Selbstbestimmung wird in der Datenökonomie zu einer Herausforderung, die die Kapazitäten der Einzelnen übersteigt und durch einen verbesserten Verbraucherschutz allein nicht zu meistern ist. Sie betrifft die Demokratie und Gesellschaft insgesamt und wirft grundlegende Gestaltungsfragen auf, die mit historischen Momenten der Verfassungsgebung verglichen werden können – geht es doch ebenso um die Formgebung von Grundrechten und politischen Basisinstitutionen. Eine Behandlung der Zukunftsfragen von Privatheit und Selbstbestimmung als individuelles Freiheits- und Abwehrrecht von Privatsubjekten, so zeigt der kritische Blick auf die Strukturdynamiken der Datenökonomie, kann dieser Aufgabe kaum gerecht werden. Dennoch ist eine solche Sichtweise, die auf Informationskontroll- und Einspruchsrechte sowie entsprechende Pflichten der Nutzerinnen und Nutzer von digitalen Diensten zielt, im Daten- und Verbraucherschutz weiterhin verbreitet.
Angesichts der Asymmetrie von Kontrollpotenzialen und der Dezentrierung, die die Lebensführung unter den neuen soziotechnischen Bedingungen der Datenökonomie erfährt, sollte Selbstbestimmung nicht länger als Sache einzelner Bürgerinnen und Bürger betrachtet werden. Verbraucherpolitik, so möchte ich in diesem Beitrag zeigen, muss sich zur "Verbraucherdemokratie" erweitern, die die Gestaltung von Regeln und Konventionen der Datenökonomie systematisch an Prozeduren öffentlicher Aushandlung rückbindet.
Im Folgenden werde ich dafür zunächst die Idee der Selbstbestimmung historisieren und soziologisch deuten, um darauf aufbauend neue Perspektiven aufzuzeigen und abschließend einige normative Schlussfolgerungen zu ziehen.
Autonomiefiktionen und Strukturdynamiken
Der Begriff "Selbstbestimmung" ist insofern widersprüchlich, als gesellschaftlich bedingt ist, was als Freiheit des Individuums erscheint und diesem sozial oder sogar als Wesenszug zugeschrieben wird. Zwar ist es durchaus möglich, dass sich Individuen an den verantwortungsvollen Gebrauch subjektiver und politischer Freiheitsrechte gewöhnen oder sich den kalkulierenden Umgang mit ökonomischen Privatinteressen antrainieren. Die Idee subjektiver Selbstbestimmung befindet sich dann mit gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen des Rechtsstaats oder der Marktgesellschaft in einem Passungsverhältnis; der Widerspruch fällt nicht weiter auf. Gleichwohl handelt es sich aber um historische Konzepte der Selbstbestimmung, die im gesellschaftlichen Wandel an Kraft und Plausibilität verlieren können. Wenn sich die Einstellungen und Gewohnheiten der Menschen oder die institutionellen Rahmenbedingungen der Lebensführung grundlegend verschieben, wie es mit der Entfaltung der Datenökonomie mehr als wahrscheinlich wird, kann diese Freiheitsfähigkeit nicht nur ab-, sondern auch Schaden nehmen.
Um das Argument zu verdeutlichen, sei auf einen Klassiker der Soziologie verwiesen: David Riesman, Nathan Glazer und Reuel Denney beschrieben in ihrem Beststeller "The Lonely Crowd" ("Die einsame Masse") schon 1950, also noch fernab aller Digitalisierungsdynamiken, eine Entwicklung hin zu einer Gesellschaft von Verbraucherinnen und Verbrauchern, deren Charaktereigenschaften so deutlich von denen innengeleiteter Subjekte abweichen, dass sich das Problem der Autonomiegewinnung auf völlig neue Weise stelle.
Die soziologische Qualität der Auseinandersetzung mit dieser Wandlungsdynamik besteht nun darin, dass Riesman und seine Kollegen die Entwicklung nicht nostalgisch verteufelten. Selbstbestimmung sei nicht fest an den Habitus der protestantisch geprägten, innengeleiteten Bürgerinnen und Bürger gebunden. Vielmehr müsse Autonomie immer in der Relation von individuellen Charaktereigenschaften oder Haltungen auf der einen und gesellschaftlichen Strukturbedingungen auf der anderen Seite gedacht werden. So könne das, was dem männlich geprägten bürgerlichen Privatsubjekt in bestimmten Zeiten den Glanz von Autonomie verleihe, etwa die ermöglichenden Normen, Rollenbilder und Routinen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Familie, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zur inneren Geißel werden, die es in seiner Fähigkeit zur Veränderung, etwa zur Reduktion von Berufsarbeit, stark einschränke. Was einst als Wesenszug der Selbstbestimmung erschien, wird so zum Element starker bis suchtartiger Abhängigkeit.
Vor diesem Hintergrund verlieren Vorstellungen von Selbstbestimmung an Plausibilität, die Verbraucherinnen und Verbraucher überzeitlich als innengeleitete Privatsubjekte mit klaren Präferenzen und verantwortungsethischen Haltungen definieren. Solche Autonomievorstellungen finden sich bis heute keineswegs nur bei ausgewiesenen Anhängern des sogenannten Neoliberalismus, sondern ebenso mit Bezug auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder im europäischen Leitbild des mündigen Verbrauchers.
Erst in jüngerer Zeit mehren sich Versuche, solche Leitbilder zu relativieren und mit empirischen Bedingungen der Selbstbestimmung zu verzahnen.
Statt Selbstbestimmung durch staatlichen Verbraucherschutz zu ersetzen, käme es jedoch darauf an, Verbraucherschutz und Selbstbestimmung in neuer Weise zusammenzudenken. Das digitale Zeitalter bietet dafür reichlich Anlass: Mit der Entfaltung der Datenökonomie wird die Struktur der Außenlenkung derart auf die Spitze getrieben, dass sich das Problem hier in voller Schärfe stellt.
Selbstbestimmung durch Daten?
Ein (scheinbar) extremer Fall ist in diesem Zusammenhang die sogenannte Quantified-self-Bewegung. Deren Motto lautet: Selbstbestimmung durch Daten – womit vor allem quantifizierende Informationen über Körperzustände, Leistungsfähigkeiten, statistische Vergleichsmaße, Scores und so weiter gemeint sind. Ein gutes Beispiel ist das Fitnesstracking, das heißt die Nutzung von Apps wie Runtastic. Diese ermöglichen in Verbindung mit "smarter" Sensortechnologie in Mobiltelefonen oder speziellen Uhren beziehungsweise Fitnessarmbändern durch Auswertung von Körper- und Bewegungsdaten sowie den ständigen Vergleich mit anderen Personen, die eigene Fitness zu überwachen, anderen im sozialen Netzwerk zu demonstrieren und gezielt zu verbessern.
Eine Vielzahl von Tools verspricht heute Unterstützung dabei, self-tracking beziehungsweise lifelogging als Mittel der Selbsterkenntnis und -beherrschung zu nutzen.
Die Bestimmung des Selbst mittels digital aufbereiteter Daten und Informationen weist darin viele Facetten auf, die in ihrer Zusammenschau zu erkennen geben, wie sich die Autonomie der Individuen in Fremdbestimmung aufzulösen droht. In der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien herrscht ein gesteigerter sozialer Druck zur Inszenierung des Selbst als singuläre und authentische Person.
Auch diese, häufig automatisierten Prozesse bestimmen das jeweilige Selbst mit, das sich in passgenauen (Werbe-)Angeboten wiedererkennen kann und soll. Empfehlungsalgorithmen von Musikstreamingdiensten wie Spotify etwa kombinieren Daten zu individuellen Hörgewohnheiten mit einem riesigen Datenpool, der statistische Klassifikationen von Musikstilen erlaubt. Damit unterstützt der Dienst die Verbraucherinnen und Verbraucher bei der Entwicklung ihres ganz eigenen Musikgeschmacks.
Die Kontrollpotenziale sind dabei asymmetrisch verteilt, und die Schere zwischen Nutzenden und Diensteanbietern öffnet sich weiter.
Die derzeit führende Disziplin in der Entwicklung solch datenbasierter Navigationshilfen ist die Verhaltensökonomik, deren Expertise im "Anstupsen" (nudging) von Entscheidungen besteht: Durch Umgebungsreize, die bestimmte Emotionen auslösen sollen (affektives priming), oder gezielte Situationsrahmungen werden Bedeutungen und Attraktivitätswerte von Optionen verschoben, um das Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Widerspruch des libertären Paternalismus
Selbstbestimmung, verstanden als rekursiver Optimierungsprozess der Entäußerung und Freigabe persönlicher Daten, der maschinellen Verarbeitung und Verknüpfung solcher Daten durch Dritte, der Ableitung verborgener personalisierter Verhaltensimpulse und deren evidenzbasierter Erfolgsmessung, ist von Fremdbestimmung nicht mehr zu unterscheiden. Vertreterinnen und Vertreter der Verhaltensökonomik verweisen zur Verteidigung auf den Ansatz des libertären Paternalismus: Anstupser würden das Verhalten keineswegs so starr festlegen wie Vorschriften oder Zwangsmaßnahmen. Das handelnde Subjekt sei immer noch frei, sich anders zu entscheiden. Es könne in der Kantine weiterhin zu den zuckerhaltigen Riegeln greifen, nachdem die Obstschale prominenter platziert wurde; auch könne es die Bereitschaft zur Organspende zurückziehen, sollte das Verfahren auf "Opt-out" umgestellt werden. Doch für die Reproduktion jener Entscheidungsautonomie, die der libertäre Paternalismus hier unterstellt, wird mit seinen empirisch motivierenden Bindungstechniken nichts mehr getan. Vielmehr setzt er Kompetenzen voraus, die mit seiner erfolgreichen Ausbreitung verdrängt werden. Diese Kompetenzen zu stärken, wird daher zur Aufgabe für den Verbraucherschutz.
In der Verbraucherpolitik manifestiert sich der Widerspruch jedoch ebenso: Auch sie will Verbraucherinnen und Verbrauchern vermehrt mittels nudging helfen, ihre wohlverstandenen Interessen einschließlich ihrer informationellen Selbstbestimmungsansprüche zu realisieren. Nicht nur Lebensmittelampeln mit Signalwirkung, sondern auch gesetzlich vorgeschriebene Voreinstellungen im Bereich des Daten- und Privatheitsschutzes (Privacy by Default, Opt-in-Verfahren, erleichterte Verschlüsselung privater Kommunikation) sind hierfür typisch. Damit scheint es über die gesellschaftliche Nützlichkeit der Daten- und Verhaltensökonomie einen breiten Konsens zu geben. Lediglich über die Richtung der Verhaltenssteuerung und die zentralen Werte, die damit wirksam werden sollen, wird noch gestritten.
Dabei geht es nicht selten symbolpolitisch zu: Nicht um Profitanteile oder die Sicherung von politischen Einflusspotenzialen, sondern allein um Gesundheitsförderung oder nachhaltigen Konsum geht es dann – und Cookies dienen selbstverständlich ausschließlich der Serviceverbesserung. Doch nur wer eine unabhängige kritische Öffentlichkeit nicht mehr zu fürchten braucht, kann sich auf solche Muster der nachträglichen Rationalisierung datenökonomischer Praktiken und Geschäftsmodelle zurückziehen. Der Schutz und die politische Stärkung der Verbraucherinnen und Verbraucher könnten hier ansetzen: Diese müssten in die Lage versetzt werden, kritisch prüfen zu können, welche Werte und Präferenzen in die Entscheidungsarchitekturen der Datenökonomie eingeschrieben sind und ob es sich dabei tatsächlich um die ihres wohlverstandenen Interesses handelt. Sie dürften demnach den Verhaltensimpulsen nicht nur empirisch folgen, sondern müssten ihr Einverständnis auch nach kritischer Prüfung noch erteilen können. Doch was meint solche kritische Kompetenz in der Datenökonomie genau, und wie lässt sie sich unter deren Bedingungen entfalten?
An dieser Stelle hilft die Soziologie der Infrastrukturen weiter.
Ganz anders sieht es aus der Perspektive der Designerinnen und Designer dieser gebauten Umwelten aus: Sie erscheinen als Architektinnen und Architekten von Entscheidungsprozessen und legen willkürlich oder gegebenenfalls mit strategischem Kalkül fest, welche Konventionen und normativen Aspekte im Verbraucherverhalten prioritär gelten und verfolgt werden sollen.
Hier ist die Verbraucherpolitik gefordert: Um das Prinzip und die Möglichkeit der Selbstbestimmung gegen die Eigendynamik der Datenökonomie zu verteidigen, sollte zum einen gesetzlich festgeschrieben werden, dass Prozesse der digitalen Infrastrukturgestaltung nach demokratischen Prinzipien der kollektiven Selbstbestimmung und Aushandlung zu gestalten sind. Diese Prozesse dürfen nicht länger den verborgen operierenden Entscheidungsarchitektinnen und -architekten überlassen werden, die für die Gestaltungseliten der Digitalwirtschaft arbeiten. Zum anderen sollten die Infrastrukturen der Datenökonomie verpflichtend so gestaltet werden müssen, dass sie die Kompetenz zur kritischen Reflexion von normierenden Designentscheidungen erhalten oder sogar steigern.
Bewertungskompetenz: Verbraucherschutz als digitale Infrastrukturgestaltung
Genauso wie die Hierarchisierung der Werte in der autogerechten Stadt aus umweltpolitischer Sicht kritikwürdig erscheint, müsste der politische Gehalt infrastruktureller Vorfestlegungen auch im digitalen Zeitalter öffentlich präsent gehalten werden. Man denke nur an die Planungsfantasien für eine umfassende Verhaltenslenkung und Überwachung in "Smart Cities". Der Verbraucherschutz sollte mithin dabei helfen, die Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung langfristig zu sichern, anstatt mit den gleichen Steuerungsmitteln um Anteile an den "Verhaltensterminkontraktmärkten"
Hierzu müsste die Verbraucherpolitik ein neues, alternatives Gestaltungsparadigma der "Verbraucherdemokratie" entwickeln und im Bereich datenökonomischer Infrastrukturen zur Anwendung bringen.
Eine Schwierigkeit dieses neuen Ansatzes liegt nun darin, dass Praktiken der Bewertung und Evaluation bereits als fester Bestandteil verhaltensökonomischer Entscheidungsarchitekturen in den digitalen Infrastrukturen verbreitet sind. Nahezu überall werden Verbraucherinnen und Verbraucher mit der Vergabe von Sternchen, mit Rankings und Ratings konfrontiert, werden ihnen Testergebnisse und Empfehlungen angeboten und sind sie zugleich aufgefordert, sich selbst durch Kommentare, Likes oder authentische Erfahrungsberichte an solchen Bewertungsprozeduren zu beteiligen.
Insofern – so könnte man meinen – erfüllt die Datenökonomie doch längst das Kriterium, Kritik anzuregen und kritische Kompetenzen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu schulen. Eine solche Einschätzung übersieht jedoch, dass diese Bewertungspraktiken die Äußerung von Kritik als Element einer verhaltensökonomisch gestalteten Bewertungslandschaft mit programmierten Verhaltensroutinen ununterscheidbar verschmelzen. Die menschlichen und maschinellen Bewertungen und Empfehlungen dienen maßgeblich der sozialen Einbettung von digitalen Märkten und datenökonomischen Geschäftsmodellen, indem sie Vertrauen, Loyalität und Akzeptanzbereitschaft generieren.
Soll ein solcher gesellschaftlicher Digitalisierungspfad vermieden werden, muss in die fortschreitende Hybridisierung von menschlicher und künstlicher Intelligenz eine Sollbruchstelle, in das rekursive, datenbasierte Trainieren von Menschen und Maschinen eine Unwucht eingebaut werden. Erforderlich sind Infrastrukturen, die eine kritische Bewertung und Evaluation der Rahmengestaltung von Algorithmen und Bewertungsordnungen initiieren und wachhalten. Transparenzpflichten hinsichtlich der mit Algorithmen- und Interfacegestaltung verbundenen Normierungsabsichten allein reichen dafür nicht aus, da auch die nicht beabsichtigten Folgen und Diskriminierungseffekte Beachtung finden müssen. Vielmehr sollten Prozesse der Informationstechnikgestaltung gezielt und wiederkehrend mit der Pluralität möglicher Konventionen und Bewertungsordnungen konfrontiert werden, um kritische Reflexionen über deren infrastrukturelle Priorisierung anzuregen.
Diese Praxis müsste zudem mit den Bewertungs- und Entscheidungsroutinen der Verbraucherinnen und Verbraucher verzahnt werden. Denn es macht einen Unterschied, ob diese in den Bahnen der Schnäppchenjagd oder sozialen Statuskonkurrenz, der Bequemlichkeit oder gesundheitspolitischer Fitnessideale, der ästhetischen Anmutung, kulturellen Diversität oder ökologischen Nachhaltigkeit verlaufen. Die Kontroversen, mit denen die Verbraucherpolitik in Bereichen wie Energie, Wohnen, Verkehr, Tourismus, Ernährung oder Kosmetik laufend konfrontiert ist, können eine solche Pluralität präsent halten. Die Kompetenz zur Selbstbestimmung in der Datenökonomie bildet und erhält sich dann in dem Maße, wie die Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie die Designerinnen und Designer lernen, die Pluralität und prinzipielle Offenheit von Wert- und Bewertungsordnungen in den Alltagsroutinen und technischen Infrastrukturen nicht länger verdrängen zu müssen.