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Musik in nationalsozialistischen Konzentrationslagern

Helmke Jan Keden

/ 17 Minuten zu lesen

Eine Vielzahl von Quellen und Untersuchungen zeigen, dass Musik in vielfältiger Weise zur brutalen Lebenswelt der Konzentrationslager gehörte.

Einleitung

Die beiden Begriffe "Musik" und "Konzentrationslager" stehen sich scheinbar unvereinbar gegenüber. So sträubt man sich, den Inbegriff der grausamen Realität des "Dritten Reiches", die nationalsozialistische Internierungs- und Vernichtungsmaschinerie, mit musikalischen Konnotationen zu verknüpfen, doch hat die Forschung in einer Vielzahl von Beiträgen darauf hingewiesen, dass Musik häufig ein fester Bestandteil in Konzentrationslagern war. Dabei bezogen sich diese Untersuchungen und Berichte zumeist auf die exemplarische Darstellung der gängigen Musikpraxis in unterschiedlichen Lagern und ihre zum Teil erschütternden Umstände. Eine vertiefende, systematische Beschäftigung setzte bis auf wenige Beiträge bisher nur zögerlich ein.

Auch wenn sich momentan der Fokus des wissenschaftlichen Interesses innerhalb der Auseinandersetzung mit Musik in totalitären Staatssystemen wieder zu übergreifenden, besonders komparatistischen Diskursen öffnet, kann gerade die Erörterung der funktionalen Bedeutung von Musik in Konzentrationslagern auch diese Intentionen mit neuen Sichtweisen bereichern. So beinhaltet die vergleichende Untersuchung des Einsatzes von Musik im Mikrokosmos "Lager" die Möglichkeit, Erkenntnisse in der ambivalenten Funktionalisierung von Musik, bzw. über deren Einsatz durch Unterdrücker und Unterdrückte gleichermaßen, zu gewinnen. Ohne den instrumentalen Musikbereich vernachlässigen zu wollen, soll der Schwerpunkt auf der Darstellung der vokalen Musikpraxis liegen. Sie hatte in den Lagern eine besonders große Bedeutung, weil sie zu den ursprünglichsten Formen musikalischer Betätigung zählte.

Funktionen musikalischer Praxis für das NS-Lagerpersonal

In der Forschungsliteratur sind eine Vielzahl von Verwendungszusammenhängen erwähnt, die den "Einsatz" von Musik durch die nationalsozialistischen Unterdrücker in den Konzentrationslagern schildern. Nachfolgend werden die wichtigsten Funktionen dieser Musikpraxis kurz dargestellt.

Die musikalisch aktiven Internierten wurden in den Lagern häufig zu Instrumental- und Vokalensembles zusammengefasst und mussten repräsentative Aufgaben bei offiziellen Anlässen (z.B. politischen Gedenkfeiern) übernehmen. Sie "dienten auch als Zierde beiLagerbesichtigungen durch auswärtige Besucher" und wurden bei anstehenden Inspektionen von hochrangigen Parteimitgliedern eingesetzt. Teilweise betrieben die Lagerführer solche Ensembles auch aus Liebhaberei. Diese musikalischen Gruppen konnten aber gleichzeitig auch die Funktion eines Statussymbols übernehmen, wenn sie als Mittel zur Machtdemonstration gegenüber Untergebenen und anderen Lagerleitern eingesetzt wurden.

Konzerte und kulturelle Veranstaltungen wurden dazu eingesetzt, Menschenrechtsvertreter anderer Länder sowie Mitarbeiter des Roten Kreuzes über die wahren Zustände in den Lagern hinwegzutäuschen. Besonders im KZ Theresienstadt lud man nach groß angelegten Selektionen und damit verbundenen Verschleppungen in die östlichen Vernichtungslager kritische Besucher ein, um ihnen mit Hilfe von kulturellen Vorführungen im Rahmen der so genannten "Freizeitgestaltung" ein scheinbar normales Lagerleben vorzugaukeln.

Doch nicht nur Menschenrechtsvertreter wurden durch Musik über die wahren Zustände der Lager getäuscht, sondern auch neue Lagerhäftlinge, die durch Begrüßungsmusik beruhigt werden sollten, um Unruhe und Massenpaniken zu vermeiden. So berichtet Gabriele Knapp von der Sängerin Eva Stern, die - vom Auschwitzer Frauenorchester begleitet - sowohl die Ankunft der Züge als auch die anschließenden Selektionen und den Weg der Ausgesonderten zu den Gaskammern gesanglich untermalen musste.

In den Konzentrationslagern wurde Gesang häufig auch als Mittel zur Demütigung und Erniedrigung der Inhaftierten eingesetzt. Um den inneren Willen der Häftlinge zu brechen, mussten sie z.B. Lieder singen, die im eklatanten Widerspruch zur erlebten Realität standen. Im Gegensatz zur oben dargestellten Praxis bei Neuankömmlingen in Auschwitz mussten die Neuzugänge im KZ Sachsenhausen zu ihrer eigenen Erniedrigung u.a. "Alle Vögel sind schon da" singen. Auch beim Abendzählappell mussten die Inhaftierten entwürdigende Schmach über sich ergehen lassen: "Allenfalls wünschte der Lagerführer 'Ein Lied'. Je strömender der Regen floß (...), desto dümmer war das Lied, das gesungen werden mußte - einmal, dreimal, auchfünfmal hintereinander, zum Beispiel: 'Kommt ein Vogel geflogen ...' oder 'Was schimmert am Waldesrand ...'."

Im KZ Buchenwald mussten inhaftierte Juden - als "Strafverschärfung" - bei Besuchen hoher Wehrkreiskommandanten nach dem Abendappell das so genannte "Judenlied" singen: "Jahrhundert' haben wir das Volk betrogen, kein Schwindel war uns je zu groß und stark, wir haben geschoben nur, gelogen und betrogen, sei's mit der Krone oder mit der Mark (...)."

Gisela Probst-Effah hat in ihrer Untersuchung nachgewiesen, dass Gefangene, die beim Singen "mangelnde 'Inbrunst' erkennen ließ[en], (...) mit Prügeln und Fußtritten traktiert wurden". Häufig ordnete das Lagerpersonal auch bei der Abführung zu den Gaskammern instrumentale Musik und Gesänge an. Hinrichtungen und Folterungen wurden zum Teil mit Musik begleitet, um diesen Handlungen einen "zeremoniellen Charakter" zu verleihen.

Es gibt Berichte, die darauf hindeuten, dass Musik bei den Arbeitskolonnen auch als Mittel zur Selektion eingesetzt wurde. So mussten die Häftlinge auf dem Weg zur Arbeit, während der Arbeit und beim Rückweg ins Lager singen. Dabei richtete sich der Fundus der zu singenden Lieder meist nach dem Repertoire der Arbeitsgruppenführer, so dass Volkslieder, wie "Das Wandern ist des Müllers Lust" und "Steht ein Dörflein mitten im Wald" weit verbreitet waren. Zeigten sich die durch die körperliche Arbeit und Quälereien entkräfteten Häftlinge unwillig, weiter zum Gesang zu marschieren oder Lieder zu singen, wurde dies als Zeichen körperlicher Schwäche interpretiert und hatte eine Aussonderung und teilweise sogar den Tod zur Folge.

Musik wurde ebenso als administrative Hilfe zur Koordination von Bewegungsabläufen eingesetzt. Wenn Kolonnen zum Arbeitsdienst aus dem Lager geführt wurden, musste rhythmisch musiziert werden: "Mit der Musik sollten überdies die Fünferreihen der Häftlinge, wenn sie das Lagertor passierten, ausgerichtet und in Gleichschritt gebracht werden, damit sie von der SS ohne viel Mühe während des Marsches genau gezählt werden konnten."

Es gibt auch Hinweise dafür, dass die SS anfangs versucht hat, Gesang als Mittel zur Arbeitssteigerung einzusetzen. Jedoch behielt die SS diese Praxis nicht lange bei, weil jene Form musikalischer Funktionalisierung unter den menschenfeindlichen Umständen der Lager zum Scheitern verurteilt war. Aus den Konzentrationslagern Buchenwald-Neuengamme und Auschwitz wird berichtet, dass bei Erschießungen Musik angeordnet wurde, um die Lautstärke von Schreien und Schüssen bei Hinrichtungen zu übertönen.

Musik diente den nationalsozialistischen Unterdrückern als Möglichkeit der Unterhaltung und Regeneration vom "Lager-Alltag". Das Wachpersonal sah in Musikvorträgen auch die Möglichkeit, neue Kraft für die nächsten schrecklichen Taten zu schöpfen. Dabei ließen sich die zum Teil musikbegeisterten Despoten musikalische Werke von den Häftlingen vortragen. Es ist kaum vorstellbar, welche Belastung dies für die Aufführenden bedeutete, sollten sie sich doch für die Erholung ihrer eigenen Peiniger einsetzen und damit der weiteren Unterdrückung Vorschub leisten.

Funktionen musikalischer Praxis für die Internierten

Sämtliche der nachfolgenden musikalischen Umgangsweisen lassen sich größtenteils Funktionen zuordnen, die als Form des Widerstandes gegen die oktroyierten Umstände verstanden werden können. In Anlehnung an die von Eckard John vorgenommene Systematik musikalischer Praxis in NS-Konzentrationslagern sind die folgenden Funktionen vokaler Musikpraxis in den Bereich des "passiven" und des "aktiven Widerstandes" eingeordnet. Dabei werden unter "passivem Widerstand" die Formen von musikalischer Betätigung aufgezählt, die den reinen Überlebenswillen in jeder Hinsicht unterstützten und so der eigenen Selbstaufgabe entgegenwirkten. Als "aktiver Widerstand" werden die durch musikalische Mittel dargestellten Meinungsäußerung und das Aufzeigen der Missstände bezeichnet. Diese Art der Kritik musste zumeist subtiler ausgeübt werden, da eine Aufdeckung durch die SS unweigerlich Repressalien zur Folge gehabt hätte.

Passiver musikalischer Widerstand

Häufig wurde Musik von den Häftlingen als Teil einer Überlebensstrategie genutzt, um die erlittenen Demütigungen zu verarbeiten und auf diese Weise die eigene Willenskraft zu stärken. So konnte für die Häftlinge Musik eine Möglichkeit der kurzen Flucht aus der grausamen Realität bedeuten, die in eskapistischer Art und Weise von den unmenschlichen Umständen ablenkte. Ob als aktives Mitglied eines Ensembles oder als Rezipient einer Aufführung war so die Möglichkeit gegeben, dem Lageralltag zumindest kurzzeitig zu entfliehen. Die in Theresienstadt als Krankenschwester internierte Jüdin Resi Weglein berichtet über die Wirkung damaliger Aufführungen: "In der Magdeburger Kaserne war im Raum 241 eine kleine primitive Bühne errichtet worden, und wenn man auch in schrecklicher Enge dort sitzen mußte, so war man glücklich, einige Stunden des Elends zu vergessen." Eine äußere und damit öffentliche Konfliktlösung war kaum möglich bzw. lebensgefährlich. Hier wird auch die Ambivalenz der funktionalisierten Musikpraxis deutlich, die bei gleichen Intentionen unter völlig konträren Vorzeichen bei Unterdrückern und Unterdrückten stand: Nutzten die einen zum Teil die Musik, um sich von ihren mörderischen Taten zu erholen und in eine fiktive Kulturwelt hineinversetzen zu lassen, praktizierten die Häftlinge unter anderen Gegebenheiten die gleiche Musik, um ebenfalls derselben Realität zu entfliehen. Dabei wurde von einigen ehemaligen Gefangenen des Theresienstädter KZs im Nachhinein diese Abschottung von der Realität und Flucht in eine imaginäre Scheinwelt des vermeintlich konventionellen "Kulturlebens" kritisch reflektiert: "So viel auch zur Auswahl stand, nie schien es genug, man betrug sich schamlos, unersättlich und gedankenlos. Diesen tobenden Drang, der zahlreiche Ventile fand, kann man freilich nicht mehr Kultur nennen."

So wie die Despoten Musik in bestimmten Situationen als Mittel der Erniedrigung einsetzten, half das gemeinsame Musizieren den Häftlingen, erfahrenes Leid besser zu verarbeiten. Wünsche und Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte ließen sich durch Musik ausdrücken bzw. kompensieren: "Es ist unglaublich, welche Kraft in unserem Gesang lag, wie er half, die Beziehungen in den unmenschlichen Verhältnissen und in der unmenschlichen Zeit menschlicher zu gestalten. Unsere Lieder wirkten wie Balsam auf unseren verwundeten Seelen."

Durch gemeinsame Musik und ganz speziell durch gemeinsames Singen konnten die Häftlinge die Gefahr zerstörerischer Selbstaufgabe der eigenen Person vermindern und somit den gemeinsamen Durchhaltewillen stärken: "Wie oft haben wir unseren Trotz und Widerstandswillen hinausgesungen und den Menschen Kraft zum Aushalten gegeben! Wir riskierten wirklich Kopf und Kragen, wenn wir (...) mit unserem Chor 'Unsere Stunde hat geschlagen, die Tore stehen offen!` aus Smetanas 'Der Brandenburger in Böhmen` (...) sangen."

Gemeinsames Musizieren spendete auch Hoffnung auf eine andere Welt, außerhalb des Stacheldrahtes. "Mehr als einmal", erinnert sich Hermann Langbein, "bin ich in diesem Probesaal gestanden und habe deutlicher als jemals vor - oder nachher - die Kraft der Musik gefühlt, die davon kündet, daß es außerhalb von Auschwitz eine menschliche Welt gab (...)."

Ähnlich, wie die Wirkung des gemeinschaftlichen Gesanges von den Nazis außerhalb der Lager zur Ideologisierung und Erzeugung eines Gemeinschaftsgefühls genutzt wurde, spielte somit für die Inhaftierten der nicht zu unterschätzende psychologische Aspekt des Zusammengehörigkeitsgefühls beim gemeinsamen Singen eine gewichtige Rolle im täglichen Überlebenskampf: "Durch unsere Lieder wollten wir die Genossen davor retten, sich resignierend aus der Gemeinschaft zu lösen und zu Individualisten zu werden. Gerade im Lagerleben und bei der Fronarbeit war Kameradschaft das eiserne Gesetz aller Häftlinge, wollten sie nicht in der Gefangenschaft zugrunde gehen. Und nichts bindet und schweißt fester zusammen als das Lied."

Lieder, welche die SS verboten hatte, wurden heimlich in ständig wechselnden Baracken gemeinsam gesungen. Zu den Proben zog man sich bisweilen auf bei der SS unbeliebte Orte wie z.B. die Entlausungsstation zurück. Harry Naujoks berichtet von der Schwierigkeit der Legitimation solcher Treffen und beschreibt die Atmosphäre einer solchen Gesangsveranstaltung: "Wenn ein Schallerabend zur Diskussion stand, hatten wir immer das Argument: Wir üben nur, damit das Singen auf dem Appellplatz klappt. Bei den Schallerabenden saßen die Teilnehmer auf dem Fußboden, auf den Bänken, Tischen und Schränken, und sie hingen auch noch im Gebälk. (...). Vor allem wurden Volkslieder gesungen."

Durch die Beschäftigung mit Musik war die geistige Auseinandersetzung mit einem künstlerischen Gegenstand gefordert. Da die Häftlinge in den Lagern zumeist monotoner Arbeit nachgehen mussten, konnte die musikalische Betätigung dazu benutzt werden, der geistigen Unterforderung des täglichen Arbeitsdienstes und der Lethargie zu entkommen. Intellektuelle Beschäftigung wurde von den Nazis bewusst verboten, da man fürchtete, hierdurch den Widerstand zu beleben. Inhaftierte Komponisten gingen zum Teil sogar so weit, die erlittenen Grausamkeiten in Bezug auf ihr künstlerisches Schaffen positiv umzudeuten und den unfreiwilligen Inhaftierungszustand als Chance für neue kreative Ansätze zu nutzen. So schreibt der in Theresienstadt inhaftierte Komponist Viktor Ullmann, "daß ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, daß wir keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und daß unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war".

Die aus unterschiedlichen politischen, konfessionellen, nationalen und sozialen Gruppen zusammengepferchten Menschen sahen in der Musik ebenso eine Chance, ihre individuelle Eigenständigkeit zu bewahren. Traditionen, die an die Heimat erinnerten, politische Solidarität und Gesinnung oder bestimmte religiöse Anschauungen konnten weiter gepflegt werden und bildeten einen wichtigen Gegenpol zur verordneten Gleichheit. Dabei wurde gemeinsames Musizieren auch bewusst zur Kontaktaufnahme und Völkerverständigung unter den Gefangenen genutzt.

Durch die Regelmäßigkeit von Aufführungen und Proben etablierten sich bestimmte Abläufe, die eine gewisse Form von kultureller "Normalität" vermitteln konnten. Die damit verbundene Stetigkeit wurde von den Häftlingen zum Teil als vermeintliche Sicherheit empfunden und half den Terror der Konzentrationslager ertragbarer zu machen.

Interessant ist diese Bedeutung auch hier wieder im Hinblick auf die Parallele zur musikalischen Funktionalisierung durch das Lagerpersonal. Dabei lässt sich eine ambivalente Doppelfunktion der musikalischen Praxis deutlich erkennen, weisen doch einige Berichte darauf hin, dass das "Kulturleben" im Lager vom Personal ebenfalls mit Wesenszügen einer konventionellen Gesellschaft in Verbindung gebracht wurde. Allerdings geschah dies hier unter völlig anderen Vorzeichen, da die kulturelle Betätigung der Häftlinge vom Lagerpersonal zur eigenen Selbsttäuschung eingesetzt wurde, um z.B. im Schein der schönen Künste zumindest gedanklich in eine andere Welt zu fliehen. So stellte einerseits die SS durch die erzwungene Musikausübung der Massentötung ein den Wahnsinn unterstützendes Element zur Seite und legitimierte dies auch als kulturelle "Normalität" für die realitätsferne "Erholung" von begangenen Gräueltaten. Andererseits wurden aber auch die gleichen musikalischen Aktivitäten von den Häftlingen mit ganz anderen Intentionen als Teil einer Überlebensstrategie, u.a. durch die vorgetäuschte Suggestion eines "normalen" Kulturlebens, herangezogen. Offenkundiger kann die funktionale Ambivalenz der gleichen Musikpraxis nicht sein.

Aktiver musikalischer Widerstand

Bezüglich des "aktiven musikalischen Widerstandes" kam auch hier besonders dem Gesang als nächstliegende Form der musikalischen Äußerung eine exponierte Rolle zu, konnten doch gegenüber der instrumentalen Musik gerade über den Text wichtige Intentionen vermittelt werden. Doch mussten die Internierten diese oft kreativ verbergen, um Strafverfolgungen zu entgehen. In der Forschungsliteratur finden sich u.a. folgende Formen des "aktiven Widerstandes".

Die von den Nazis vorgegebenen Lieder wurden absichtlich falsch gesungen: "Trotz härtester Strafen nahmen die Häftlinge die ihnen oktroyierten Gesänge nicht widerspruchslos hin. Sie sangen absichtlich unrein und falsch, brüllten oder sangen zu leise."

Auch variierte man Gesänge in vielerlei Hinsicht. So wurden z. B. NS-Liedern neue Texte unterlegt. Texte, die bestimmte Intentionen enthielten, wurden geändert und teilweise parodiert. Dadurch bekamen bisher weniger sinntragende Wörter neue Bedeutungen. Verbotene Lieder wurden heimlich gesungen. Besonders die inhaftierten Aktivisten der Arbeitersängerbewegung veranstalteten heimliche Treffen, bei denen traditionelle Arbeiterlieder gesungen wurden.

In den Konzentrationslagern entstand auch eine Reihe von neuen Liedern, die, wenn zum Teil auch versteckt, die Zustände in den Lagern anprangerten. Teilweise wurden die Stücke sogar auf Befehl der SS komponiert, wie die so genannte Lagerhymnen (z.B. in Buchenwald und Sachsenhausen). Das wohl bekannteste Lied, welches im KZ als Widerstandslied entstand, ist das von Rudi Goguel, Wolfgang Langhoff und Johann Esser im Konzentrationslager Börgermoor geschriebene "Moorsoldatenlied", in dem der Widerstand durch Selbstbehauptung gegen die Unterdrücker deutlich wird. Dabei sollte das Lagerleben auch kompositorisch umgesetzt werden. So äußerte sich der Komponist Rudi Goguel zum Anfang des Liedes dahingehend, dass "die drei gleichbleibenden Töne, mit denen das Lied beginnt, (...) die Öde des Moores und die schwere Situation charakterisieren, unter der die Moorsoldaten leben mußten".

Das Werk wurde unmittelbar nach seiner Uraufführung, die im Rahmen der von den Gefangenen organisierten Kulturveranstaltung "Zirkus Konzentrazani" stattfand, von der SS verboten. Allerdings waren einige SS-Aufseher von dem Lied so fasziniert, dass sie es sich später immer wieder vorsingen ließen. Das Werk fand schnell seinen Weg in andere Konzentrationslager und konnte so von einer großen Anzahl von Chören, meist heimlich als Widerstandslied, gesungen werden. Im Ausland wurde das Lied u.a. von den der Arbeitersängerbewegung nahe stehenden Komponisten Hanns Eisler und Ernst Hermann Meyer aufgegriffen, bearbeitet und als Mittel des Widerstandes und zu Aufklärungszwecken eingesetzt.

Theresienstadt

Aus einer Vielzahl von Lagern sind Berichte über die Existenz von instrumentalen und vokalen Ensembles überliefert, wobei sicherlich die meisten Quellen über musikalische Aktivitäten aus dem "Durchgangslager" Theresienstadt stammen. Zum einen ist diese Tatsache sicherlich auf die große Zahl von etablierten Musikern bzw. Musikschaffenden zurückzuführen, die in diesem Lager zeitweise interniert wurden, zum anderen liegt dies auch in der speziellen repräsentativen Bedeutung begründet, die diesem Lager von Seiten der Nationalsozialisten eingeräumt wurde.

Exemplarisch für die unvorstellbaren Umstände, unter denen durch die Gründung von Orchestern, kammermusikalischen Gruppen und Vokalensembles eine "Kultur" in diesem Lager entstand, seien hier einige Ausführungen Joza Karas' über die Tätigkeiten des Dirigenten, Komponisten und Pianisten Rafael Schächter erwähnt. Dieser baute nach seiner Inhaftierung (30. November 1941) zuerst illegal, dann im Rahmen der von den Unterdrückern angeordneten so genannten "Freizeitgestaltung" mehrere musikalische Ensembles auf.

So konnte er schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Theresienstadt einen Chor mit etwa 20 männlichen Laiensängern etablieren, der sich bald enormer Beliebtheit erfreute. Ebenso gründete Schächter einen Frauenchor, den er später mit dem ersten Chor zu einem 50 bis 60 Personen starken gemischten Vokalensemble zusammenfasste. Die Proben wurden zuerst in einem kleinen Raum in einer Baracke der Sudeten abgehalten. Später zog man dann in den Keller des Kinderheims um.

Rafael Schächter begann mit der Einstudierung einfacher Volkslieder, wobei er in dem ebenfalls internierten tschechischen Komponisten und Pianisten Gideon Klein einen engagierten Korrepetitor, Mitarbeiter und späteren engen Freund fand. Dieser arrangierte ab April 1942 u.a. tschechische, schlesische, hebräische und russische Volkslieder, sowohl für den Männerchor als auch für das Frauenensemble.

Neben der Beschäftigung mit Werken von Gideon Klein begann Rafael Schächter ohne Hilfsmittel mit den Proben für einige Chorpartien aus B. Smetanas Oper Die verkaufte Braut. Als mit zunehmenden Inhaftierungswellen immer mehr Häftlinge nach Theresienstadt verschleppt wurden, konnten passende Solisten gefunden werden, so dass unter widrigsten Umständen die Proben zur konzertanten Aufführung der Oper aufgenommen wurden. Am 28. November 1942 fand die Premiere der Oper statt. Rafael Schächter dirigierte den Chor und begleitete das Ensemble auf einem alten Klavier. Die Aufführung wurde vom musikalisch gebildeten Publikum als "musikalische Großtat" gefeiert und war so erfolgreich, dass sie 35 Mal wiederholt wurde.

Neben dem Opernensemble von Rafael Schächter wird auch noch von der Gründung eines weiteren Ensembles aus deutschen, österreichischen, böhmischen und mährischen Chören berichtet, das zusammengefasst unter der Leitung des Wiener Dirigenten und Komponisten Franz Eugen Klein ebenfalls weitere Opern (u.a. B. Smetanas Kuß, W. A. Mozarts Zauberflöte und Die Hochzeit des Figaro) realisierte. Auch die Aufführung großer Oratorien, wie J. Haydns Schöpfung und F. Mendelssohns Elias, beide unter der Leitung von Karl Fischer, sind überliefert.

Die SS-Kommandeure zeigten bei der Einübung der Werke ein sehr ambivalentes Verhalten: Stand in nächster Zeit keine Inspektion oder Führung durch das Lager an, wurde das kulturelle Leben stark eingeschränkt, teilweise sogar verboten. Kurz vor Besuchen, "da sie eine Kommission erwarteten, (...) ordneten sie an, daß die Opern in tadelloser Ausstattung mit Kostümen und Perücken aufgeführt werden sollten, kurz, daß man wirkliches Theater spielen sollte".

Diese Willkür sei abschließend an einem letzten Beispiel verdeutlicht, welches die unsäglichen Schwierigkeiten und die unfassbare Realität im Lageralltag exemplarisch verdeutlichen soll: "Nachdem der Dirigent Rafael Schächter im September des Jahres 1943 neben den vier Solisten glücklich einen Chor von etwa einhundertfünfzig Sängern versammelt hatte und die Premiere erfolgreich über die Bühne gegangen war, wurde dem Unternehmen ein jähes Ende gesetzt: Eine Wiederholung der Aufführung konnte nicht stattfinden, weil ein Osttransport den gesamten Chor ausradierte. Schächter verzweifelte nicht. Er stellte einen neuen Chor von gleicher Größe zusammen und studierte das Werk neu ein. Als sei dies nicht genug, ereilte das Vorhaben noch einmal ein vernichtender Rückschlag in Gestalt eines weiteren Osttransports, der den Chor zerstörte. Wieder begann Schächter von vorn, stellte zum dritten Mal einen Chor zusammen; diesmal vermochte er allerdings nur sechzig Sänger zu versammeln, und mit dieser Gruppe gab er dann fünfzehn Aufführungen. Die Opfer feierten ihre eigene Totenmesse."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans-Günther Klein, ...Wenigstens den "zweiten Tod" wieder aufzuheben ... Komponisten in Theresienstadt, in: Neue Zeitschrift für Musik, 156 (1995) 1, S. 30 - 33; Ulrike Migdal, Und die Musik spielt dazu. Chansons und Satiren aus dem KZ Theresienstadt, Zürich 1986; Katja Klein, Kazett-Lyrik. Untersuchungen zu Gedichten und Liedern aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen, Würzburg 1995.

  2. Vgl. Eckhard John, Musik und Konzentrationslager. Eine Annäherung, in: Archiv für Musikwissenschaft, 48 (1991) 1, S. 14 - 36; Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt/M. 1993; Gabriele Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung, Hamburg 1996, S. 121.

  3. Vgl. Guido Fackler, "Des Lagers Stimme" - Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, Bremen 2000; vgl. ebenfalls Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager, Das Lied der Moorsoldaten. 1933 - 2000, Papenburg 2002.

  4. Vgl. Marion Demuth, Musik - Macht - Missbrauch, Dresden 1995; Isolde von Foerster u. a. Musikforschung - Faschismus - Nationalsozialismus, Mainz 2001; Oliver Kautny/Helmke Jan Keden, Musik in Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Tagungsbericht des Wuppertaler Symposions 2004, Mainz 2005 (i.E.).

  5. E. John (Anm. 2), S. 14; vgl. auch M. Kuna (Anm. 2), S. 52f.

  6. Vgl. E. John, ebd., S. 30f.

  7. Vgl. G. Knapp (Anm. 2), S. 121.

  8. O. A., Das Lagerliederbuch. Lieder gesungen, gesammelt und geschrieben im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin 1942, Dortmund 1980, S. 2, zit. in: E. John (Anm. 2), S. 7.

  9. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1988, S. 105.

  10. Vgl. K. Klein (Anm. 1), S. 77.

  11. Vgl. E. Kogon (Anm. 9), S. 308.

  12. Gisela Probst-Effah, Das Lied im NS-Widerstand. Ein Beitrag zur Rolle der Musik in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in: Christa Nauck-Börner, Musikpädagogische Forschung. Musikpädagogik zwischen Traditionen und Medienzukunft, 9 (1989), Laaber 1989, S. 81.

  13. Vgl. E. John (Anm. 2), S. 7 f.

  14. Vgl. G. Knapp (Anm. 2), S. 111f.

  15. Ota Kraus/Erich Kulka (Hrsg.), Die Todesfabrik Auschwitz, Berlin 1991, S. 56.

  16. Vgl. M. Kuna (Anm. 2), S. 86.

  17. Vgl. E. Kogon (Anm. 9), S. 257, zit. in: E. John (Anm. 2), S. 11; M. Kuna (Anm. 2), S. 34.

  18. Vgl. G. Knapp (Anm. 2), S. 130ff.

  19. Vgl. E. John (Anm. 2), S. 23.

  20. Silvester Lechner/Alfred Moos/Resi Weglein (Hrsg.), Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt. Erinnerungen einer Ulmer Jüdin, Stuttgart 1988, S. 64.

  21. H. G. Adler, Theresienstadt. 1941 - 1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1960, S. 585.

  22. Wolfgang Szepansky/Emil Ackermann, ... denn in uns zieht die Hoffnung mit. Lieder, gesungen im Konzentrationslager Sachsenhausen, Berlin o.A., S. 26, zit. in: G. Probst-Effah (Anm. 12), S. 85.

  23. Karel Berman, Erinnerungen, in: Rudolf Iltis, Theresienstadt, Wien 1968, S. 256.

  24. Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz, Wien 1972, S. 151.

  25. Inge Lammel/Günther Hofmeyer, Lieder aus den faschistischen Konzentrationslagern. Das Lied - im Kampf geboren, Leipzig 1962, S. 34, zit. in: Inge Lammel, Arbeitermusikkultur in Deutschland 1844 - 1945. Bilder und Dokumente, Leipzig 1984, S. 212.

  26. Harry Naujoks, Mein Leben im Konzentrationslager Sachsenhausen 1936 - 1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten, Köln 1987, S. 297, zit. in: K.Klein (Anm. 1), S. 82.

  27. Vgl. ebd; vgl auch Manuela R. Hrdlicka, Alltag im KZ. Das Lager Sachsenhausen bei Berlin, Opladen 1991, S. 76.

  28. Ingo Schultz/Viktor Ullmann, 24 Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt, Hamburg 1993, S. 93.

  29. Vgl. K. Klein (Anm. 1), S. 82

  30. Vgl. ebd.

  31. Vgl. G. Knapp (Anm. 2), S. 126ff.

  32. Vgl. E. John (Anm. 2), S. 20.

  33. I. Lammel (Anm. 25), S. 33f., zit. in: G. Probst-Effah (Anm. 12), S. 81.

  34. Vgl. Inge Lammel, Das Arbeiterlied, Frankfurt/M. 1973, S. 74f.

  35. Vgl. G. Probst-Effah (Anm. 12), S. 85.

  36. Günter Kleinen/Helmut Segler, Liedermagazin, Kassel 1975, S. 109.

  37. Vgl. Martin Geck/Bertold Marhol, Banjo. Musik 7 - 10. Hauptschule, Stuttgart 1988, S. 50. Vgl. hierzu auch den dort abgedruckten Bericht von Wolfgang Langhoff zur Uraufführung des Liedes.

  38. Vgl. M. Kuna (Anm. 2), S. 116 u. 136 - 140; Alfons Waiser, Die Musik stärkte uns, in: Internationales Buchenwald-Komitee, Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung. Dokumente und Berichte, Frankfurt/M. 1960, S. 453; E. John (Anm. 2), S. 32 f; I. Lammel (Anm. 25), S. 210; Helmke Jan Keden, "Kommst du auch zum Kaffeeklatsch?". Ein Beitrag zur 'Arbeitersängerbewegung' im Nationalsozialismus, in: International Journal of Musicology, 8 (1999), S. 307f.

  39. Vgl. Joza Karas, Music in Terezin. 1941 - 1945, New York 1990, S. 23 - 25.

  40. Vgl. Hans-Günther Klein, Gideon Klein. Materialien, Hamburg 1995, S. 111 - 129.

  41. Vgl. Heda Grabova, Opera v. Terezine, in: Staatliches Jüdisches Museum Prag 1945, TheresienstädterSammlung, Inv.-Nr. 243, zit. in: H. G. Adler (Anm. 21), S. 593.

  42. Gideon Klein/Hans Krasa/Pavel Libensky/Josef Stross, Kurzgefaßter Abriß der Geschichte der Musik Theresienstadts, in: U. Migdal (Anm. 1), S. 162.

  43. Dies., zit. in: M. Kuna (Anm. 2), S. 174.

  44. Lubomir Peduzzi, Pavel Haas. Leben und Werk des Komponisten, Hamburg 1996, S. 147.

  45. H. Grabovà (Anm. 41), S. 593.

  46. U. Migdal (Anm. 1), S. 33.

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Dr. phil., geb. 1974; Studienrat am Evangelischen Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Hilden; Lehrbeauftragter für musikwissenschaftliche und musikpädagogische Lehrveranstaltungen an der Bergischen Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42097 Wuppertal.
E-Mail: E-Mail Link: HelmkeJanKeden@gmx.de