Einleitung
Beinahe 60 Jahre nach Kriegsende hat die Vergangenheit in den deutsch-polnischen Beziehungen eine Besorgnis erregende Aktualität erlangt. Zum unübersehbaren Ausdruck dessen wurde die Resolution vom 10.September 2004, in der das polnische Parlament die Regierung aufforderte, Gesprächeüber Reparationszahlungen mit der Bundesrepublik aufzunehmen. Diese Resolution war eine Antwort des Parlaments auf angekündigten Klagen deutscher Vertriebener und Spätaussiedler auf Rückübertragung von Eigentum, die in Polen seit der Gründung der Vertriebeneninitiative "Preußische Treuhand" befürchtet werden.
Die strukturelle Vertrauenskrise zwischen Berlin und Warschau lässt sich weder als vorübergehend beschönigen noch mit dem gewohnten Hinweis auf die Wahrnehmungsasymmetrie zwischen Deutschen und Polen erklären. Vielmehr ist es angebracht, die Formen, Verschränkungen und Defizite der deutschen und polnischen Erinnerungskultur, ihre soziale Prägekraft und Wirkung auf die politische Kultur beider Länder näher zu betrachten.
In der deutschen und polnischen Erinnerungslandschaft gibt es einen hervorgehobenen Zeitraum, auf den die private wie öffentliche Erinnerung seit Jahrzehnten ausgerichtet ist: den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Polen wie Deutschen geht es seit Ende des Krieges darum, das "Dritte Reich" und den Zweiten Weltkrieg in die je eigene nationale Geschichtserzählung zu integrieren.
In der Bundesrepublik der Ära Adenauer blendete man die unbequeme Vergangenheit aus, indem das "Dritte Reich" als die von wenigen ausgeübte "Gewaltherrschaft" bezeichnet und die Bevölkerung auf diese Weise entlastet wurde. Erklärungsmuster wie "Befehlsnotstand" oder das Selbstbild als Opfer des Nationalsozialismus und der Kriegsfolgen waren feste Bestandteile einer vergemeinschafteten Erinnerung, die selektiv war und Verantwortung für die NS-Zeit ausschloss. Die junge Bundesrepublik versuchte, das Zuviel an erlebter Geschichte abzuschütteln, ohne das staatsrechtliche Erbe des "Dritten Reiches" zu bestreiten, das die Basis für ihren Alleinvertretungsanspruch darstellte.
An jener Lesart der NS-Vergangenheit änderten die Vorwürfe der 68er-Bewegung zunächst wenig. Die kritischen Fragen nach personellen und strukturellen Kontinuitäten mündeten rasch in einer generellen moralischen Verurteilung der Vätergeneration, welche eine wahrhaftige Auseinandersetzung eher blockierte. In der öffentlichen Betrachtung traten die Opfer der Deutschen und die deutschen Opfer in ein Konkurrenzverhältnis. Wer Letztere auch nur erwähnte, wurde verdächtigt, deutsche Schuld zu relativieren. Geschichtspolitisch blieben die späten sechziger und siebziger Jahre jedoch nicht folgenlos. Die Frage, ob die Bundesrepublik sich als Staatsnation konstituieren und damit ihren im Grundgesetz verankerten Provisoriumsvorbehalt preisgeben solle, beschäftigte die Intellektuellen und Politiker der Bundesrepublik gleichermaßen. Willy Brandts Diktum vom Oktober 1969, "Zwei Staaten, eine Nation", ermöglichte Bonn, mit Ost-Berlin vertraglich geordnete Beziehungen aufzunehmen und räumte dem Zusammenhalt der Deutschen als Nation den Vorrang vor dem Streben nach der Wiederherstellung eines Nationalstaates ein.
In der DDR bildete die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit das Fundament des von der SED propagierten staatlichen Selbstverständnisses. Die "antifaschistische Tradition" taugte zu der nicht gänzlich erfolglosen propagandistischen Negativkontrastierung der Bundesrepublik. Die DDR-Bevölkerung richtete sich in einer behaglichen Lebenslüge ein, die der Schriftsteller und Überlebende des Ghettos von Lódz', Jurek Becker, treffend beschrieb: Die DDR "erfand sich eine Geschichte, die nie stattgefunden hatte - ihre Ahnherren seien die deutschen Antifaschisten. (...) Faschismus hatte nichts mit uns, den DDR-Menschen, zu tun, auf wunderbare Weise hatten wir uns der Tatsachen entledigt. Filme über die Nazizeit waren immer Filme über den antifaschistischen Widerstand; der Schulunterricht über die Nazizeit war kein Unterricht über unsere jüngste Geschichte, er handelte stets von den Untaten dieser schrecklichen Aliens, die wir, die Antifaschisten, mit etwas Unterstützung durch die Rote Armee, besiegt hatten."
Der Zweite Weltkrieg hat im polnischen kollektiven Gedächtnis einen besonderen Rang. Er markiert das Ende der von der Demokratie zur Autokratie mutierenden II. polnischen Republik. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 bildete sich ein polnischer "Untergrundstaat", der auf der "richtigen" Seite für die Befreiung kämpfte. Ein Kampf, der bitter enttäuscht wurde, da er unter dem Diktat Stalins zum Ausgangspunkt der 45 Jahre währenden diktatorischen Volksrepublik Polen geriet. Die II. Republik war nicht im Herbst 1939, sondern erst im Herbst 1944 untergegangen - nach der "doppelten" Niederlage des Warschauer Aufstands, als die letzte Hoffnung auf eine Wiederherstellung des ehemaligen Staates zunichte gemacht wurde. Nicht zuletzt deshalb kommt diesem Ereignis im kollektiven Gedächtnis der Polen und in deren Identität eine Schlüsselstellung zu - ein Ereignis, mit dem in Deutschland allzu wenige etwas anzufangen wissen und das oft mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto ein Jahr zuvor verwechselt wird.
Beim Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und den Warschauer Aufstand konkurrierten bis 1989 zweierlei Erinnerungen - die private und die offizielle: hier die ehemaligen Soldaten der Heimatarmee (AK), eines Organs der Londoner Exilregierung, mit ihren kollektiven Erfahrungen, dort die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) mit ihrem Anspruch auf das Interpretationsmonopol der Geschichte. Erst mit dem "Tauwetter" rang sich die Partei dazu durch, das individuelle Heldentum von Soldaten und Zivilisten des Warschauer Aufstands anzuerkennen, verzichtete aber weiterhin nicht darauf, die politisch Verantwortlichen zu verurteilen. Der Warschauer Aufstand blieb bis 1989 mit dem Tabu belegt, die unterlassene Hilfe durch Stalins Rote Armee für die Warschauer Aufständischen zu thematisieren. Polens inoffizielle Gegenöffentlichkeit tat seit Mitte der siebziger Jahren genau das, nährte auf diese Weise nicht nur das kollektive Gedächtnis, sondern untergrub erfolgreich die sowjetische Hegemonie als das Fundament kommunistischer Parteiherrschaft in Polen.
Das Gedächtnis der Polen war unmittelbar nach dem Krieg erfüllt von dem Übermaß an Leid, das ihnen von NS-Deutschland zugefügt wurde und das nach Kompensation, nicht selten auch nach Rache verlangte. Das Selbstbild und die Sichtweise des Opfers, obgleich Polen offiziell zu den Kriegssiegern zählte, wurde durch die demütigenden Erfahrungen sowjetischer Hegemonie verstärkt und machte unempfindlich für fremdes Leid, zumal, wenn es sich um Deutsche handelte. Der Groll über die von der SS und der Wehrmacht an Polen verübten Verbrechen, gepaart mit dem für Polen so ernüchternden Kriegsausgang, entlud sich an den Deutschen. Alte, Frauen und Kinder wurden jenseits von Oder und Neiße mit der Kapitulation im Mai 1945 staaten- und rechtlos und waren stellvertretend für das "Dritte Reich" der Wut und Rache der sechs Jahre lang gepeinigten Polen ausgesetzt.
Das Bild des Anderen
Das kollektive Gedächtnis und mehr noch das Bild des Anderen war nach dem Zweiten Weltkrieg anfällig für politische Instrumentalisierung, wie sie im Topos vom deutschen "Drang nach Osten" und dem Mythos von den "wiedergewonnenen" Gebieten ihren Ausdruck fand. Beide Argumentationsmuster sollten helfen, die territoriale Legitimität des polnischen Staates bis an Oder und Neiße historisch zu begründen und den schmerzlichen Verlust der eigenen Ostgebiete zu verdrängen. Dabei griffen die polnischen Kommunisten, nicht wenige Intellektuelle, aber auch die katholische Kirche selektiv auf das Gedankengut der Nationaldemokraten zurück, die Schlesien, Pommern und Ostpreußen als "urpolnisch" bezeichnet hatten. Dieser "patriotische Konsens" war für die neuen Machthaber ebenso wie für die Bevölkerung bequem. Er enthob die polnischen Neuankömmlinge des Nachdenkens über ihr moralisches Verhalten, über die eigene Scham, wenn sie bei der Schikanierung und Vertreibung der angestammten deutschen Bevölkerung zusahen, davon profitierten oder diese verübten.
In der Bundesrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahre wurde Polen vor allem durch das Prisma der Vertreibung und den Verlust der deutschen Ostgebiete wahrgenommen. Das Bild von "den Polen" als Nutznießer der Vertreibung war abwertend. Die individuelle Erinnerung an die Heimat fand rasch Aufnahme in eine staatlich geförderte Erinnerungskultur. Die noch frischen Schreckensbilder der Flucht und das Trauma der Vertreibung wurden von einer eher allgemeinen Erinnerung an den Osten überlagert. Diese Form kollektiver Vereinnahmung der Heimatbindungen des Einzelnen, geprägt durch den Verlust der Herkunftslandschaft, des persönlichen Besitzes und Vermögens, war in der Ära Adenauer von zweierlei Intentionen begleitet: die Vertriebenen gesellschaftlich zu integrieren und ihre Interessen parteipolitisch zu repräsentieren. Polen war im bundesrepublikanischen Bewusstsein nur schemenhaft als Land des kommunistischen Ostblocks präsent. In Anbetracht der bedrohlichen Ost-West-Konfrontation und des "Wirtschaftswunders", das die Energien absorbierte, war von einem Schuldgefühl beim Gros der Westdeutschen wenig zu spüren. Die Schuld zu leugnen, fiel leicht.
War die nationale Interessenvertretung im Hinblick auf die DDR bereits eine Gratwanderung mit ungewissem Ausgang, so wurde die Anwendung nationaler Verfassungsprinzipien gegenüber Polen vollends zum Balanceakt, in dem die Verantwortlichkeit für die eigene Geschichte, politische Sensibilität und nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung auf dem Spiel standen. Innerhalb der westdeutschen Parteienlandschaft bestand (bis auf die KPD) Konsens darüber, dass die Oder-Neiße-Grenze nicht hinzunehmen sei. Dieser Konsens stützte sich auf das Grundgesetz und das dort festgeschriebene Wiedervereinigungsgebot sowie auf die beanspruchte Rechtsgültigkeit der Reichsgrenzen von 1937. An diese konservative Verfassungstreue band sich die irreale Vorstellung der politischen Eliten, Polen sei ein willenloser Satellit der Sowjetunion. Man brauche die Polen nur vom Kommunismus zu befreien, um von ihnen dann gleichsam als Akt freier Selbstbestimmung die Gebiete jenseits von Oder und Neiße zurückzuerhalten.
Polen und die DDR
Die Sowjetische Besatzungszone/DDR war von der im Sommer 1945 gezogenen Oder-Neiße-Grenze in besonderer Weise betroffen. Die geographische Nähe, das Kappen traditioneller Handelswege und der Verlust wichtiger Agrarflächen wirkte sich desaströs auf Wirtschaft und Versorgung aus. Zudem strandete die erste Welle von "Umsiedlern", wie sie offiziell zu heißen hatten, nach so genannten wilden Vertreibungen bereits im Frühsommer 1945 diesseits von Oder und Neiße. Die SED sträubte sich in den ersten Jahren, die höchst unpopuläre Grenzziehung anzuerkennen, wie sie im Potsdamer Abkommen festgehalten worden war. Moskau intervenierte erst im Zuge des sich anbahnenden Kalten Krieges 1947/1948 und drängte auf die Unterzeichnung des Görlitzer Vertrages über die Oder-Neiße-Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen am 6. Juli 1950.
Für die Deutschen in der DDR war die Oder-Neiße-Grenze schmerzlich nahe, bis in die siebziger Jahre nicht oder nur schwer passierbar und aus dem öffentlichen Diskurs verbannt. Die Gründung landsmannschaftlicher Organisationen blieb den vier Millionen Vertriebenen in der DDR untersagt. Wer die "Friedensgrenze" kritisierte, lief Gefahr, als Feind des Friedens und Faschist kriminalisiert zu werden. Die Amputation des öffentlichen Bewusstseins und die Privatisierung der Erinnerung an Heimat und Vertreibung teilten die Ostdeutschen mit den Polen, die über den Verlust von Lemberg oder Wilna ebenfalls keine Auseinandersetzung führen durften.
Polen und Ostdeutsche erlebten, wie der jeweilige Nachbar entgegen allen negativen Erfahrungen zum sozialistischen Bruderland erklärt wurde. Wo authentische Versöhnung vonnöten gewesen wäre, wurden ritualisierte Freundschaftskundgebungen veranstaltet. Bei aller Vergleichbarkeit gab es dennoch erhebliche Unterschiede zwischen der ostdeutschen und der polnischen privatisierten Erinnerung. In Polen gab es, vor allem Dank der im Lande illegal zirkulierenden Pariser Exil-Zeitschrift "Kultura", Ansätze zu einer intellektuellen Verarbeitung des Verlustes der Ostgebiete sowie eine Traditionspflege, die beständig zwischen Russen, Ukrainern, Weißrussen und dem Sowjetsystem zu differenzieren suchte. Angesichts der Tabuisierung und Zensur war in der DDR eine derartige Verarbeitung des Verlustes der Heimat nicht möglich. Die parteipolitisch aufgeladene, von den Verbänden lobbyistisch geführte westdeutsche Debatte über die Ostgebiete, etwa im Zusammenhang mit dem Warschauer Vertrag von 1970, wirkte in der DDR befremdlich, bot sie doch nur wenige Identifikationspunkte.
Nach der Öffnung der Grenze für den visafreien Reiseverkehr am 1. Januar 1972 reisten Millionen Ostdeutsche ins Nachbarland, nach Schlesien, Pommern und Ostpreußen, was den Polen im Falle der Sowjetunion und ihrer Herkunftsgebiete bis 1989 faktisch verwehrt blieb. Eine häufig positive Aufnahme der DDR-Bürger durch die Bewohner ihrer Erinnerungsorte mochte den Schmerz über den Verlust der Heimat mildern. Auf polnischer Seite stellte man fest, dass die Ostdeutschen, die erstmals wieder ihre Grundstücke, Höfe und Häuser sahen, diese gar nicht wiederhaben wollten. Wo die Sprachbarriere überwunden wurde, konnte sich der Kontakt zu den neuen Bewohnern verstetigen, die ihrerseits nicht selten ebenfalls vertrieben worden waren. Ungeachtet dieser Reisen zu den Erinnerungsorten blieb ein Unbehagen bei den Vertriebenen in der DDR darüber, dass ihre regionale Identität und die verinnerlichten kulturellen Leitbilder im Alltag nicht gezeigt werden durften.
Geschichte und Nation
Ende der siebziger Jahre setzte in der Bundesrepublik eine Besinnung auf die deutsche Geschichte ein. Die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie "Holocaust" 1979 wurde zum Ausgangspunkt eines Erinnerungsbooms an die NS-Vergangenheit als Teil eines Identitätsdiskurses über den Stellenwert von Geschichte und Nation. Die Debatte um die NS-Vergangenheit und der Identitätsdiskurs verzahnten sich 1986/87 im "Historikerstreit" in der Frage, ob der Holocaust singulär oder eine adäquate Reaktion auf das stalinistische GULag-System gewesen sei.
Bereits 1981 waren in beiden deutschen Staaten die Schleusen der Erinnerung an Preußen geöffnet worden. Es entwickelte sich ein Wettstreit über die Frage, wem das neu entdeckte Preußentum besser zu Gesicht stehe. Die Darstellung Preußens eignet sich wie kaum eine andere Zeitspanne, um die Verschränkung deutscher und polnischer Geschichte und national geprägter Wahrnehmungen zu beobachten. Zu Recht wird von polnischer Seite beklagt, dass die deutsche Rezeptionsbereitschaft des polnischen Anteils an der deutschen Geschichte nach wie vor gering ist. Deutsche Historiker tendieren dazu, den polnischen Einfluss auf die preußische Agrargeschichte oder die Herausbildung des Nationalstaates zu übersehen, während die polnische Geschichtswissenschaft sich nur schwer von einer Abneigung gegen die politische Kultur des deutschen Ordensstaates freimachen konnte.
Die Rückkehr des Reiterstandbildes Friedrichs II. "Unter den Linden" im Jahre 1981 rief in der polnischen Presse Irritationen und Abwehrreflexe hervor. Die Koinzidenz des Interesses an Preußen in beiden deutschen Staaten weckte bei polnischen Beobachtern die von Gomu?ka propagierte Furcht, Deutschland würde sich zu Lasten Polens wieder vereinigen. Bezeichnend war der Disput zwischen polnischen und DDR-Historikern über die Bewertung Preußens. Ostdeutsche Historiker warben um Verständnis, dass die DDR als der Staat auf dem einstigen preußischen Kernland zwangsläufig einen Teil seiner Tradition und seines Erbes aus der "fortschrittlichen" preußischen Vergangenheit beziehe. Polnische Historiker betonten, dass Preußen mit seinen "Tugenden" der deutschen Geschichte einen verhängnisvollen Verlauf mit dem Fluchtpunkt 1945 beschert habe.
Die am Beispiel von Preußen skizzierten Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster zeigen, dass die Polen dann zur Intervention bei deutschen historischen Debatten neigen, wenn sie das Geschichtsverständnis und mithin die eigene Identität gefährdet wähnen. Diese Interventionsoption ist eine weitgehend polnische, das heißt, sie wird Deutschen im umgekehrten Fall nur widerstrebend zugebilligt. Hinter dieser Haltung verbirgt sich elementares Misstrauen, ob die Deutschen mit der Last ihrer Geschichte umgehen können, und der Verdacht, sie würden ihre Geschichte auch zu Lasten des Nachbarn umschreiben wollen.
Diese Haltung hat das Revolutionsjahr 1989 überdauert und ist von beunruhigender Aktualität in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen und mehr noch, die andauernde Kontroverse um Restitution und Reparation sind ein Indiz dafür. Dieser Befund überrascht insofern, als in den neunziger Jahren polnische und deutsche Historiker sich des Themas Vertreibung annahmen, indem sie die nationalen Opferdiskurse im historischen Kontext befragten und das Schicksal von deutschen wie polnischen Vertriebenen verglichen. Selbst den jahrzehntelang gepflegten Schreckgespenstern der offiziellen Propaganda Volkspolens, Herbert Hupka und Herbert Czaja, näherten sich polnische Publizisten mit gelassener Objektivität.
Das neue Missverstehen
Welches sind die Gründe des neuen Missverstehens zwischen Deutschland und Polen? Die deutsch-polnischen Beziehungen ließen sich nicht, wie erhofft, in den europäischen Kontext einbetten. Kontroverse Themen wie Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Landerwerb durch Ausländer förderten Empfindlichkeiten. Die Differenzen im Kontext des Irak-Kriegs und des Abstimmungssystems im EU-Verfassungsvertrag führten vor Augen, dass die Ebene der europäischen Politik nicht ausschließlich ein Forum zur Klärung bilateraler Probleme, sondern auch ein Ort der Genese neuer und der Verstärkung vorhandener sein kann. Prononciert gesprochen wurde aus der einstigen deutsch-polnischen "Interessengemeinschaft" eine "Konfliktgemeinschaft".
Die historischen Gründe des neuen Missverstehens sind weniger eindeutig zu benennen. Gewiss gab es in den neunziger Jahren die Neigung, die Prägekraft der Geschichte für das Miteinander durch Ausklammern strittiger Fragen abzuschwächen. Die Erfolge der Aussöhnungsarbeit verleiteten zur illusorischen Annahme, die deutsche und die polnische Erinnerungskultur ließen sich in einer europäischen vereinigen. Hinzu kam die zeitliche Koinzidenz von Jedwabne- und Vertreibungsdebatte. Der Perspektivwechsel vom "Opfer" zum "Täter" rief bei vielen Polen Schutz- und Abwehrreflexe hervor.
Rückblickend erweist es sich als Hypothek, dass es keine dauerhafte Distanzierung von national konnotierten volkspolnischen Geschichtsbildern gab und die moralische Gesundung der politischen Kultur an der parteipolitischen Instrumentalisierung in den neunziger Jahren scheiterte. Bei aller zeitweiligen Kritik an der Öffnung der Stasi-Akten im eigenen Land, sie hat wesentlich zur informationellen Selbstbestimmung der Ostdeutschen beigetragen und der Auseinandersetzung mit dem Leben in der Diktatur nachhaltig genützt.
Für eine Gesundung der deutsch-polnischen Beziehungen bedarf es vor allem eines selbstbewussten, aber gelassenen nationalen Selbstverständnisses, das Raum für eine dialogische Erinnerungskultur mit den Nachbarn lässt. Europa wird nicht gegen die Nationen gebaut, sondern mit ihnen und durch sie. Die Europäische Union will die Nationen nicht überwinden, sondern überwölben. Damit dies gelingt, müssen Solidarität und ein "Wir-Gefühl" in der EU von großen wie kleinen Ländern als Grundlage des Zusammengehens bewahrt werden.