Einleitung
Der Streit um den Terminus Bildung hat in Deutschland eine lange Tradition. Nach 1945 war der Begriff zunächst reanimiert worden. In den fünfziger und sechziger, mehr noch in den siebziger Jahren des schulpolitischen Aufbruchs verstärkte sich jedoch die Rede von der "Krise der Bildung". Mancherorts wurde sogar das Ende aller Bildungstheorie gleichermaßen befürchtet wie herbeigeredet.
Doch was sollte an die Stelle des Terminus Bildung treten, "ohne das mit jenem Begriff Gemeinte und an Problem- und Identitätsbewusstsein in ihm Enthaltene voreilig preiszugeben: Selbstbestimmung und Urteilskraft, Emanzipation und Kritikfähigkeit, Autonomie und Verantwortung?"
Doch mit der Forderung nach Neubegründung des Bildungsbegriffs stellte sich erneut die Frage, was Bildung sein und beinhalten sollte. Dass mit dem Entschluss der Kultusministerkonferenz, mithilfe von Bildungsstandards
Unter Bildungsstandards werden - knapp formuliert - allgemeine Bildungsziele verstanden. Alle Forderungen nach Einführung dieser Standards helfen jedoch nicht weiter bzw. bleiben irreführend, wenn nicht deutlich gemacht werden kann, was mit diesem Grundbegriff der deutschsprachigen Pädagogik aus heutiger Perspektive verbunden wird.
Wenn aber weder in der Wissenschaft, den Fachdidaktiken und der Schulpädagogik noch in der Bildungspolitik eine Linie zu erkennen ist, welche Bildung in der allgemein bildenden Schule allen Kindern und Jugendlichen ermöglicht werden soll, wie können dann Bildungsziele sicher auswählt werden, die den Bildungsstandards als Blaupause dienen? Angesichts dieser unübersichtlichen Lage kann es nicht überraschen, wenn entweder blumig von der Entrümpelung der bisherigen Lehrpläne gesprochen wird, die das Lehren und Lernen überreglementiert und somit eher erschwert hätten, oder wenn derbildungstheoretische Pragmatismus beschworen wird, der dem schulischen Bildungsideal den Garaus machen soll. Noch übersteigerter wird argumentiert, dass nicht die fehlende Diskussion und Einigung auf dienötigsten Bildungsziele der Schule das Manko, sondern die Bildungsziele selbst das Problem seien, und zwar deshalb, weil sie sich ihrer angemessenen Operationalisierung entzögen.
Der Wert eines Bildungsziels
Verdeutlichen lässt sich diese Argumentationslinie am Beispiel der "Mündigkeit" in der Expertise zu den Bildungsstandards für den mittleren Bildungsabschluss.
Es gäbe weder eine Einigung über die dem Unterricht zugrunde liegenden und testtauglichen Lehr- und Lernziele noch geeignete Testinstrumente, lautet die Begründung.
Messbarkeit - neuer Pragmatismus?
Wer gleichermaßen abstrakte wie komplexe Bildungsziele zuerst nach ihrer Messbarkeit mithilfe konservativer Schulleistungstestverfahren beurteilt und wichtige Fragen
Die jetzige Lösung besteht darin, Bildungsziele, die mit gängiger Testmethodik nicht überprüfbar sind, einfach unberücksichtigt zu lassen. Das kann bildungstheoretisch nicht überzeugen, weil dies nicht die entscheidende Frage ist. Vor dem Hintergrund des Wortes von der Bildung ist es viel wichtiger, darüber zu befinden, welche Bildung junge Menschen heute und morgen erhalten sollen. Ausgangspunkte für die Organisation des Unterrichts in der finnischen Schule (Klassen eins bis neun) sind beispielsweise Menschenrechte, Chancengleichheit, Demokratie, Erhaltung der Artenvielfalt und der Lebensfähigkeit der Umwelt sowie die Akzeptanz des Multikulturalismus. Außerdem werden Verantwortungsbewusstsein und Respekt vor den Rechten und Freiheiten des Individuums
Hartmut von Hentig versucht die Frage zu beantworten, indem er Bewährungsmaßstäbe von Bildung vorschlägt und sich an die folgenden fünf hält: "Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen; ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen."
Aber selbst wenn man das Pferd vom verkehrten Ende der Messbarkeit von Bildungserträgen aufzäumte, wäre das gewählte Vorgehen unakzeptabel. Es unterstellte, dass die Wissenschaft nicht in der Lage sei, anspruchsvolle Kompetenzmodelle und intelligente Messverfahren für die Überprüfbarkeit allgemeiner Bildungsziele zu entwickeln. Auf beides kann sich eine moderne Bildungseinrichtung, wie es die Schule sein kann und unbedingt sein sollte, nicht einlassen: nicht auf den Verzicht auf allgemeine Bildungsziele und ebensowenig auf deren Berücksichtigung als Bildungsstandards.
Unter falschem Utopieverdacht
Bildung ist sicherlich ein Begriff, der heute mehr denn je gerne wort- und begründungslos in Dienst genommen wird, um den Schein des Guten zumindest des Gut-Gewollten zu wahren.
Was fällt überhaupt unter die Kritik des unterstellten Utopieüberschusses und sollte deshalb künftig als faktisch uneinlösbares Bildungskriterium gestrichen werden? Handelt es sich beispielsweise bei den von Wolfgang Klafki in die Bildungsdiskussion der achtziger Jahre eingebrachten epochaltypischen Schlüsselproblemen - wie die gesellschaftlich bedingte Ungleichheit oder die Friedensfrage - tatsächlich um ins Utopische entrückte sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Herausforderungen? Selbst wenn Hartmut von Hentig nicht mit seinen Überlegungen an Klafki anschließt, lassen sich dennoch enge Bezüge zwischen beiden Anschauungen konstatieren.
Als Maßstab für Bildung setzt von Hentig unter anderem Abscheu vor und Abwehr von Unmenschlichkeit
Aushöhlung von Bildungsrechten
Wenn es das gemeinschaftliche existenzielle, schließlich grundgesetzlich verankerte Ziel der Politik bleiben soll, Deutschland zu einer humaneren, demokratischen und gerechten Gesellschaft zu entwickeln, dann bedarf es der Mithilfe gebildeter Menschen. Gemeint sind Menschen, die durch ihre schulische Allgemeinbildung dafür gewonnen werden können, für den Frieden in ihrer Welt einzutreten, und die bereit sind, das Unmenschliche zurückzudrängen oder gar zu überwinden. Wie bedroht eine so verstandene Bildung heute schon ist, signalisieren die bisher noch versprengten, doch durchaus mit strategischem Kalkül vollzogenen Verbalinjurien gegen die Idee der sozialen Gerechtigkeit und ihre Protagonisten.
Soziale Gerechtigkeit ist aber nicht irgendeine politische Option, die nach dem Belieben gesellschaftlicher Interessengruppen und von Vorkämpfern eines globalen Neoliberalismus en passant getilgt werden könnte, sondern sie ist auf das Engste mit der Kernphilosophie des Grundgesetzes verbunden und damit sowohl Bildungsgut als auch normative Richtlinie der staatlichen Schule.
Den ganzen Menschen bilden
Wer jetzt der Schule einen "pragmatischen" Bildungsbegriff verschreiben will, unterschlägt etwas Wesentliches: Nicht der bisherige, mitunter überladene und unscharfe schulische Bildungsbegriff, sondern die Lern- und Erziehungswirklichkeit in den Schulen waren eine, wenn nicht sogar die entscheidende Ursache für das punktuell schlechte fachliche Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich. Die beobachtbare krasse Diskrepanz zwischen dem aus dem "humanistischen Bildungsideal" hervorgegangenen schulischen Bildungsverständnis und der offensichtlichen pädagogisch-didaktischen Unterrichtsmisere an unseren Schulen ist weder durch eine Relativierung noch durch eine Reduzierung des Bildungsanspruchs zu beheben.
Wenn Wolf Lepenies in diesem Kontext sagt: "Zu kritisieren ist vielmehr eine politische Praxis, die unsere Schulen (...) an Feiertagen mit Bildungsidealen schmückt und sie im Alltag immer stärker unter ökonomischen Effizienz- und Anpassungsdruck setzt",
Es geht nämlich um mehr als um das vermeintliche Ende schulischer Bildungsutopie, es geht um die Frage, wie Freiheit künftig gelebt und wahrgenommen werden kann. "Bildung ist auch etwas anderes als Wissen. Wissen lässt sich büffeln, aber Begreifen braucht Zeit und Erfahrung (...). Selbständig und frei denken zu lernen: Darum geht es nach wie vor. Wer nicht denken gelernt hat, der kann diesen Mangel durch noch so viele Informationen nicht ersetzen, auch nicht durch modernste technische Hilfsmittel."
Erich Fromm hat auf die Gefahr der Vereinnahmung durch eine expansive Marktwirtschaft hingewiesen. Diese brauche Menschen, "die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen (sollen), deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflusst werden kann". Die Konsumgüterindustrie wie das Wirtschaftsleben bräuchten Menschen, "die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen"
Soziale Gerechtigkeit im Bildungswesen herzustellen beinhaltet mehr als die Vergrößerung von Zugangschancen von jungen Menschen zu höheren Schulabschlüssen. Sie ist das Pendant zur individuellen (Selbst-)Befreiung: "Um ihres Fortbestandes willen müssen freie Gesellschaften die nachfolgenden Generationen mit immer größerem Aufwand zur Freiheit erziehen. Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung, und Verantwortung nicht ohne Autonomie oder Selbstbestimmung. Der entscheidende Auftrag der Schule bzw. Bildung heißt: zur geistigen und moralischen Selbständigkeit erziehen, das Individuum stark machen gegen den Systemzwang."
Bildung, die sowohl Anpassungsgefährdungen als auch Verlockungen zur gewöhnlichen Unmündigkeit widersteht, ist als eine dauerhafte Haltung des Suchens und Nachdenkens zu verstehen. "Bildung zielt auf Orientierung im Denken und Handeln. Sie ist nicht frei von Unruhe. Bildung bringt die eigenen Bilder in Bewegung. In einer Welt des Wandels reflektiert Bildung somit innere und äußere Veränderungen."
Bildung ohne Werteorientierung ist schlechterdings unvorstellbar. Sie schließt deshalb unverzichtbar die ethische Dimension der menschlichen Existenz mit ein. Werte entstehen aus Erfahrungen. Lehrerinnen und Lehrer müssen wissen, dass sie Werte repräsentieren und Werteerfahrungen auslösen. Es müssen dafür aber auch die institutionellen und administrativen Voraussetzungen gegeben sein, diese Erfahrungen zu vermitteln und zu organisieren.
Zum Aufbau eines differenzierenden Werteverständnisses braucht es vor allem Zeit und Raum: Zeit für Gelegenheiten des "Nachdenkens" im Sinne einer moralkognitiven Durchdringung der Handlungssituation(en) sowie der differenzierten Begründung von Wert- und Moralentscheidungen; Raum, um eine Vielfalt von Begegnungsmöglichkeiten zu bieten und um Lernsituationen zu schaffen, die zum selbsterprobenden Handeln, zur Identitätsfindung und Urteilsfähigkeit in (grund)werteorientierenden Fragestellungen herausfordern. Werden Schulen künftighin noch Orte sein können, an denen Zeit gegeben wird für diese Form der Persönlichkeitsbildung?
Werte anerkennen und leben zu können setzt die Entwicklung von Einstellungen voraus und ist vor allem dann notwendig, wenn es sich um eine grundlegende gesellschaftliche Neuorientierung handelt. Bei der beabsichtigten "Neuausrichtung der Bildung auf eine nachhaltige Entwicklung"
Mit dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung wird auf ein Modernisierungsszenario abgezielt, das der (Umwelt-)Bildung eine Schlüsselrolle zuweist. Demzufolge wird in der Expertise von Gerhard de Haan und Dorothee Harenberg - der Grundlage für einfünfjähriges Programm der Bund-Länder-Kommission - eine umfassende Gestaltungskompetenz als Ziel der Bildungsarbeit genannt. Darunter wird die Kompetenz zur Partizipation und Mitwirkung bei der Gestaltung der offenen Zukunft verstanden.
Pragmatismusdebatte setzt falsche Signale
Nicht die Berufung auf Pragmatismus oder Idealismus ist das Prüfkriterium für die Sinnhaftigkeit schulischer Bildung, sondern deren Vermögen, "Humanität" für jeden Menschen erreichbar zu machen.
Für eine Reduzierung des ganzheitlichen Bildungsverständnisses kann schon allein angesichts des gesellschaftlichen Wandels und der sich dadurch abzeichnenden sozialen, beruflichen und individuellen Umbruchsituationen nicht plädiert werden. Es wird deshalb jedes Mal genau zu prüfen sein, welche Interessen sich hinter so selbstverständlich scheinenden Aussagen verbergen wie "Die Schule sollte von den vielen Aufgaben, die ihr aufgrund falsch verstandener Fürsorge und durch die Ausdehnung des Erziehungs- und Bildungsauftrags auf immer neue gesellschaftliche Felder zugeschustert wurden, entlastet werden" oder "Schule sollte sich künftig wieder stärker auf ihr Kerngeschäft konzentrieren" oder "Die Lehrpläne müssten entfrachtet werden, damit künftig eine Konzentration auf das Wesentliche erfolgen könne". Was ist eigentlich das Kerngeschäft der Schule? Oder was ist das Wesentliche von Schule? Ist das Wesentliche eine Bildung, die sich rechnet?
Der Mensch als "Humankapital" ist ein verkleinerter, auf seinen "Nutzwert" reduzierter Mensch. Eine nicht verrechenbare "Würde des Menschen" ist in diesem Modell nicht denkbar (bzw. ohne Belang).
Jede schulische Ausbildung - und hier ist der Bildungsbegriff nicht mehr am Platze -, die sich weitestgehend utilitaristischen und ökonomischen Kategorien unterwirft, ist einerseits viel zu begrenzt, um nützlich zu sein, andererseits würde sie die Welt so einseitig erfassen und wiedergeben, dass sie "einer Verspottung der Humanität" gleichkäme.
Paradoxerweise können die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz die ihnen zugeschriebene Funktion nur erfüllen, wenn sie selbst weitgehend auf anspruchsvolle Bildungsziele verzichten. Ursache dafür ist das Fehlen eines ausgewiesenen, in den geläufigen Fragen früheren und heutigen Bildungsdenkens verwurzelten bildungstheoretischen Grundgerüsts. Hauptsächlich geht es in den Standards um fachlich legitimierte Ausbildung und Qualifizierung, um Wissensvermittlung und Wissensaneignung wie um den Nachweis normierter Anforderungsprofile. In dieses Bild passt, dass die Standards nicht nur nicht klar und knapp formuliert sind, sondern dass sie sich auch nicht durchgängig in Kompetenzen konkretisieren.
Die derzeit vorliegenden Bildungsstandards sind eine recht undurchschaubare Mischung aus fachlichen Qualifikationszielen, Kerncurricula und Lehrplänen, die scheinbar aus einem weiteren Mangel herrührt: dem Versäumnis eines ausgearbeiteten Bezugs zu spezifischen Lerntheorien.