Einleitung
Nicht am Neujahrstag selbst, sondern genau vier Wochen später, am 1. Februar 1955, wurden in der Tageszeitung "Neues Deutschland" spezielle Trinksprüche dargebracht. Fürs Jubeln hatte die SED, die Staatspartei der DDR, wieder einmal ein geeignetes Jubiläum gefunden. Eine Totenehrung diente dazu, sich selbst zu feiern. Die pathetische Überanstrengung verbarg die gewaltsamen, unwahren und heuchlerischen Momente dieser Vereinnahmung Friedrich Schillers: "Möge das Schiller-Jahr 1955 dazu dienen, die Einheit unseres Vaterlandes und seiner humanistischen Kultur im Gedanken und in der Tat zu stärken! Möge es dazu beitragen, ein wahres und lebendiges Bild dieses großen Dichters und Volkstribunen für alle Deutschen herauszuarbeiten! Möge es unserem Volk das Werk des lebendigen unsterblichen Schiller in künstlerisch vollendeten, unverfälschten Aufführungen erschließen! Möge das poetische Feuer des Patriotismus' das in Schiller glühte und in seinen Werken weiterlebt, die Herzen der deutschen Jugend begeistern und entflammen!"
Der lange und weitschweifige Text war ganz und gar der politischen Aktualität verpflichtet. Schiller wird gegen Konrad Adenauer eingesetzt, gegen dessen antinationale Spaltungspolitik: "Schiller bewies mit dichterischer Kraft und in lebendiger Anwendung für den Kampf des deutschen Volkes, daß eine volksfeindliche Politik zum Scheitern verurteilt ist." Der Dichter habe das deutsche Volk zum Widerstand gegen Unterdrückung und staatliche Zerstückelung aufgerüttelt und Helden "aus dem einfachen werktätigen Volk" gestaltet. Gemeint waren damit - neben der "Jungfrau von Orleans" - vor allem Wilhelm Tell und seine Eidgenossen. Deshalb kulminierte die Stellungnahme des Zentralkomitees der SED in dem zur aktuellen Losung umfunktionierten Zitat: "Seid einig, einig, einig."
Ich war damals Student der Journalistik im dritten Studienjahr, an jener legendären und berüchtigten akademischen Institution im Leipziger Süden, die vor allem in den fünfziger Jahren treffend als "Rotes Kloster" charakterisiert wurde. Wir wurden angehalten, die ZK-Direktive in Sachen Schiller eingehend zu studieren.
Die hymnische Einstimmung auf ein in allen Bezirken zu feierndes Gedenkjahr konnte nicht einfach vergessen lassen, dass von Marx bis Mehring eine heftige Kritik an dem Idealisten und Kantianer Schiller vorlag, der als Opfer der deutschen Misere zu gern ins Reich des schönen Scheins floh. Auch dafür hatte das Zentralkomitee vorgesorgt. Als Nebenstimme - hinter dem enthusiastischen Forte - liefen die alten Vorbehalte und Einwände durch den Text mit. Schillers Haltung zur Französischen Revolution wird anhand des Modells "Wesen und Erscheinung" beschrieben. Mit dem "historischen Gehalt" sei er voll einverstanden gewesen, leider zeigte er aber "Unverständnis für die politischen Formen der Französischen Revolution, wie sie während der Herrschaft der Jakobiner in Erscheinung traten". Indirekt wird der als vorbildlicher Humanist gefeierte Dichter gerügt, weil er weder die Schönheit noch die Notwendigkeit der Guillotine sah. Seine Befangenheit und "die Einwirkung Kants" hätten ihn dazu verleitet, die wahre Freiheit jenseits der Wirklichkeit zu suchen. Aber immer nur zeitweilig. Schiller wandelte nicht dauerhaft auf Irrwegen. Er fand auf den fortschrittlichen Pfad zurück, vor allem unter Mithilfe des älteren, reiferen Goethe, der innerhalb der Klassik-Rezeption der SED stets die Spitzenposition behielt: "Von Goethe, der weiter zu materialistischen Anschauungen vorgedrungen war, empfing Schiller dabei die Stärkung seiner Entwicklung zum Realismus."
An der gefährlichen Wegstrecke des Fortschritts sorgte also der große Goethe für Stärkung, damit sich der gefährdete, verführbare Schiller wieder einfügte in die welthistorische Mannschaft, als deren Avantgarde sich auch im Gedenkjahr 1955 die SED selbst sah.
Die Kampfrede des Ministerpräsidenten
Wie schon bei der Goethe-Ehrung 1949 behielt sich auch im Schiller-Jahr 1955 DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl vor, die repräsentative Rede von Staats wegen selbst zu halten. Auch dieser Text war für uns angehende Kulturjournalisten Pflichtlektüre. Da er ein guter Redner war, begegneten viele seinen Ausführungen mit vorurteilsfreier Neugier. Leider enttäuschte der einstige Sozialdemokrat meine Erwartungen, als ich die Rede nachlas, die der Dietz-Verlag in einem kleinformatigen Bändchen, viel repräsentativer ausgestattet als die üblichen Parteibroschüren, in einer Auflage von 50 000 unter die Leser brachte. Der Untertitel lautete: "Rede anläßlich der Schiller-Ehrung der deutschen Jugend in Weimar am 3. April 1955". Dem entsprach die gewählte Anrede des Publikums: "Liebe deutsche Jugend!" Der rhetorische Anspruch richtete sich auf das ganze Deutschland, der organisatorische einschränkende Verweis auf die FDJ der DDR unterblieb bewusst. Grotewohls Schiller-Deutung wollte nicht sektiererisch nur zwischen Elbe und Oder Gültigkeit beanspruchen.
Man sieht sich zu ungewöhnlichen Zeitsprüngen veranlasst, wenn man heute das kleine, fest kartonierte, hellgrüne Büchlein mit den 62 vergilbten Seiten in der Hand hält, denn Grotewohl hat seiner Rede den Titel "Wir sind ein Volk!" gegeben. Merkwürdig, wie die berühmte Parole, die sich 1989/90 aus den zunächst noch DDR-intern zu verstehenden Worten "Wir sind das Volk" entwickelte, hier kühl kalkuliert innerhalb eines politischen, vor allem propagandistischen Versuchs benutzt wird, Einfluss auch bei meinungsbildenden Schichten außerhalb der DDR zu gewinnen.
Leider wiederholt Grotewohl aber vor allem die Phrasen aus der Direktive vom Februar: "So war Schiller zeitweilig nicht imstande, die jakobinische Entwicklung in der französischen bürgerlichen Revolution politisch zu verstehen."
Grotewohl paraphrasierte das berühmte Stalin-Zitat, nach dem die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat jedoch blieben, wenn er in der Schiller-Rede, auf deutsche Fürsten und andere ihm missliebige Politiker anspielend, sagte: "Die Ludwig und Friedrich, die Hitler und Adenauer kommen und gehen, aber Deutschland und das deutsche Volk bleiben bestehen. Deutschland kann nicht untergehen. Das ist die erste Lehre, die der Dichter auch heute unserem ganzen deutschen Volk erteilt."
Wir jungen Studenten konnten nur den Kopf schütteln über die aufdringliche Bemühung, Schiller in den politischen Kampf gegen die Pariser Verträge, gegen die Einbindung der Bundesrepublik in die NATO einzubeziehen. Im "Roten Kloster" waren wir nur eine sehr kleine Gruppe, die Mehrheit der dort Studierenden folgte der vorgegebenen Linie. Wie lange wollte man noch der naiven Vorstellung folgen, man könnte in der DDR journalistisch tätig sein, ohne sich mit dem sozialistischen Gesellschaftsmodell zu identifizieren?
Kluge, prominente Leute waren aus dem Exil in die DDR gekommen. Sie verbreiteten Hoffnung und stifteten ungewollt Verwirrung, weil sie sich selber über die Möglichkeiten täuschten. Sie wären so gern Berater der Mächtigen gewesen, aber die Apparatschiks mussten ihnen misstrauen. Mancher wurde vielleicht nur zum internen Gespräch geladen, damit er sich wichtig fühle und so bei der Stange bleibe, als ein Herausgehobener, Privilegierter. 1991 konnte ich in einem der Erinnerungsbücher von Hans Mayer nachlesen, dass ihn Grotewohl (wie schon 1949 vor der Goethe-Rede) vor der Ausarbeitung der Schiller-Rede in eine kleine Beraterrunde geladen hatte, für Anregungen und Hinweise - der sympathisierende Kenner hilft dem bei solch hohem Gegenstand dilettierenden Politiker. Mayer erinnert sich: "Ein nervöser Bürokrat stellte routinierte, nahezu unbeteiligte Fragen. Eine Sekretärin stenografierte und notierte. Er hatte auch keine Freude mehr an dieser Aufgabe. Schillers Wort war auch hier zur Vokabel geworden. Man machte ein paar Vorschläge, versuchte einige Akzente zu setzen. Hat er damals überhaupt zugehört?"
Prinzipienfest verteidigte die Redaktion der "Neuen Deutschen Literatur" in einem Kommentar die repräsentative, offizielle Rede. Der nationale Gehalt von Schillers Lebenswerk stehe in unüberbrückbarem Gegensatz zu der "antinationalen Politik der westdeutschen Bourgeoisie, die sich mit amerikanischer Hilfe wieder hochgerappelt hat". Es handle sich daher nicht um billige und oberflächliche Aktualisierungen. Demgegenüber sei das westdeutsche Pendant, die Rede von Bundespräsident Theodor Heuss, der Versuch gewesen, "eine kulturmüde und kulturwidrige Wirklichkeit hinter einer prunkenden Wortfassade zu verbergen"
In den Übungen der Seminare über "Theorie und Praxis der Pressearbeit" durften wir an praktischen Beispielen diese parteiliche Schreibweise erproben. Wer in dem angenommenen Fall, am Exempel der divergierenden Schiller-Ehrungen, den Gegensatz zwischen sozialistischem Kulturstaat und imperialistischer Kulturbarbarei hätte aufzeigen sollen, musste den Text der Heuss-Rede nicht kennen. Im dritten Studienjahr hatten wir längst verinnerlicht, dass die Frage danach theoretisch "Objektivismus" und praktisch eine Provokation gewesen wäre.
Schillers ideologische Schwächen
Ihre Erfahrungen in der und mit der Partei hatte auch manche Kulturtheoretiker Vorsicht gelehrt: Im Lobpreis Schillers sollte man nicht zu weit gehen, selbst wenn es opportun war, sich auch dieses Klassikers möglichst vollständig zu bemächtigen. Es konnte eine Zeit kommen, in der Wiedervereinigungslosungen nur noch vom Klassenfeind vorgebracht wurden und der einst gesamtdeutsche Patriotismus sich nur noch aufs DDR-Territorium beschränkte. Dann galt "Wilhelm Tell" vielleicht nicht mehr als die bevorzugte Quelle für Zitate über Einigkeit und Vaterland. Es wäre aber vor allem ein schwerer ideologischer Fehler gewesen, den philosophischen Idealismus Schillers hinzunehmen und seine falsche Bewertung einzelner großer Gestalten der Weltgeschichte zu ignorieren. Er mochte ein Genie sein oder, wie es ein Buchtitel von Alexander Abusch aus dem Jahre 1955 formulierte, "ein deutscher Genius", Marxisten wussten mehr und Marxisten-Leninisten wussten es noch besser.
An dem unergiebigen Vorgespräch bei Grotewohl hatte, wie Mayer sich erinnerte, der "unvermeidliche Abusch" teilgenommen. In der Beilage des "Neuen Deutschland" vom 8. Mai 1955 hat der einflussreiche Kulturfunktionär versucht, eine Schiller-Deutung vorzulegen, die sich trotz des festlichen Anlasses absichert und im üblichen Oberlehrerton alle Fehler missbilligt, auf die der Tote leider nicht mehr selbstkritisch reagieren kann. "Don Karlos" zeige schon die Tendenz, "bei der Verwirklichung bürgerlicher Ideen auf edelmütige Taten fürstlicher und adliger Reformatoren, auf eine "Revolution von oben" zu hoffen"
Er verstand dieses nicht und jenes nicht. Die Loslösung vom so genannten realen Leben wurde in der DDR stets den Künstlern und Schriftstellern vorgehalten, die sich als Sozialisten betrachteten - emotional und rational -, aber sich mit der jeweils konkreten Herrschaftspraxis nicht identifizierten. Da Schiller schon in jungen Jahren falsch erzogen wurde, zog er auch im späteren Leben nicht die richtigen Lehren. Solche Fehlentwicklung kann nur verhindert werden, wenn beständige Erziehung und Umerziehung das "richtige Weltbild" entstehen lassen und festigen.
Auch die Großen der Vergangenheit, die Bürger der Aufstiegsphase und erst recht die Spätbürgerlichen, waren eigentlich Schüler, denen unter dem Stichwort der "kritischen Aneignung" nach immer gleichem Schema Zeugnisse ausgestellt und Noten erteilt wurden. Dieses Bewertungsmodell vertrug sich "dialektisch" mit der Einebnung von Gegensätzen, um durch geistige Verwandtschaft quer durch die Zeiten den Rang der eigenen Kulturpolitik auch mit Hilfe der Klassikrezeption glänzender erscheinen zu lassen. Die "Vollstrecker-Theorie", der zufolge der sozialistische Staat DDR real jenes humanistische Reich verwirkliche, von dem die Klassiker nur mehr oder weniger kühn träumen konnten, gehört in diesen Zusammenhang.
Wie habe ich auf das ideologisierte, stalinistisch geprägte Schmalspurangebot des Journalistikstudiums reagiert, das ich 1952 gleich nach dem Abitur begonnen hatte? Als die Festlichkeiten des Schiller-Jahres 1955 begannen, war ich gerade 21 Jahre alt geworden. So oft es irgend ging, besuchte ich, wie zwei, drei Freunde auch, Vorlesungen bei den Germanisten im berühmten, notdürftig gesicherten Hörsaal 40 des alten zerstörten Universitätsgebäudes. Germanistik im Nebenfach zu studieren, wäre nicht erlaubt worden. Es hätte sich auch nicht organisieren lassen. Unser Studium lief nach einem festen Stundenplan, es herrschte Anwesenheitspflicht. Deren Einhaltung wurde kontrolliert. Die Ausflüge in fremdes akademisches Gelände hat man sogleich missbilligt. Anstatt die Neugier als erfreuliche Eigeninitiative zu goutieren, wurden Beratungsgespräche mit uns geführt. Es hieß, wenn wir Zeit für so etwas hätten, sei die Liste der im "Selbststudium" zu erarbeitenden Bücher wohl noch nicht lang genug. Aufpasser wurden in den Hörsaal 40 entsandt, sie schrieben mit und nutzten die Notizen als Grundlage für Berichte darüber, welch schlimmen Einflüssen wir uns offenbarfreiwillig und auch noch begeistert aussetzten.
Die prominentesten germanistischen Hochschullehrer im damaligen Leipzig hießen Hermann August Korff und Hans Mayer; gegensätzliche Naturen und doch keine Kontrahenten. Der greise Korff, Verfasser einer mehrbändigen Ideengeschichte über den "Geist der Goethezeit", die in dem der Ost-CDU gehörenden Verlag Koehler & Amelang immer wieder aufgelegt wurde, kam aus anderen Zeiten. Der würdige Mann mit der leisen Stimme faszinierte, weil er in sich zu ruhen schien. Nirgends gab es Zugeständnisse an marxistische Auffassungen. Sein Klassikbild hatte er ausgemalt. Er trug Resultate vor, ließ sich nicht mehr verwickeln in Einflusskämpfe. Ein Wunder, dass er übrig geblieben war und weiter ans Katheder treten durfte.
Hans Mayer hat ihn nicht bekämpft, weder ideologisch noch aus Karrieregründen. Ironisch tadelte er in der Rückschau 1993, dass bei dem Altmeister die Französische Revolution leider nicht vorkomme, womit er sein positives Urteil kaum einschränkte: "Die Goethezeit wurde akademisch von meinem freundlichen und liebenswerten Kollegen Hermann August Korff seit Jahrzehnten 'verwaltet`. Sein germanistisches Hauptwerk 'Geist der Goethezeit` ist auch heute noch lesenswert, es enthält viele bemerkenswerte Interpretationen."
"Das Ideal und das Leben"
Hans Mayers Rede zu Ehren des Dichters wurde für mich zum intellektuellen und emotionalen Höhepunkt des Schiller-Jahres. Er hielt sie am 10. Mai 1955, sozusagen mit einem Tag Verspätung, in der Kongresshalle des Leipziger Zoos. Kurz danach konnte ich die bibliophil ausgestattete Broschüre erwerben, die der Insel-Verlag in einer Auflage von 5000 Exemplaren herausbrachte. In meinem klebt noch das gediegene blauweiße Herkunftsschildchen der damals bekanntesten Privatbuchhandlung in der Messestadt: "Franz Otto Genth, Leipzig C1, Grimmaische Str. 25". Das Heftchen enthält auch zwei lange Schiller-Gedichte, "Die Künstler" und "Das Ideal und das Leben". Letzteren Titel übernahm der Redner für seinen Vortrag. Mayer verweigerte jede Nachgiebigkeit gegenüber den politisch erwünschten Klischees. Wo die besserwisserischen Schulmeister Schiller Versagen und Inkonsequenzen vorhalten, sieht Mayer Stärken, Stil, Unverwechselbarkeit. Wer aufmerksam zuhörte, wusste, dass der Redner auf verdeckte Weise zugleich die kulturpolitischen Postulate kommentierte, welche die SED von den Autoren einforderte, wie Parteilichkeit oder Gegenwartsnähe.
Mayer stellt als erkenntnisreich und ehrlich heraus, dass die von der marxistischen Orthodoxie viel gescholtene politische Tragödie "Don Karlos" "zwischen Spieler und Gegenspieler eine Parteinahme des Autors vermeidet". Sehr klug habe der Dichter erkannt, dass das Geschichtsdrama seiner eigentümlichen Begabung am nächsten liege, weil nämlich der objektiv vorliegende Stoff seine ausufernde Phantasie zügele. Kein bedauerlicher Irrweg also und der oft berufenen "deutschen Misere" geschuldet, dass er nicht im Stil der "Räuber" und von "Kabale und Liebe" fortfuhr und lieber "Wallenstein" und "Wilhelm Tell" schrieb. Mayer verteidigt Schiller gegen Angriffe Georg Büchners, den mehr mit Schiller verband, als er selbst wahrhaben wollte: "Für Büchner ist Schiller eine Art wirklichkeitsferner, idealistischer Träumer geworden: nichts entspricht weniger dem Charakter und Lebenslauf des wirklichen Schiller als dieses Zerrbild."
Die kraftvollen Jugenddramen zählt Mayer nicht zur "Sturm-und-Drang"-Periode, er sieht in den "Räubern" vielmehr eine Kritik an Goethes "Prometheus" oder dem "Götz von Berlichingen" - eine moralisch-politische Warnung vor zerstörerischem "Selbsthelfertum". Hätte Schiller die Tendenz von "Kabale und Liebe" als Theaterdichter fortgesetzt, hätte er sich dem Theaterpublikum und seinen veränderten Ansprüchen entfremdet. Damit ging Mayer auf Distanz zu seinem verehrten Freund Ernst Bloch, der zur gleichen Zeit mit dem Essay "Schiller und Weimar als seine Abbiegung und seine Höhe" Aufsehen erregte. Wegen seiner Vorliebe für das Reißerische und Sensationelle, für den "Karl May in Schiller", relativiert der Philosoph des "Prinzips Hoffnung" Schillers Weimarer Aufstieg gehörig: "Der größte Volksschriftsteller aller Zeiten trat unter höfischen, auch klassizistischen Marmor."
Damit war auch das offizielle Goethe-Bild tangiert. Denn zum Klischee der SED-Kulturpolitiker gehörte die Ansicht, dass Schiller sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt ohne das hilfreiche Eingreifen Goethes völlig in seinen idealistischen Spekulationen verloren hätte. Im direkten Vergleich blieb Schiller gelehriger Schüler. Abusch formulierte das schlicht so: "Goethe, realistischer in seinem Denken, (...) suchte materialistischer und tiefer nach einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt. (...) Goethe hatte ihn sein schöpferisches Prinzip gelehrt, in der künstlerischen Gestaltung vom Besonderen zum Allgemeinen aufzusteigen."
Solch plumpe Betonung von Goethes Materialismus wischt Mayer mit dem Satz beiseite: "Goethe hat sich selbst später, im Vergleich mit Schiller, gleichsam als fast allzu erdhaft empfunden."
"Wie stehen wir heute vor Schiller?"
Auf das Zeitlose an Schiller zielte auch die Leipziger Intervention, in verhüllter Präzision. Mayer litt an dem arroganten Umgang mit den "Meistern des Wortes". Von oben herab wurden sie gemessen am vermeintlichen Höchststand der Erkenntnis, wie der Parteimarxismus und die SED-Politik ihn repräsentieren sollten. Die Jugend wurde zu überheblicher Besserwisserei erzogen - auf der Basis geringen Wissens. Deswegen kann ich die folgende Passage der Rede nie vergessen: "Man spricht gern und etwas herablassend manchmal bei uns die Frage aus: Wie stehen wir heute zu Schiller? Vielleicht sollten wir solchen Fragen mit der wesentlich bescheideneren und gar nicht unberechtigten Gegenfrage antworten: Wie stehen wir heute vor Schiller?"
Nach einer Erinnerung an die Maitage 1945 folgte ein skeptisch-hoffnungsvoller Wunsch, formuliert nicht ohne das Pathos, das die Gattung Festrede erlaubt: "Im Aufblick zur reinen Größe dieses Mannes möge auch in uns das Gefühl erglühen, daß wir hier nicht bloß Dankbarkeit schuldig sind, sondern daß die höchste Dankbarkeit darin besteht, dafür zu sorgen, daß das Bild des Menschen, das Schiller so groß gesehen und gezeichnet, nicht durch uns und unsere Taten verdunkelt werde."
In der Hervorhebung des kräftig kantianischen Gedichts vom Ideal und vom Leben steckt auch eine erstaunliche Hellsicht, denn dieser Dualismus sollte vor allem von den siebziger Jahren bis zum Untergang der DDR den Streit zwischen den SED-Politikern und den im Lande gebliebenen Autoren bestimmen. Sie maßen die Verhältnisse am Ideal, an der Verheißung, an der Utopie - und die so genannten Realpolitiker, genervt vom lästigen Vergleich, erinnerten mahnend und drohend in einer Mixtur aus Hilflosigkeit und Machtwahn an das politisch Mögliche, Machbare, real Existierende.
Die eigentliche repräsentative Schiller-Ehrung 1955 fand eine Woche lang in Weimar statt. Thomas Mann wiederholte seine zuvor in Stuttgart gehaltene Rede über Schiller, den er - im Unterschied zu Goethe - ohne Vorbehalte schätzte und liebte. Noch einmal eine gesamtdeutsche Inszenierung voller Missverständnisse und divergierender Interessen; Johannes R. Becher sonnte sich gleichsam rhetorisch im Glanz des Gastes. Die DDR hatte dafür gesorgt, dass die Thüringer den bürgerlichen Humanisten überall demonstrativ begrüßten, wo er auftauchte. Es war der letzte große öffentliche Auftritt des beinahe Achtzigjährigen vor seinem Tode.
Rein protokollarisch betrachtet, war Mayer zurückgestuft worden. Seine großartige Rede zierte "nur" die Schiller-Ehrung der Stadt Leipzig. Im Goethe-Jahr 1949 war das noch anders gewesen. Überall trat Mayer damals vor Funktionären und Delegierten der FDJ auf, in Weimar, Leipzig und Berlin. Seine in einer "Dresdener Verlagsgesellschaft KG" erschienenen Reden sind den "Freunden der Freien Deutschen Jugend" gewidmet und stecken voller peinlicher Passagen. Die Feststellung, "daß Goethes Humanismus echte neue Wirklichkeit entfalten kann", unterschreitet Mayers Niveau ebenso beträchtlich wie die Behauptung: "Wer heute Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters bleiben will, landet unweigerlich in Verzweiflung und Barbarei: er hat dann Goethes Anliegen der Scheidung zwischen Kultur und Barbarei mit Notwendigkeit preisgegeben."
Natürlich spielte er damals auch Goethe gegen Schiller aus, dem er dogmatisch Abdankung, ästhetische Flucht, ja Spießbürgertum vorwirft. Er ist selbst beteiligt an der Desorientierung seines Publikums, das er gelegentlich - sehr komisch - mit "Junge Menschen!" anredet. Die sechs Jahre DDR-Aufenthalt haben den klugen, beweglichen Mann stark verändert. Die Schiller Rede von 1955 stellt daher auch ein Dokument der Abkehr von eigener partieller Blindheit dar. Nicht umsonst hat Mayer mit ihr seinen 1987 erschienenen Sammelband "Versuche über Schiller" beginnen lassen. Im Inhaltsverzeichnis ist sie der einzige Beitrag, der datiert ist: "Eine Schiller-Rede 1955". Das war eine Lektüreanweisung: Ihr Leser, denkt bitte schon beim ersten Satz an die Zeitumstände und staunt über das seinerzeit in Leipzig Gesagte.
Abschiede von der DDR
Für mich fiel das aufregende Ereignis in aufwühlende Zeiten. Die Fakultätsleitung verlangte von jedem Studierenden - kurz vor der Prüfung, als Bedingung für die Zulassung und die künftige Arbeit im Beruf - eine schriftliche Erklärung, dass man bereit sei, sich vom Staat an jedem von ihm bestimmten Platz einsetzen lassen und dort zum Nutzen der Gesellschaft arbeiten zu wollen. Das habe ich verweigert. Der Traum, man könne sich vielleicht doch in der Kulturredaktion einer Zeitung der Blockpartei CDU durchschlagen, war ausgeträumt. Ungefähr eine Woche nach der Schiller-Ehrung verließ ich die DDR und fand mich im "Auffanglager" Berlin-Marienfelde wieder. Für den Einundzwanzigjährigen war die Zeit reif für eine Entscheidung. Die Veranstaltung in der Leipziger Kongresshalle blieb auch deshalb so kräftig in meiner Erinnerung, weil sie die letzte war, an der ich als "DDR-Bürger" teilnahm. Aber dass sie nachwirkte, lag an der Kraft und Beredsamkeit des Redners, an dem Mut und der Intellektualität des Mannes, der mich in der DDR anregte wie kein anderer akademischer Lehrer.
Am 6. Oktober 1989, am Vorabend des 40. Gründungstages der DDR, kurz vor deren Untergang, führte ich mit Hans Mayer ein Rundfunkgespräch. Er freute sich, als ich ihm die beiden Büchlein von 1955 und von 1949 zum Signieren reichte. In "Das Ideal und das Leben" schrieb er hinein: "Fuimus Troes (Vergil)". Die berühmten Worte aus der "Aeneis", gesprochen in einer Endzeit, nach einem Untergang, "Troer oder Trojaner sind wir gewesen", konnte jetzt mancherlei heißen, Erinnerung an eine verlorene Hoffnung, die sich 1955 noch einmal an Schiller band, acht Jahre, bevor Mayer die DDR verließ, aber auch nüchterne Feststellung. In das ebenfalls rare Exemplar von "Unendliche Kette"' das 1949 noch mancherlei an dummen Platitüden zu Goethe und Schiller versammelte, schrieb er, ohne verärgert zu sein, hinein: "Auch das noch!" Mit großem Ausrufungszeichen.