, Überzeugung oder mangels Alternativen ihre Zustimmung gegeben haben.
Überdies ist ein zweites Moment zu berücksichtigen, wenn es gilt, die Leichtigkeit zu erklären, mit der NEPAD im politischen Berlin Unterstützung gefunden hat. NEPAD wurde den Staats- und Regierungschefs der G 8 in einer historischen Situation präsentiert, nämlich auf dem G-8-Gipfel in Genua (Italien) im Sommer 2001, als neue soziale Bewegungen in den Metropolen der G 7 gegen Zustände aufbegehrten, die als Ergebnis vonGlobalisierungsprozessen wahrgenommen wurden (und für die den Regierenden der G-7-Staaten auch direkte Verantwortung zugeschrieben wurde). Aus Sicht der G 7 bestand somit durchaus die Gefahr, dass sich -zumindest in Europa - eine in der Bevölkerung breite Unterstützung findende regierungskritische Allianz formierte. Gerade in Deutschland zählen die Sympathisanten eines wie auch immer definierten Anti-Globalisierungsdiskurses potenziell aber zum Wählerreservoir der rot-grünen Regierung. Eine engagierte Unterstützung von NEPAD bedeutete in dieser Situation also, der drohenden dark side of globalisation
Vor diesem Hintergrund relativiert sich der Stellenwert deutscher Afrikapolitik als Regionalpolitik. Im Endeffekt scheint die afrikapolitische Interessenkonvergenz weniger eine Frage originärer Afrikapolitik im Sinne einer distinkten Regionalpolitik zu sein als vielmehr eine der internationalen Politik insgesamt. Esgeht um eine grundsätzliche Verortung Deutschlands zu Schlüsselfragen des Verhältnisses zwischen den Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Afrikapolitik ist lediglich ein regionales Politikfeld, in dem sich dies auf besondere Weise niederschlägt. Eine Beantwortung der Frage, wie belastbar die gemeinsamen Interessen tatsächlich sind, wenn hinter der Zivilmacht-Prägung deutscher Außenpolitik einmal konkrete Eigeninteressen hervorschauen, steht noch aus.