Einleitung
Die beiden Begriffe "Musik" und "Konzentrationslager" stehen sich scheinbar unvereinbar gegenüber. So sträubt man sich, den Inbegriff der grausamen Realität des "Dritten Reiches", die nationalsozialistische Internierungs- und Vernichtungsmaschinerie, mit musikalischen Konnotationen zu verknüpfen, doch hat die Forschung in einer Vielzahl von Beiträgen darauf hingewiesen, dass Musik häufig ein fester Bestandteil in Konzentrationslagern war.
Auch wenn sich momentan der Fokus des wissenschaftlichen Interesses innerhalb der Auseinandersetzung mit Musik in totalitären Staatssystemen wieder zu übergreifenden, besonders komparatistischen Diskursen öffnet,
Funktionen musikalischer Praxis für das NS-Lagerpersonal
In der Forschungsliteratur sind eine Vielzahl von Verwendungszusammenhängen erwähnt, die den "Einsatz" von Musik durch die nationalsozialistischen Unterdrücker in den Konzentrationslagern schildern. Nachfolgend werden die wichtigsten Funktionen dieser Musikpraxis kurz dargestellt.
Die musikalisch aktiven Internierten wurden in den Lagern häufig zu Instrumental- und Vokalensembles zusammengefasst und mussten repräsentative Aufgaben bei offiziellen Anlässen (z.B. politischen Gedenkfeiern) übernehmen. Sie "dienten auch als Zierde beiLagerbesichtigungen durch auswärtige Besucher"
Konzerte und kulturelle Veranstaltungen wurden dazu eingesetzt, Menschenrechtsvertreter anderer Länder sowie Mitarbeiter des Roten Kreuzes über die wahren Zustände in den Lagern hinwegzutäuschen. Besonders im KZ Theresienstadt lud man nach groß angelegten Selektionen und damit verbundenen Verschleppungen in die östlichen Vernichtungslager kritische Besucher ein, um ihnen mit Hilfe von kulturellen Vorführungen im Rahmen der so genannten "Freizeitgestaltung" ein scheinbar normales Lagerleben vorzugaukeln.
Doch nicht nur Menschenrechtsvertreter wurden durch Musik über die wahren Zustände der Lager getäuscht, sondern auch neue Lagerhäftlinge, die durch Begrüßungsmusik beruhigt werden sollten, um Unruhe und Massenpaniken zu vermeiden. So berichtet Gabriele Knapp von der Sängerin Eva Stern, die - vom Auschwitzer Frauenorchester begleitet - sowohl die Ankunft der Züge als auch die anschließenden Selektionen und den Weg der Ausgesonderten zu den Gaskammern gesanglich untermalen musste.
In den Konzentrationslagern wurde Gesang häufig auch als Mittel zur Demütigung und Erniedrigung der Inhaftierten eingesetzt. Um den inneren Willen der Häftlinge zu brechen, mussten sie z.B. Lieder singen, die im eklatanten Widerspruch zur erlebten Realität standen. Im Gegensatz zur oben dargestellten Praxis bei Neuankömmlingen in Auschwitz mussten die Neuzugänge im KZ Sachsenhausen zu ihrer eigenen Erniedrigung u.a. "Alle Vögel sind schon da" singen.
Im KZ Buchenwald mussten inhaftierte Juden - als "Strafverschärfung"
Gisela Probst-Effah hat in ihrer Untersuchung nachgewiesen, dass Gefangene, die beim Singen "mangelnde 'Inbrunst' erkennen ließ[en], (...) mit Prügeln und Fußtritten traktiert wurden"
Es gibt Berichte, die darauf hindeuten, dass Musik bei den Arbeitskolonnen auch als Mittel zur Selektion eingesetzt wurde. So mussten die Häftlinge auf dem Weg zur Arbeit, während der Arbeit und beim Rückweg ins Lager singen. Dabei richtete sich der Fundus der zu singenden Lieder meist nach dem Repertoire der Arbeitsgruppenführer, so dass Volkslieder, wie "Das Wandern ist des Müllers Lust" und "Steht ein Dörflein mitten im Wald" weit verbreitet waren.
Musik wurde ebenso als administrative Hilfe zur Koordination von Bewegungsabläufen eingesetzt. Wenn Kolonnen zum Arbeitsdienst aus dem Lager geführt wurden, musste rhythmisch musiziert werden: "Mit der Musik sollten überdies die Fünferreihen der Häftlinge, wenn sie das Lagertor passierten, ausgerichtet und in Gleichschritt gebracht werden, damit sie von der SS ohne viel Mühe während des Marsches genau gezählt werden konnten."
Es gibt auch Hinweise dafür, dass die SS anfangs versucht hat, Gesang als Mittel zur Arbeitssteigerung einzusetzen. Jedoch behielt die SS diese Praxis nicht lange bei, weil jene Form musikalischer Funktionalisierung unter den menschenfeindlichen Umständen der Lager zum Scheitern verurteilt war.
Musik diente den nationalsozialistischen Unterdrückern als Möglichkeit der Unterhaltung und Regeneration vom "Lager-Alltag". Das Wachpersonal sah in Musikvorträgen auch die Möglichkeit, neue Kraft für die nächsten schrecklichen Taten zu schöpfen. Dabei ließen sich die zum Teil musikbegeisterten Despoten musikalische Werke von den Häftlingen vortragen. Es ist kaum vorstellbar, welche Belastung dies für die Aufführenden bedeutete, sollten sie sich doch für die Erholung ihrer eigenen Peiniger einsetzen und damit der weiteren Unterdrückung Vorschub leisten.
Funktionen musikalischer Praxis für die Internierten
Sämtliche der nachfolgenden musikalischen Umgangsweisen lassen sich größtenteils Funktionen zuordnen, die als Form des Widerstandes gegen die oktroyierten Umstände verstanden werden können. In Anlehnung an die von Eckard John vorgenommene Systematik musikalischer Praxis in NS-Konzentrationslagern sind die folgenden Funktionen vokaler Musikpraxis in den Bereich des "passiven" und des "aktiven Widerstandes" eingeordnet.
Passiver musikalischer Widerstand
Häufig wurde Musik von den Häftlingen als Teil einer Überlebensstrategie genutzt, um die erlittenen Demütigungen zu verarbeiten und auf diese Weise die eigene Willenskraft zu stärken. So konnte für die Häftlinge Musik eine Möglichkeit der kurzen Flucht aus der grausamen Realität bedeuten, die in eskapistischer Art und Weise von den unmenschlichen Umständen ablenkte. Ob als aktives Mitglied eines Ensembles oder als Rezipient einer Aufführung war so die Möglichkeit gegeben, dem Lageralltag zumindest kurzzeitig zu entfliehen. Die in Theresienstadt als Krankenschwester internierte Jüdin Resi Weglein berichtet über die Wirkung damaliger Aufführungen: "In der Magdeburger Kaserne war im Raum 241 eine kleine primitive Bühne errichtet worden, und wenn man auch in schrecklicher Enge dort sitzen mußte, so war man glücklich, einige Stunden des Elends zu vergessen."
So wie die Despoten Musik in bestimmten Situationen als Mittel der Erniedrigung einsetzten, half das gemeinsame Musizieren den Häftlingen, erfahrenes Leid besser zu verarbeiten. Wünsche und Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte ließen sich durch Musik ausdrücken bzw. kompensieren: "Es ist unglaublich, welche Kraft in unserem Gesang lag, wie er half, die Beziehungen in den unmenschlichen Verhältnissen und in der unmenschlichen Zeit menschlicher zu gestalten. Unsere Lieder wirkten wie Balsam auf unseren verwundeten Seelen."
Durch gemeinsame Musik und ganz speziell durch gemeinsames Singen konnten die Häftlinge die Gefahr zerstörerischer Selbstaufgabe der eigenen Person vermindern und somit den gemeinsamen Durchhaltewillen stärken: "Wie oft haben wir unseren Trotz und Widerstandswillen hinausgesungen und den Menschen Kraft zum Aushalten gegeben! Wir riskierten wirklich Kopf und Kragen, wenn wir (...) mit unserem Chor 'Unsere Stunde hat geschlagen, die Tore stehen offen!` aus Smetanas 'Der Brandenburger in Böhmen` (...) sangen."
Gemeinsames Musizieren spendete auch Hoffnung auf eine andere Welt, außerhalb des Stacheldrahtes. "Mehr als einmal", erinnert sich Hermann Langbein, "bin ich in diesem Probesaal gestanden und habe deutlicher als jemals vor - oder nachher - die Kraft der Musik gefühlt, die davon kündet, daß es außerhalb von Auschwitz eine menschliche Welt gab (...)."
Ähnlich, wie die Wirkung des gemeinschaftlichen Gesanges von den Nazis außerhalb der Lager zur Ideologisierung und Erzeugung eines Gemeinschaftsgefühls genutzt wurde, spielte somit für die Inhaftierten der nicht zu unterschätzende psychologische Aspekt des Zusammengehörigkeitsgefühls beim gemeinsamen Singen eine gewichtige Rolle im täglichen Überlebenskampf: "Durch unsere Lieder wollten wir die Genossen davor retten, sich resignierend aus der Gemeinschaft zu lösen und zu Individualisten zu werden. Gerade im Lagerleben und bei der Fronarbeit war Kameradschaft das eiserne Gesetz aller Häftlinge, wollten sie nicht in der Gefangenschaft zugrunde gehen. Und nichts bindet und schweißt fester zusammen als das Lied."
Lieder, welche die SS verboten hatte, wurden heimlich in ständig wechselnden Baracken gemeinsam gesungen. Zu den Proben zog man sich bisweilen auf bei der SS unbeliebte Orte wie z.B. die Entlausungsstation zurück. Harry Naujoks berichtet von der Schwierigkeit der Legitimation solcher Treffen und beschreibt die Atmosphäre einer solchen Gesangsveranstaltung: "Wenn ein Schallerabend zur Diskussion stand, hatten wir immer das Argument: Wir üben nur, damit das Singen auf dem Appellplatz klappt. Bei den Schallerabenden saßen die Teilnehmer auf dem Fußboden, auf den Bänken, Tischen und Schränken, und sie hingen auch noch im Gebälk. (...). Vor allem wurden Volkslieder gesungen."
Durch die Beschäftigung mit Musik war die geistige Auseinandersetzung mit einem künstlerischen Gegenstand gefordert. Da die Häftlinge in den Lagern zumeist monotoner Arbeit nachgehen mussten, konnte die musikalische Betätigung dazu benutzt werden, der geistigen Unterforderung des täglichen Arbeitsdienstes und der Lethargie zu entkommen.
Die aus unterschiedlichen politischen, konfessionellen, nationalen und sozialen Gruppen zusammengepferchten Menschen sahen in der Musik ebenso eine Chance, ihre individuelle Eigenständigkeit zu bewahren.
Durch die Regelmäßigkeit von Aufführungen und Proben etablierten sich bestimmte Abläufe, die eine gewisse Form von kultureller "Normalität" vermitteln konnten. Die damit verbundene Stetigkeit wurde von den Häftlingen zum Teil als vermeintliche Sicherheit empfunden und half den Terror der Konzentrationslager ertragbarer zu machen.
Interessant ist diese Bedeutung auch hier wieder im Hinblick auf die Parallele zur musikalischen Funktionalisierung durch das Lagerpersonal. Dabei lässt sich eine ambivalente Doppelfunktion der musikalischen Praxis deutlich erkennen, weisen doch einige Berichte darauf hin, dass das "Kulturleben" im Lager vom Personal ebenfalls mit Wesenszügen einer konventionellen Gesellschaft in Verbindung gebracht wurde. Allerdings geschah dies hier unter völlig anderen Vorzeichen, da die kulturelle Betätigung der Häftlinge vom Lagerpersonal zur eigenen Selbsttäuschung eingesetzt wurde, um z.B. im Schein der schönen Künste zumindest gedanklich in eine andere Welt zu fliehen.
Aktiver musikalischer Widerstand
Bezüglich des "aktiven musikalischen Widerstandes" kam auch hier besonders dem Gesang als nächstliegende Form der musikalischen Äußerung eine exponierte Rolle zu, konnten doch gegenüber der instrumentalen Musik gerade über den Text wichtige Intentionen vermittelt werden. Doch mussten die Internierten diese oft kreativ verbergen, um Strafverfolgungen zu entgehen. In der Forschungsliteratur finden sich u.a. folgende Formen des "aktiven Widerstandes".
Die von den Nazis vorgegebenen Lieder wurden absichtlich falsch gesungen: "Trotz härtester Strafen nahmen die Häftlinge die ihnen oktroyierten Gesänge nicht widerspruchslos hin. Sie sangen absichtlich unrein und falsch, brüllten oder sangen zu leise."
Auch variierte man Gesänge in vielerlei Hinsicht. So wurden z. B. NS-Liedern neue Texte unterlegt. Texte, die bestimmte Intentionen enthielten, wurden geändert und teilweise parodiert. Dadurch bekamen bisher weniger sinntragende Wörter neue Bedeutungen.
In den Konzentrationslagern entstand auch eine Reihe von neuen Liedern, die, wenn zum Teil auch versteckt, die Zustände in den Lagern anprangerten. Teilweise wurden die Stücke sogar auf Befehl der SS komponiert, wie die so genannte Lagerhymnen (z.B. in Buchenwald und Sachsenhausen). Das wohl bekannteste Lied, welches im KZ als Widerstandslied entstand, ist das von Rudi Goguel, Wolfgang Langhoff und Johann Esser im Konzentrationslager Börgermoor geschriebene "Moorsoldatenlied", in dem der Widerstand durch Selbstbehauptung gegen die Unterdrücker deutlich wird. Dabei sollte das Lagerleben auch kompositorisch umgesetzt werden. So äußerte sich der Komponist Rudi Goguel zum Anfang des Liedes dahingehend, dass "die drei gleichbleibenden Töne, mit denen das Lied beginnt, (...) die Öde des Moores und die schwere Situation charakterisieren, unter der die Moorsoldaten leben mußten"
Das Werk wurde unmittelbar nach seiner Uraufführung, die im Rahmen der von den Gefangenen organisierten Kulturveranstaltung "Zirkus Konzentrazani" stattfand,
Theresienstadt
Aus einer Vielzahl von Lagern sind Berichte über die Existenz von instrumentalen und vokalen Ensembles überliefert,
Exemplarisch für die unvorstellbaren Umstände, unter denen durch die Gründung von Orchestern, kammermusikalischen Gruppen und Vokalensembles eine "Kultur" in diesem Lager entstand, seien hier einige Ausführungen Joza Karas' über die Tätigkeiten des Dirigenten, Komponisten und Pianisten Rafael Schächter erwähnt. Dieser baute nach seiner Inhaftierung (30. November 1941) zuerst illegal, dann im Rahmen der von den Unterdrückern angeordneten so genannten "Freizeitgestaltung" mehrere musikalische Ensembles auf.
So konnte er schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Theresienstadt einen Chor mit etwa 20 männlichen Laiensängern etablieren, der sich bald enormer Beliebtheit erfreute. Ebenso gründete Schächter einen Frauenchor, den er später mit dem ersten Chor zu einem 50 bis 60 Personen starken gemischten Vokalensemble zusammenfasste. Die Proben wurden zuerst in einem kleinen Raum in einer Baracke der Sudeten abgehalten. Später zog man dann in den Keller des Kinderheims um.
Rafael Schächter begann mit der Einstudierung einfacher Volkslieder, wobei er in dem ebenfalls internierten tschechischen Komponisten und Pianisten Gideon Klein einen engagierten Korrepetitor, Mitarbeiter und späteren engen Freund fand. Dieser arrangierte ab April 1942 u.a. tschechische, schlesische, hebräische und russische Volkslieder,
Neben der Beschäftigung mit Werken von Gideon Klein begann Rafael Schächter ohne Hilfsmittel mit den Proben für einige Chorpartien aus B. Smetanas Oper Die verkaufte Braut. Als mit zunehmenden Inhaftierungswellen immer mehr Häftlinge nach Theresienstadt verschleppt wurden, konnten passende Solisten gefunden werden, so dass unter widrigsten Umständen die Proben zur konzertanten Aufführung der Oper aufgenommen wurden.
Neben dem Opernensemble von Rafael Schächter wird auch noch von der Gründung eines weiteren Ensembles aus deutschen, österreichischen, böhmischen und mährischen Chören berichtet, das zusammengefasst unter der Leitung des Wiener Dirigenten und Komponisten Franz Eugen Klein ebenfalls weitere Opern (u.a. B. Smetanas Kuß, W. A. Mozarts Zauberflöte und Die Hochzeit des Figaro) realisierte.
Die SS-Kommandeure zeigten bei der Einübung der Werke ein sehr ambivalentes Verhalten: Stand in nächster Zeit keine Inspektion oder Führung durch das Lager an, wurde das kulturelle Leben stark eingeschränkt, teilweise sogar verboten. Kurz vor Besuchen, "da sie eine Kommission erwarteten, (...) ordneten sie an, daß die Opern in tadelloser Ausstattung mit Kostümen und Perücken aufgeführt werden sollten, kurz, daß man wirkliches Theater spielen sollte"
Diese Willkür sei abschließend an einem letzten Beispiel verdeutlicht, welches die unsäglichen Schwierigkeiten und die unfassbare Realität im Lageralltag exemplarisch verdeutlichen soll: "Nachdem der Dirigent Rafael Schächter im September des Jahres 1943 neben den vier Solisten glücklich einen Chor von etwa einhundertfünfzig Sängern versammelt hatte und die Premiere erfolgreich über die Bühne gegangen war, wurde dem Unternehmen ein jähes Ende gesetzt: Eine Wiederholung der Aufführung konnte nicht stattfinden, weil ein Osttransport den gesamten Chor ausradierte. Schächter verzweifelte nicht. Er stellte einen neuen Chor von gleicher Größe zusammen und studierte das Werk neu ein. Als sei dies nicht genug, ereilte das Vorhaben noch einmal ein vernichtender Rückschlag in Gestalt eines weiteren Osttransports, der den Chor zerstörte. Wieder begann Schächter von vorn, stellte zum dritten Mal einen Chor zusammen; diesmal vermochte er allerdings nur sechzig Sänger zu versammeln, und mit dieser Gruppe gab er dann fünfzehn Aufführungen. Die Opfer feierten ihre eigene Totenmesse."