Einleitung
Berlin, im Mai. In einer mehrfach von starkem Beifall unterbrochenen Rede vor dem Deutschen Bundestag hat der parteilose Abgeordnete Friedrich Schiller (Ludwigsburg) die geschichtsphilosophischen Perspektiven erläutert, die er für die Zukunft der deutschen Politik für unabdingbar hält. Sein Plädoyer für eine neue Universalgeschichte, das er unter dem Titel "Freiheit und Vernunft" vortrug, wolle er auch als Antidot gegen den zynischen postmodernen Umgang mit ihr verstanden wissen. Weil wir der Geschichte nicht entkommen können, brauchen wir eine utopische Perspektive. Eine Zeit, so Schiller, die nur eine persönliche, auf den eigenen Lebenshorizont zugeschnittene Perspektive kennt, nicht aber eine gesellschaftliche; eine Zeit, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, nicht aber die Entwicklung des Ganzen im Auge behält - eine solche Zeit wird sich immer gegen ihre Zeitgenossen wenden.
"Die Schranken sind durchbrochen", sagte Schiller, "welche Staaten und Nationen in feindseligem Egoismus absonderten. Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band (...). Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen." Man muss genau hinhören: Nur scheinbar sind wir in eine große Familie verwandelt. Und Schiller gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass es in der Zukunft nur bei den üblichen Anfeindungen bleibt, aber nicht mehr wie in der Vergangenheit zu Zerfleischungen kommt. Schiller bleibt trotz aller Emphase und trotz seiner strahlenden Vision eines Weltbürgertums ein Skeptiker. Ohne Skepsis kein Optimismus. Ohne Optimismus keine Politik. Überdies sei, so Schiller, der jetzt erreichte Stand der europäischen Einigung nur eine erste Stufe auf dem Weg zu einer umfassenderen, die sich weit über das Politische erheben müsse. Politik müsse in erster Linie wieder Kulturpolitik werden. Den Anhängern einer Theorie vom Ende der Geschichte, die im Erreichten bereits das Maximum des Erreichbaren sähen, stellt er seine Idee eines permanenten Entwicklungsprozesses entgegen, der - trotz aller Rückschläge - tendenziell unabschließbar sei. Natürlich ist auch der Abgeordnete Schiller nicht so naiv zu glauben, dass heute bereits alle "barbarischen Überreste aus dem vorigen Jahrhundert" in unserer Zeit beseitigt seien; es komme vielmehr darauf an, diese "Geburten des Zufalls und der Gewalt" aus dem "anbrechenden Zeitalter der Vernunft" zu vertreiben. "Lebe mit dem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf", rief Schiller den Abgeordneten zu, "leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben!"
Besondere Beachtung fand Schillers Attacke gegen die immer stärker um sich greifende Spezialisierung. Einige Kulturpolitiker schüttelten bedenklich den Kopf. Ein Teil unserer modernen Unfreiheit verdanken wir seiner Meinung nach dem Umstand, dass wir unser beschränktes Wissen nur noch verwalten, aber keine höherstufige Idee mehr damit verbinden. Eine Wissensgesellschaft, die Wissen zwar bereitstellt, aber nicht anwendet, ist für die Zukunft verloren. Wir brauchen - und zwar an allen Fakultäten, wie der Abgeordnete betonte - einen neuen philosophischen Geist. Nachdrücklich setzte er sich für interdisziplinäre Studiengänge ein, die er gegen eine ausschließliche Spezialistenausbildung stellte. Hierbei bezog er sich häufig auf den wohl ironisch gemeinten Brotgelehrten, den er für einen Ausbund an Halbbildung und falschem wissenschaftlichen Ehrgeiz hält: "Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Früh hat er sich überzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie der Sinnenwelt, alles ineinander greife, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet; seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick überschauet. Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den Brotgelehrten niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung, ein neu entdecktes Gesetz in der Körperwelt den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System, und gerne wird er die alte, mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. Ja, wenn kein Streich von außen sein Ideengebäude erschüttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der erste, der es unbefriedigt auseinanderlegt, um es vollkommener wiederherzustellen. Durch immer neue und immer schönere Gedankenformen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortrefflichkeit fort, wenn der Brotgelehrte in ewigem Geistesstillstand das unfruchtbare Einerlei seiner Schulbegriffe hütet."
Von in- wie ausländischen Kommentatoren wurde besonders die starke rhetorische Qualität der Rede des Abgeordneten hervorgehoben, das im Parlament in den vergangenen Jahren nicht mehr erlebte sprachliche Feuer, das höchste theoretische Ansprüche mit sehr praxisnahen Vorstellungen ihrer Umsetzung in eine inspirierende Form goss. Politiker seien dazu verpflichtet, zukunftsoffen zu sein, und wer sich davor drücke, die Zukunft zu interpretieren, habe im Parlament nichts verloren.
Es wird sich zeigen, ob die - gemessen an der pragmatisch abgestimmten Arbeitsweise des Parlaments - utopischen Ausführungen Schillers - der im (angemeldeten) Nebenberuf flammende Theaterstücke meist politischen Inhalts schreibt - für die politische Arbeit taugen. Das von ihm bemühte alte Bild der Kette jedenfalls, die sich durch die Jahrhunderte zieht und an deren Ende wir stehen, um sie in die Hände der nächsten Generation zu legen, hatte nichts von seiner Überzeugungskraft verloren. Ob auch die mit dem Bild der Kette verbundene "Verbesserung" des Menschengeschlechts von Generation zu Generation fortschreitet, müssen wir dem Urteil der Nachgeborenen, die sich im Zeitalter der Globalisierung mehr und mehr an "Brüchen" orientieren, überlassen.
Wir zitieren den Schluss seiner Rede: "Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen, haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden die Bestimmung auch sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet - etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit, meine ich, wo die Tat lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte."
Schiller 2005
So ungefähr, stelle ich mir vor, soll der Bericht klingen, den ich nach der Schiller-Feier im Deutschen Bundestag in der Presse lesen möchte. Schiller hielt seine berühmte Antrittsvorlesung "Was und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?", aus der wir zitiert haben, am 26. Mai 1789 in Jena. Ganz Jena war anwesend. Wenige Wochen später begann mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution. Ob auch sie ausschließlich dem Telos der Geschichte folgte, also entwicklungsgeschichtlich unvermeidlich war, sei dahingestellt, die Mittel, die den Zweck heiligen sollten, waren jedenfalls alles andere als zimperlich. Eine zu strikt durchgehaltene Geschichtsphilosophie, auch wenn sie am Anfang idealistisch formuliert wird, hinterlässt am Ende, wenn die Macht sich ihrer allzu reichlich bedient hat, oft einen Berg von Leichen. Das wusste auch Schiller, der Chronist des Dreißigjährigen Krieges. Also stellte er Rousseau auf den Kopf: Nicht der edle Wilde steht am Anfang der Geschichte und entwickelt sich zum bösen Zivilisierten; sondern aus dem unzivilisierten wilden Naturmenschen entsteht im Verlaufe der Geschichte der gebändigte Mensch, der sowohl seine eigenen Interessen vertritt als auch die der Gemeinschaft. Es lag nicht an Schiller, wenn das zwanzigste Jahrhundert sich nicht nach diesem Bilde malen ließ.
Am Beginn der französischen Erhebung, noch in der Bewegung des Anfangs, verlieh die französische Nationalversammlung dem deutschen Schriftsteller Friedrich Schiller und einer Reihe weiterer Persönlichkeiten, unter anderem Klopstock, das Ehrenbürgerrecht. Das Dokument wurde von Danton persönlich unterzeichnet. Danton, wie Schiller 1759 geboren, war, als Letzterer den Ehrenbürgerbrief mit großer Verspätung erhielt, vom so genannten Wohlfahrtsausschuss bereits guillotiniert worden. 1794, als sein Kopf rollte, schrieb Schiller in Jena den für den deutschen Geist bahnbrechenden Essay "Über die ästhetische Erziehung des Menschen". Zwei Revolutionäre mit sehr unterschiedlichen Schicksalen: Danton wurde Opfer der von ihm selbst mitentfachten Revolution; Schiller wurde Opfer seiner schwachen Konstitution.
Er starb vor zweihundert Jahren; jetzt soll er, der seit seinem Tod ein bevorzugtes Objekt unserer Gedächtniskultur war, groß gefeiert werden. An seinem hundertsten Geburtstag, am 10. November 1859, war ganz Deutschland auf den Beinen. Sogar in Berlin gedachte man seiner. In "Mäders Lokal", dem ehemaligen Gasthaus, in dem Schiller im Mai 1804 logierte - (es war sein einziger Besuch in Berlin) -, versammelt sich der literarische Sonntagsverein "Tunnel unter der Spree" und erhebt die Gläser zu einem Toast von Theodor Fontane:
"Gebrach uns noch die hohe heil'ge Flamme,
Die unseren Geist von Kleinheit, Sehnsucht reinigt
Und uns zusammenschweißt zu einem Stamme;
Und Schiller kam - und Deutschland war geeinigt."
Dieser in Michael Bienerts "marbachermagazin" über Schiller in Berlin zitierte Toast mit seinem anrührend-pathetischen Schlussvers sollte in uns nachhallen, wenn wir jetzt die Festtagsvorkehrungen für seinen Todestag treffen.
Oder ist schon wieder alles vorbei? Die Umdrehungsgeschwindigkeit, mit der wir unser kulturelles Leben organisieren, ist so schnell geworden, dass sich die Zeit gewissermaßen selbst überholt. Noch ehe die tatsächlichen Gedenktage feierlich "begangen" werden können, sind sie öffentlich schon abgefeiert worden. Viele der großen Zeitungen haben reichhaltiges Material zusammengestellt, um die anhaltende Wirkung oder die andauernde Wirkungslosigkeit Schillers nachzuweisen. Und während der eine, Schiller lesend, nicht genug kriegen kann, wendet der andere sich mit Grausen. Warum aber schon ein dreiviertel Jahr vor dem Ereignis? Eben noch wurde - nach Adornos 100. Geburtstag - Kant anlässlich seines zweihundertsten Todestages gewürdigt, da verdrängte die Neuausgabe des Kosmos von Alexander von Humboldt die Kritiken des Königsbergers, und während wir noch mit Humboldt in wärmeren Gegenden uns ergingen, beschwerten schon, noch 2004, die ersten dicken Schiller-Dossiers unser (schlechtes) kulturelles Gedächtnis.
Und während wir also noch einmal die Schrift des Historikers Schiller zur "Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung" lesen, in der es noch wohlgemut heißt: "Die Geschichte der Welt ist sich selbst gleich wie die Gesetze der Natur und einfach wie die Seele des Menschen"; oder die des Ästhetikers mit seiner Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung; oder gar uns die Theaterstücke noch einmal vornehmen und gleichzeitig die Biographien verschlingen, die uns die schrecklichen Bedingungen vor Augen führen, unter denen dieses Werk der Schönheit (als Freiheit in der Erscheinung) entstanden ist- während wir uns also noch einmal (und wahrscheinlich zum letzten Mal) tief in dieses von enthusiastischem Pathos und großer Scharfsinnigkeit durchtränkte Werk einlesen, müssen wir uns bereits mit der hundert Jahre später durch Einstein formulierten Allgemeinen Relativitätstheorie herumschlagen (die wir bisher nie genau verstanden haben und von der wir deshalb auch nicht wissen, ob und wie sie unser Verhältnis zu Schiller beeinflussen kann); und während wir noch darüber nachdenken, ob unser Zeit- und Raumgefühl durch Einstein tatsächlich eine Veränderung erfahren hat, müssen wir Stifters Geburt (1805) gedenken oder an das erste Erscheinen des Don Quichotte (1605) erinnern, an einen Roman, wie ihn die deutsche Literatur leider nie hervorgebracht hat; und sollten wir nicht auch für Hans Christian Andersen (der im Todesjahr Schillers geboren wurde) und seine Liebe zu Deutschland ein Gedenkblatt schreiben, auch wenn unsere Aufmerksamkeit eigentlich den hundertsten Geburtstagen Canettis und Sartres gelten sollte?
Die Pessimisten unter den Kritikern des öffentlichen Jubiläumswesens wollen sich nicht vom Kalender vorschreiben lassen, wann sie zu welchen Büchern greifen sollen. Das ist ihr gutes Recht. Aber sind diese Pessimisten nicht in aller Regel Professoren, die immer darüber klagen, dass sowieso kein Student mehr die Klassiker liest? Dass jegliches historische Bewusstsein ausgetrocknet ist, weil kein Mensch sich der Mühe unterziehen will, die Alten zu studieren? Sollen wir Weihnachten, Ostern und Pfingsten abschaffen, weil wir uns nicht vorschreiben lassen wollen, wann wir uns an die christlichen Grundlagen unserer Zivilisation erinnern lassen wollen?
Die Geschichte der Moderne, die mit der Französischen Revolution beginnt, ist kurz. Sie ist geprägt von der Idee der Freiheit, wie wir sie noch heute verstehen. Es gibt, das bestätigt uns ein Blick auf den immer noch von Kriegen beherrschten Planeten, gute Gründe, an die zu erinnern, die diese Idee unserer Freiheit formuliert haben. Schiller gehört dazu. Also wollen wir ihn feiern: in Schulen und Universitäten, auf dem Theater und im Parlament, auf allen Bühnen, die geeignet sind, diesen großen Schriftsteller der Freiheit zu ehren.