Einleitung
Pablo Casals soll einmal gesagt haben, dass "alle gute Musik Frieden stiftet". Was aber ist gute Musik? Für Casals war das keine Frage, aber in der Vielfalt aktueller musikalischer Lebenswelten gibt es hierzu keinen Konsens. Dagegen führte der Religionswissenschaftler Bassam Tibi 2004 in Weimar auf einer Tagung über Musikalische Identitäten aus: "Die Musik allein oder gemeinsames Musizieren reichen nicht aus zur Versöhnung zwischen Völkern. Gleichzeitig müssen Dialoge geführt werden." Hierzu führte er als Beispiel ein Projekt von Daniel Barenboim mit jungen israelischen und palästinensischen Musikern an. Gemeinsam spielten sie Beethoven in nahezu harmonischer Art und Weise. Erst als sie versuchten darüber zu sprechen, traten Probleme auf, die zum Scheitern des Unternehmens führten. Tibis Konsequenz daraus lautete: Musik allein genügt nicht. Erst durch Dialoge wird Musik zu einem Instrument des Friedens. Dies gilt auch für die politische Bildungsarbeit im Musikunterricht, wobei Musik vor allem dann als Mittel zur politischen Bildung geeignet ist, wenn Schülerinnen und Schüler durch die Musik eine eigene Perspektive finden können. Die Beispiele müssen geeignet sein, Diskurse auszulösen und zu inspirieren. Durch ihren teilweise provokativen Charakter mag die musikalische Avantgarde hierfür besonders geeignet sein.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich die Schulmusik mit politischer Bildung schon immer schwer getan hat. Im Kaiserreich zum Beispiel wurde Musik völlig unreflektiert in die vaterländische Ausbildung eingebunden und diente dabei schlichtweg der Kriegserziehung. Im Klassenunterricht wurden Lieder eingeübt, um bei den großen Feiern - Kaisers Geburtstag, Sedanstag, Flottentag - die großen Gefühle schüren zu können. Mit diesen Liedern sind die Soldaten schließlich auch in den Krieg gezogen, in Deutschland ebenso wie in Frankreich.
Nach 1945 knüpfte die dominierende neomusische Orientierung an die Bildungskonzepte der Weimarer Republik an, ohne aus der Geschichte gelernt zu haben. Die Liederbücher der NS-Zeit wurden, nach dem Austausch der allzu eindeutigen, auf den Führer, die Blut-und-Boden-Ideologie ausgerichteten Lieder, weiterverwendet. Musikverlage wie Bärenreiter ("Bruder Singer"), Möseler ("Das singende Jahr"), Metzler ("Unser Lied") sorgten teilweise für Kontinuität bis 1989/90.
Theodor W. Adorno hatte jedoch bereits Mitte der fünfziger Jahre Kritik an der politisch blinden Wiedergeburt des Musischen Unterrichts und an der "trüb ins Theologische schillernden" Heile-Welt-Pädagogik geübt.
Das alles wirkte wie ein Dammbruch. Fortan sollte für die siebziger Jahre charakteristisch sein, dass das Singen in den Schulen jegliche Selbstverständlichkeit verlor. Für die nachfolgenden Lehrergenerationen wurde das Singen ein schwieriger Unterrichtsgegenstand, dem man lieber aus dem Wege ging. Stattdessen rückten "Introduktion in Musikkultur" (Heinz Antholz) und "Orientierung am Kunstwerk" (Michael Alt) in den Mittelpunkt.
Gleichwohl wurden weiterhin Liedersammlungen mit einer aufklärerischen, auf Frieden ausgerichteten Zielsetzung veröffentlicht. Dazu zählten die insgesamt zehn Student für Europa-Liederbücher (1974 - 1994) und auch, speziell für den Gebrauch in den Schulen, die Sammlung Politisch Lied - ein garstig Lied? von Manfred Sievritts (1984).
Für den heutigen, schülerorientierten Musikunterricht stellt sich zunächst die Frage, ob sich Rock- und Popmusik als Medium für den Transport politischer Inhalte verwenden lässt? Das Fragezeichen wird durch eine grundsätzliche Überlegung unterstrichen: "Einer Musik, die primär für den Bauch komponiert ist und die aufgrund ihrer starken metrischen Betonung zwangsläufig motorische Reaktionen des Publikums provoziert (d.h. Klatschen, körperliche Bewegungen, G.K.), kann es kaum gelingen, beim Zuhörer die Ebene des Verstandes wach zu halten, so dass eine rationale Reflexion der Textinhalte unmöglich wird."
Neben der modernen Popmusik ist die Frage nach politischer Bildung auch im Bereich der klassischen Musik angebracht. Können Werke der europäischen Kunstmusiktradition überhaupt politisch bildend wirken? Wie Hanns-Werner Heister hervorhebt, ist dessen "historischer wie logischer Ausgangspunkt (...) die Mimetische Zeremonie bzw. das Fest. Damit teilt das Konzertwesen die charakteristische funktionale, temporale, lokale und - übergreifend - institutionelle Ausgrenzung als Ereignis aus dem Kontinuum des Alltags (...). Eben im Konzert und als Konzert bildet Musik jene 'Welt für sich selbst' (...), welche die bürgerliche Version der Kunstautonomie als gänzlich andere Welt verklärt."
Denn so hoch die Wertschätzung von Friedensmusiken der klassischen Repertoires sein mag,
Wie schon gesagt, ist Musik an sich politisch weder rechts noch neutral oder links. Deshalb wäre die Frage, welche Musik ein Medium politischer Bildung sein kann, falsch gestellt. Musik an sich, auch solche, die unter eindeutig politischen Zielsetzungen entstanden ist, kann nur unter bestimmten Voraussetzungen politisch bilden. Daher ist zu fragen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um Musik zu einem Medium politischer Bildung werden zu lassen. Die zentrale Voraussetzung lautet: Musik kann nur dann zum Medium politischer Erziehung werden, wenn sie, in welcher Form auch immer, teilhat an Dialogen zwischen Musik und den Menschen. Auch für die Schule und die in ihr arbeitenden Lehrer und Schüler gilt: Politisch bildende Wirkungen der Musik können nur in Dialogen erreicht werden. Denn nur diese geben Anlass zu Bewusstseins- und Verhaltensänderungen.
Die Dialoge können dabei auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt sein: erstens auf dem Feld direkter Kommunikation, in privaten Gesprächen unter Freunden, in der Familie oder bei öffentlichen Veranstaltungen und Diskussionen; zweitens in Unterrichtsprojekten der Schule, zumeist fächerübergreifend, wobei neben dem Schulfach Musik die Fächer Politik, Gesellschaftskunde, Religion, Philosophie, Deutsch und Fremdsprachen beteiligt sein können. Die hier relevanten Dialoge können einerseits durch die Multikulturalität unserer Gesellschaft entstehen, werden teilweise aber auch durch die Elemente und Strukturen der Musik selbst provoziert. Das geschieht immer dann, wenn in der Musik fremde, ungewohnte, unverständliche Elemente begegnen, wenn Fremdheitserfahrungen gemacht werden. Schließlich kommen Dialoge auch zustande auf den Wegen der Einfühlung und der intellektuellen Reflexion. Einfühlung setzt eine positive Einstellung und die Motivation voraus, sich den Herausforderungen einer ästhetischen, gegen Gewalt und auf den Frieden ausgerichteten Botschaft zu stellen.
Wichtig für die politische Bildungsarbeit im Musikunterricht ist, dass die Schülerinnen und Schüler eine eigene Perspektive gewinnen. Diese tritt besonders deutlich bei der Projektarbeit in Erscheinung.
Für die musikalische Werkbetrachtung im regulären Klassenunterricht, die sich auf Werke zur Kriegs- und Friedensthematik konzentriert, gibt es diverse Zusammenstellungen. Angesichts einer geradezu überbordenden Materialfülle können sie sich allerdings schwerlich dem Vorwurf der Beliebigkeit entziehen.
Im Musikunterricht kann auch die Beschäftigung mit Stille und Toleranz zu nachhaltigen Verhaltensänderungen führen. Zweifellos hat Stille etwas mit Frieden zu tun. Unter den heutigen Lebensbedingungen ist innere Stille etwas Besonderes, das man aufsuchen, herstellen, gestalten muss. Ernst Klaus Schneider betrachtet Stille gar als Voraussetzung für Musik allgemein und speziell in der Musik des 20. Jahrhunderts.
Sich im Musikunterricht des Themas der Stille anzunehmen hat noch eine weitere Funktion. Denn Stille und Konzentration sind der Beginn einer unmittelbaren, nicht theoriegeleiteten Erfahrung der Musik durch die Sinne. Werner Pütz zeigt Wege auf, wie man sich in die Musik gestaltend einfühlen und sie nachempfindend erleben kann, ohne die im Unterricht weit verbreitete einseitig kognitive Herangehensweise. Er empfiehlt Fühlen, Empfinden und Spüren anstelle reflexiven Verstehens und belegt, dass dies bei Musik von Gustav Mahler, Arnold Schönberg und anderen durchaus möglich sein kann. Spürend wahrnehmen, im Hier und Jetzt sein, sich auf die Musik mit allen Sinnen einlassen, das ist eine Annäherungsweise, die auch Denken und Reflektieren nach sich zieht.
Toleranz wurde bereits 1998 bei einer Bundesschulmusikwoche ins Zentrum der musikpädagogischen Reflexionen gestellt.
Wichtige politische Daten lassen sich auch an der Musik festmachen und im Unterricht aufarbeiten, zum Beispiel die "Reichskristallnacht" vom November 1938. Wolfgang Niedeggen hat 1982 mit seiner Rockgruppe BAP darüber den Song Kristallnach veröffentlicht, der nicht nur die Vergangenheit aufarbeitet, sondern auch eine Verbindung zur Gegenwart herstellt. Er kann im Musikunterricht im Detail behandelt werden, möglicherweise im Zusammenhang mit Steven Spielbergs Film Schindlers Liste (1993), dessen emotionale Wirkung maßgeblich durch die Filmmusik von John Williams geprägt wird.
Aus der Sphäre der Konzertsaalmusik könnte Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau einbezogen werden, der die Geschehnisse im Warschauer Ghetto erschütternd und aufrüttelnd schildert.
Das Ende des Kalten Krieges gegen Ende der achtziger Jahre fand auch einen musikalischen Niederschlag. Sting hatte noch 1986 einen Hit zu dieser Thematik gelandet, und zwar in The Russians, der ebenso im Musikunterricht behandelt werden könnte wie Wind of Change von den Scorpions. Die aus Hannover stammende Rockgruppe liefert damit einen musikalischen "Kommentar" zur deutschen Wende von 1989/90, der weltweit zu einem ihrer größten Hits werden sollte. Mit der Ballade konnte sie das Ende der Konfrontation verkünden.
Für ethnische Minderheiten in unserer Gesellschaft ist die "Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Freiheit zwischen Nationen, Gesellschaften und Kulturen"
Mit der musikalischen Avantgarde hat es der Musikunterricht in der allgemein bildenden Schule besonders schwer, weil ihre Sprache so komplex, um nicht zu sagen: kompliziert ist. Das ist umso bedauerlicher, als in dieser Musik die Probleme unserer Gesellschaft bis in die musikalische Struktur hinein sichtbar werden. Musik hier als Medium der politischen Bildung wirksam werden zu lassen erfordert eine hohe Kunst der Vermittlung.
Das gilt beispielsweise für die Friedensmusik von Klaus Huber Die Seele muss vom Reittier steigen (2002). Schon im Text von Mahmoud Darwisch, der unter den Eindrücken der Belagerung von Ramallah entstanden ist, wird eine für uns ungewohnte Perspektive eingenommen, die Aussagen geben nämlich die Trauer einer arabischen Mutter um ihren von Israelis getöteten Sohn wieder. In der Komposition werden musikalische Elemente zusammengeführt, die an und für sich unvereinbar sind. Das mag bei arabischen und europäischen Instrumenten und Gesangweisen noch angehen, erweist sich bei den Tonsystemen und Modi (arabisch: Maqamen) aber als unmöglich. Die einander fremden Elemente stoßen aufeinander, sie reiben sich, letztlich sind sie aber nicht integrierbar. Für einen Westeuropäer wird es unumgänglich, die ehemals selbstverständliche eurozentristische Perspektive aufzugeben.
Bei der rumänischen Komponistin Violeta Dinescu ist ein andersartiger kompositorischer Standort zu reflektieren. Ihr Musikstil ist trotz fremder Elemente leichter nachzuvollziehen, zumal sie sich in dem Friedensoratorium Wie Tau auf den Bergen Zions aus dem Jahr 2003 auf die begrenzten Aufführungsmöglichkeiten einer Kantorei einlässt. Auch bei ihr werden Musiktraditionen zusammengeführt, die sich über fast zwei Jahrtausende auf getrennten Wegen entwickelt haben: die horizontale Heterophonie des Ostens mit der vertikalen Klanglichkeit des Westens. Ihr Tonmaterial sucht sie in den oberen Bereichen des Klangspektrums, so dass dessen tonale Zentren kaum noch spürbar sind. Sie hält die Teilung der Oktave in zwölf gleich große Intervalle, wie sie zu Zeiten des Johann Sebastian Bach vorgenommen wurde, für einen brauchbaren Kompromiss.
Dinescu schreibt ein Friedensoratorium, ohne dass der Frieden in den Texten direkt angesprochen würde. Sie hält sich dabei an ein Sprichwort aus ihrer rumänischen Heimat: "Im Haus des Gehenkten spricht man nicht vom Strang!" Den Wunsch nach Frieden artikuliert sie auf zwei Textebenen: einerseits mit biblischen Aussagen, andererseits mit sehr knappen Fragmenten aus Romanen von Erich Maria Remarque, die als eine Art Graffiti eingestreut sind. Sie stellen winzige Partikel dar, die mit wenigen Worten Remarques Antikriegs-Romane evozieren sollen. Einige Beispiele lauten: "Der Raum hatte kein Fenster" - "Und dieses Gefühl aus Trauer, Melancholie, Hoffnungslosigkeit, Sehnsucht und Schmerz" - "Lautlos hebt sich der Morgen aus den blühenden Bäumen wie aus einem bleichen Bett" - "Und die Wolken ziehen darüber hin" - "Der Wind klirrte an dem Gestänge der Schranken, als wären sie Harfen". Dinescu zitiert außerdem das Kyrie eleison aus der griechisch-orthodoxen Liturgie und den Choral "Wachet auf" von Philipp Nicolai. Aus ihrer Sicht hat der instrumentale Klang nicht die Funktion der Wortverlängerung, sondern er führt als eine kontinuierliche Bewegung an der Stelle fort, wo das Wort zu Ende ist. "Ich habe versucht, die Essenz der abendländischen Liturgie in ihrer vertikalen Projektion und homophonen Klangstruktur mit den melodischen Denkweisen der Orthodoxie in Osteuropa in Einklang zu bringen."
Was kann Musik bewirken? Sie kann bekräftigen, in Frage stellen, zur Reflexion anregen und das emotionale Befinden beeinflussen. Musik ist unfähig, Frieden herzustellen, aber sie kann Geschehnisse aufarbeiten und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken; in sozialen Gruppen kann sie mitwirken an einem Empfinden für die Gemeinschaft, an der Bewältigung alltäglicher Konflikte (etwa in Rollenspielen). Sie kann darüber hinaus Aggressionen abbauen. Musik kann positiv an Ritualen mitwirken, die das Leben in der Gemeinschaft stützen, auch Kommunikationsdefizite und einen Problemstau verringern, Toleranz fördern.
Der Frieden ist ein Topos der Musik in historischer Perspektive. Dafür stehen historische und aktuelle Lieder, speziell auch die Messe mit dem "dona nobis pacem" (Friedensgruß). Friede ist auch privates Glück, erzählt davon oder beschwört es. Die Beispiele stammen aus der Kunstmusik (Barock, Romantik, Biedermeier - Friedrich Rückert und Robert Schumann: Du bist die Ruh', der Friede mild, Goethes Über allen Wipfeln in diversen Vertonungen) wie aus der populären Musik (tausendfach, z.B. Ein bisschen Frieden von Nicole). Beruhigende, friedensstiftende Wirkungen werden ermöglicht durch die Spracheigenschaften, aber auch die Gefühlsnähe der Musik, in öffentlichen Diskursen wie im privaten Bereich. Die ausgelösten Emotionen sind allerdings offen in beliebige Richtungen. Die Musik bedarf daher, zu ihrer eindeutigen Festlegung, der Präzisierung durch das Wort.