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Soziale Auslese und Bildungsreform | Bildungsreformen | bpb.de

Bildungsreformen Editorial Plädoyer für ein neues Bildungsverständnis - Essay Soziale Auslese und Bildungsreform Egalitär und emanzipativ: Leitlinien der Bildungsreform PISA - Konsequenzen für Bildung und Schule Standards für schulische Bildung? Standards für die politische Bildung

Soziale Auslese und Bildungsreform

Wolfgang Böttcher

/ 17 Minuten zu lesen

Die aktuelle Bildungspolitik scheint den internationalen Spitzenplatz bei der Sozialauslese durch die Schule verlassen zu wollen. Im Beitrag wird gefragt, ob die gewählten Instrumente die Selektion nicht eher verschärfen; es werden pädagogische Alternativen aufgezeigt.

Einleitung

Ein zentraler Befund der internationalen Schulleistungsstudien lautet, dass die deutsche Schule so wenig wie keine andere dazu beiträgt, Schülerinnen und Schülern mit schlechten Startchancen zu guten Leistungen zu verhelfen: In keinem anderen Land ist der Schulerfolg der Kinder in dem Maße abhängig von ihrer sozialen Herkunft wie im reichen Deutschland. Wie setzt sich soziale Ungleichheit innerhalb des Schulwesens fort, und was kann getan werden, die Chancen bildungsbenachteiligter Kinder zu verbessern? Der folgende Beitrag beschränkt sich auf ausgewählte pädagogische Antworten auf diese Fragen.

Zunächst werde ich ein Modell der Erklärung von Ungleichheit im Bildungswesen skizzieren, das insbesondere die Rolle der Schule und des Unterrichts betont. Dann folgen einige Vorschläge, den engen Zusammenhang von Herkunft und Schulerfolg zu lockern. Zu diesem Zwecke werde ich ein Plädoyer für ein "ökonomisches Programm" einer Schulreform begründen. Auf dieser Grundlage werden zwei Maßnahmen skizziert, die im Kern pädagogischer Natur sind, denn sie sind gedacht, den Unterricht zu verändern: "Reflexive Pädagogik" und eine verbindliche Einführung von "starken Bildungsstandards".

Der vorliegende Beitrag ist also ausgesprochen selektiv, indem er ein Bündel anderer möglicher Maßnahmen zur Stärkung von Chancengleichheit im weiteren Kontext von Schulorganisation oder Bildungspolitik (z.B. spezifische Fördermaßnahmen, zielgerichteteBildungsfinanzierung, Umgestaltung der Schulstrukturen, Einbeziehung der Eltern) nicht behandelt.

Abschließend werde ich kurz zu erläutern versuchen, warum solche Maßnahmen der aktuellen Bildungspolitik, welche die Ungleichheitsthematik betonen, kaum geeignet sein dürften, eine Reduktion von Ungleichheit zu bewirken. Ob freilich die von mir vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich überlegen sind, vermag letztlich nur die Prüfung ihrer Wirkungen in der Praxis - eine wissenschaftliche Evaluation also - zu belegen.

Herkunft und Ungleichheit

Wenn nur eines von zehn Kindern von un- oder angelernten Arbeitern zum Abitur auf dem Gymnasium gelangt, gegenüber sechs von zehn Kindern aus dem oberen Dienstleistungsmilieu, dann liegt ein Sachverhalt vor, der die Rede von einer dramatischen herkunftsbedingten Bildungsungleichheit rechtfertigt. Diese statistisch enge Verknüpfung von sozialer Herkunft und Schulerfolg ist von der empirischen Bildungsforschung seit gut 50Jahren immer wieder belegt worden. Die internationalen Leistungsstudien haben diesen Befund lediglich öffentlichkeitswirksam bestätigt. So mag man einen gewissen Zynismus in der Kommentierung verzeihen. In einer Hinsicht nämlich ist das wegen schlechter Lernergebnisse kritisierte deutsche Schulwesen ziemlich "erfolgreich": Es gelingt ihm nahezu perfekt, gesellschaftliche Ungleichheit in Bildungsungleichheit zu übersetzen und die Vererbung sozialer Privilegien zu legitimieren, indem Schulerfolg als Resultat individueller Leistung und Begabung erscheint.

Die jüngste PISA-Studie hat den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und besuchter Schulform nicht nur bestätigt: Trotz insgesamt leicht gebesserter Leistungsbefunde hat sie eine Vergrößerung des Leistungsrückstandes der Hauptschüler gegenüber den Gymnasiasten aufgedeckt. Nun sind aber Hauptschulen die Schulen, die insbesondere von Kindern bildungsferner Schichten besucht werden. PISA 2004 weist auch dann eine erhebliche Divergenz der Bildungschancen auf, wenn Schülerinnen und Schüler mit gleicher kognitiver Grundfähigkeit, aber unterschiedlicher Herkunft verglichen werden. Auch ist der Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Bildungsversagen ausführlich dokumentiert und fügt sich in das Thema des vorliegenden Beitrags, denn Migrantenfamilien gehören in der Regel zur unteren sozialen Schicht.

Schließlich wurde der dramatische Befund der ersten PISA-Studie, wonach mehr als ein Fünftel der 15-Jährigen nicht das Kompetenzniveau erreicht, das ihnen ermöglichen würde, eine Ausbildung zu absolvieren, im Kern bestätigt. Die Autoren haben für diese Jugendlichen den Begriff der Risikogruppe - in Anlehnung an das amerikanische "at-risk-students" - geprägt.

In den sechziger und siebziger Jahren hat sich die Bildungsforschung ausführlich mit diesem statistisch gut nachweisbaren Tatbestand befasst und - konkurrierende - Angebote zur Erklärung der Ungleichheit geliefert. Dominant war das Modell der Sozialisationsforschung, das die soziale Auslese durch die Schule wie folgt beschreibt:

"Die schichtspezifische Auslese durch die Schule ist in der modernen Gesellschaft, in der die formalen Schranken für den Zugang zu weiterführenden Schulen gefallen sind, vor allem durch einen zirkulären Verlauf des Sozialisationsprozesses bestimmt. Die Sozialisation durch den Beruf prägt in der Regel bei den Mitgliedern der sozialen Unterschicht andere Züge des Sozialcharakters als bei den Mitgliedern der Mittel- und Oberschicht. Während der Sozialisation durch die Familie werden normalerweise die jeweils typischen Charakterzüge der Eltern an die Kinder weitervermittelt. (...) Da die Sozialisation durch die Schule auf die Ausprägung des Sozialcharakters der Mittel- und Oberschicht besser eingestellt ist als auf die der Unterschicht, haben es die Kinder aus der Unterschicht besonders schwer, einen guten Schulerfolg zu erreichen. Sie erlangen häufig nur Qualifikationen für die gleichen niederen Berufspositionen, die ihre Eltern bereits ausüben. Wenn sie in diese Berufspositionen eintreten, dann ist der Zirkel geschlossen."

Diese "Zirkelthese" spricht einerseits der familialen Sozialisation - dem Bündel aus Erfahrungen, Vorstellungen, Lerninhalten und Sprache, das die Kinder in der Familie prägt - eine zentrale Rolle zu. Andererseits formuliert sie auch zweifelsfrei, dass viele der Gründe für die Existenz ungleicher Bildungschancen in der Schule und im Schulsystem selbst zu finden sind: in der Art und Weise, wie Schule mit einer heterogenen Schülerschaft umgeht, welche Inhalte sie vermittelt, wie sie selektiert, wie sie Herkunft negiert und wie sie diskriminierend sozialisiert.

Im Rahmen ihrer Analyse herkunftsspezifischer Chancenungleichheit entwickelten die französischen Bildungsforscher Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron Thesen, die erklären sollen, wie soziale Tatbestände - gesellschaftliche Ungleichheit - in der Praxis der Bildungsinstitutionen in natürliche - individuelle Kompetenz und Intelligenz der Schülerinnen und Schüler - umgedeutet werden. Die Leistungen von Lernenden werden demnach von diesen und ihren Lehrern entweder der "unmittelbaren Vergangenheit" zugeschrieben - z.B. den Effekten des Unterrichts - oder aber der "Begabung oder der Persönlichkeit". Tatsächlich aber seien sie abhängig von unmittelbar "aus dem Herkunftsmilieu übernommenen kulturellen Gewohnheiten und Möglichkeiten", die durch frühzeitige und ebenfalls mit der Herkunft eng verknüpfte Bildungsorientierungen verstärkt werden. Auch im Lichte neuerer Untersuchungen wird deutlich, dass bildungsferne Schülerinnen und Schüler in der Zange zwischen ihrer häuslichen Lebenssituation und den an sie gestellten Anforderungen stecken, die von der Schule formuliert werden.

Die soziale Reproduktion durch das Aussortieren bildungsferner Schichten erfolgt wirkungsvoll, wie die Statistik belegt. Gleichwohl geschieht dies "sanft", insofern es - von Ausnahmesituationen abgesehen - offensichtlich als selbstverständlich gilt, dass Schüler an Schulen scheitern und dass dieses Scheitern in besonderem Ausmaß sozial und ökonomisch benachteiligte junge Menschen trifft. Die Erfolgreichen und die Gescheiterten glauben gleichermaßen an natürliche Fähigkeiten und individuelle Leistung: Die Ausgeschlossenen halten ihren Ausschluss für legitim, denn sie haben es halt nicht "gepackt", den Privilegierten hilft das Bildungssystem, nicht als Privilegierte zu erscheinen, sondern als solche, die sich den Erfolg selbst verdient haben.

In den Reaktionen auf die erste PISA-Studie wurde deutlich, dass soziale Benachteiligung im und durch das Bildungswesen bei allen gesellschaftlich relevanten Gruppen und Personen auf - teilweise heftige - Kritik bis Entsetzen stieß, auch bei den für Bildung zuständigen Politikern. Die Frage ist: Folgen auch Taten zur Reduktion dieser Ungleichheit? Bevor ich diese Frage kurz diskutiere, möchte ich erläutern, dass ernsthafte Versuche zur Reduktion von Ungleichheit sich an (wenigstens) vier "ökonomischen" Prinzipien orientieren sollten.

Ökonomische Bildungsreform

Die Prinzipien einer "Ökonomischen Bildungsreform", die ich nun skizzieren will, sind: Effektivität, Effizienz, Evidenz, Erfolgsorientierung. Griffig ließe sich bei diesem Konzept von den "4 E" der Schulreform sprechen.

Effektivität thematisiert, ob und inwieweit ein Ziel, das man sich gesetzt hat, erreicht wird. Der Begriff verweist auf Wirksamkeit. Ein Effektivitätsvergleich stellt auf das Verhältnis unterschiedlicher Arbeitsergebnisse zueinander ab. Es wird beispielsweise gefragt, welche Maßnahme oder welche Organisationsform besser zur Erreichung eines definierten Ziels beiträgt.

Effizienz bedeutet Zweckmäßigkeit. Hier steht die Frage im Vordergrund, welche Anstrengungen (Kosten, Energie) nötig sind, um ein Ziel zu erreichen. Während Effektivität Ziele und Ergebnisse vergleicht, setzt "Effizienz" Inputs (z.B. Ressourcen wie Zeit oder Geld) und Ergebnisse ins Verhältnis. Effizienz - so kann man populär formulieren - heißt, das Beste aus den zur Verfügung stehenden Mitteln zu machen. Wenn also bessere Lerneffekte bei Schülerinnen und Schülern mit gleichem Umfang an Mitteln (Geld, Zeit, Engagement etc.) erreicht werden können, ist ein solches Vorgehen effizient. Bei gleichem Lerneffekt und gleichzeitig geringerem Aufwand gilt das ebenfalls.

Evidenz meint, dass (pädagogische) Maßnahmen nachweisen müssen, dass sie ihren Zweck oder ihre Zwecke erreichen und mit welchen Mitteln das geschieht. Fehlende empirische Erfolgskontrollen geben der These von der (möglichen) Verschwendung oder wenigstens mangelnden Zieltreue von Ressourcen in (vielen) pädagogischen Prozessen Nahrung.

Erfolgsorientierung fordert, dass Prozesse geplanten Wandels - Reformen also - vor allem dann eingeleitet und erfolgreich abgeschlossen werden, wenn es entsprechende Anreize für die relevanten Akteure gibt, im Sinne der Zielbeschreibung erfolgreich zu sein. Leistungsanreize oder "Incentives" sind Belohnungen oder Bestrafungen als Folge von spezifischen Handlungsergebnissen (Outcomes). Anreizsysteme verfolgen unter anderem das Ziel, die Arbeit der Akteure auf das Organisationsziel oder bestimmte Organisationsziele hin ausrichten.

Diese vier Leitideen beschreiben im Kern ein "ökonomisches Programm", das auf die Notwendigkeit verweist, im Bildungswesen Ressourcen intelligent einzusetzen. Bei einer schlichten Erhöhung von Ressourcen bei gleichzeitigem Absehen von der Frage, wie diese Mittel eingesetzt werden, kann Vergeudung erwartet werden. "Intelligenter Ressourceneinsatz" ist keine Absage an die These möglicherweise notwendiger Ressourcenzuwächse, allerdings werden Belege dafür erwartet, dass Ressourcen - Geld, Zeit, Personal - so eingesetzt werden, dass intendierte Wirkungen wenigstens wahrscheinlich sind. Normative Entscheidungen sind Voraussetzung für die Anwendung der Prinzipien: Ohne eine Orientierung an Zielen, also konkreten, messbaren, realistischen und terminierten Beschreibungen dessen, was erreicht werden soll, ergibt das ganze Unterfangen keinen Sinn. Und in unserem Fall würden sich Ziele auf Versuche beziehen, herkunftsbedingte, also soziale Selektion im Schulsystem zu reduzieren.

Wenn mittels Bildung solche Ziele erreicht werden sollen, wie zum Beispiel die deutliche Reduktion der Verkopplung von Herkunft und Schulerfolg, muss zunächst eine entsprechende gesellschaftliche bzw. bildungspolitische Prioritätensetzung erfolgen - wenn man so will: eine strategische (Neu-)Orientierung von öffentlicher Bildung. Ein Programm, das die ernsthafte und politisch gestützte Absicht verfolgt, Gleichheitsgewinne zu erzeugen, müsste an den grundsätzlichen Leitprinzipien orientiert sein.

Mit Pädagogik gegen Ungleichheit

Ich will zwei Konzepte vorstellen, die ich für Erfolg versprechend halte. Sie basieren auf den oben skizzierten Thesen der Sozialisationsforschung. Es handelt sich im Kern um pädagogische Aktivitäten: "Reflexive Pädagogik" und die Einführung eines "Kerncurriculums der Grundbildung".

Reflexive Pädagogik

Die für dieses Konzept grundlegende These behauptet, dass das Ignorieren der sozial bedingten Ungleichheit in den Bildungseinrichtungen zu ihrer Legitimierung und Verschärfung führt. Sie findet sich bereits in frühen Veröffentlichungen von Bourdieu und Passeron. Weil es die Pädagogik im Dunkeln lasse, dass durch ihre Herkunft privilegierte Schüler schulisch relevante Vorteile gewissermaßen en passant im Milieu ihrer Familie erwerben, erscheint ihr Erfolg als individuelle Begabung. Die Lehrer, so Bourdieu und Passeron, sind zur "soziologischen Relativierung" dieser "essentialistischen" Erfolgsdefinition "kaum geneigt". Das heiße nicht, dass einzelnen Lehrern dieser Tatbestand nicht etwa bewusst sei. Der Lehrer jedoch, der mit Rücksicht auf ihm bekannte Schwierigkeiten in der Familie das sprichwörtliche eine Auge zudrückt, spiele der Systemlogik gar in die Hand. Ein Verzicht, in bestimmten Situationen und unter Berufung auf das soziale Handikap eines Einzelnen von allgemein gültigen Bewertungsmaßstäben abzusehen, komme einer Kapitulation gleich, und diese Art von Paternalismus führe zu einer Verwässerung der Lerninhalte oder einer Absenkung der Leistungserwartung an diese Jugendlichen.

Eine Chance zur Durchbrechung des Systems liege in einer Pädagogik, die es sich zur zentralen Aufgabe macht, das von den Schülerinnen und Schülern Erwartete auch tatsächlich zu vermitteln. Dies sei in der Wirklichkeit von Bildungseinrichtungen nicht der Fall: "Bei der augenblicklichen Beschaffenheit der Gesellschaft und der pädagogischen Traditionen bleibt die Vermittlung der intellektuellen Techniken und Denkgewohnheiten, auf denen das Bildungswesen aufbaut, in erster Linie dem Familienmilieu vorbehalten." Die daraus abgeleitete Forderung lautet, dem einen größeren Stellenwert zu geben, was "rational und technisch durch methodisches Lernen erworben werden kann".

Einer solchen Pädagogik wäre der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, pädagogischer Beziehung und Lernresultat klar, und sie würde es sich zum vornehmsten und überprüfbaren Ziel machen, Ungleichheit zu reduzieren. Sie müsste möglichst früh einsetzen und eine zentrale Variable bei der Reproduktion von Ungleichheit außer Kraft setzen, nämlich die unausgesprochene Erwartung der Schule, schon vorauszusetzen, was sie eigentlich lehren müsste: Bereits in der Elementarbildung sollte es zu einem gezielten "Erlernen der Grundkenntnisse kommen, die die Grundschule stillschweigend bei ihren Schülern voraussetzt, angefangen beim Verständnis und Gebrauch der gemeinsamen Landessprache und verschiedener sprachlicher und graphischer Techniken".

Ziele einer "Reflexiven Pädagogik" sind das Bewusstmachen der Herkunft und die Reflexion Ungleichheit reproduzierender pädagogischer Praxis. In der Lehrerbildung müsste ein Schwerpunkt in der Ausbildung von Förderungskompetenz bei Lehrern liegen. Hierzu gehört nicht nur das Wissen über Lernbedingungen von Benachteiligten, sondern auch die Kenntnis ihrer Lebensbedingungen.

Pragmatische Bildungsstandards

Bildungsstandards - als ein zentrales Instrument einer "Reflexiven Pädagogik" - formulieren, was (alle) Kinder und Jugendlichen in der Schule (mindestens) lernen müssen, damit sie die Fähigkeit erwerben, selbstbewusst an der Gestaltung der komplexen modernen Gesellschaften teilhaben zu können, und über ein Fundament und ein Motiv fürs Weiterlernen verfügen. Solche Standards definieren "gesellschaftliche Grundbildung". Sie weisen ein normatives Element auf, indem mit ihnen die Frage beantwortet wird, was gelernt werden soll. Sie kommen aber nicht ohne eine empirische Forschung aus, die ermittelt hat, was Jugendliche wissen und können müssen, um partizipations- und weiterbildungsfähig zu sein.

Es lassen sich wenigstens vier Kriterien nennen, die solche Standards der Grundbildung aufweisen müssten, wollten sie das Potenzial haben, im Sinne der Reduktion von Ungleichheit zu wirken: Sie müssen klar, knapp, anspruchsvoll und verbindlich sein.

Klarheit: Eine nicht adäquate Formulierung eines Standards würde z.B. im Bereich Mathematik so lauten: "Schüler müssen in der Lage sein, geometrische Regeln und Verfahren in Situationen des täglichen Lebens anwenden zu können." Was eine solche Beschreibung konkret bedeutet, bleibt offen: Sollen sie nun in der Lage sein, die Diagonale eines Rechtecks zu berechnen oder den Radius eines Kreises oder den Satz des Pythagoras zu verstehen - oder all dieses zusammen? Ein klarer Standard hingegen müsste heißen: "Der Schüler ist in der Lage, zwischen Umfang und Fläche zu unterscheiden, und er kann entscheiden, welches dieser beiden Konzepte in einer gegebenen Problemsituation angemessen ist."

Knappheit: Standards müssen sich auf Wesentliches konzentrieren. Die Schule kann nicht alles leisten, deshalb müssen Inhalte selektiert werden. Es lassen sich durchaus nachvollziehbare Kriterien für das Wesentliche finden. Knappheit ist auch deshalb sinnvoll, weil nur dann Schulen erstens die in Standards beschriebenen Aufgaben bei Bedarf "vertiefen" können und weil ihnen - zweitens - dadurch ermöglicht wird, selbstverantwortet zusätzliche Unterrichtsinhalte zu behandeln.

Anspruch: Standards müssen anspruchsvoll sein, eben weil sie die Absicht verfolgen, das zu definieren, was alle jungen Menschen lernen müssen, um in der modernen Gesellschaft partizipationsfähig zu sein und über ein Fundament für das Weiterlernen zu verfügen. Deshalb werden sie sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht an trivialen Sachverhalten orientieren müssen.

Verbindlichkeit: Solche Standards können nur dann im Sinn der "Reflexiven Pädagogik" wirken, wenn - auch Lehrern und den Schulen - klar ist, dass es eine Verpflichtung auf diese Standards gibt: Sie sind ins pädagogische Pflichtenheft geschrieben, denn sie gelten für alle Kinder und Jugendlichen.

Solche Standards bezeichne ich als "starke Standards". Sie verhindern einen pädagogischen Voluntarismus und Subjektivismus, der die Erwartungen an die Kinder und Jugendlichen insbesondere aus bildungsfernen Schichten reduziert. In einem vagen Konzept von schwachen Standards erfolgt die Formulierung von Zielen und Aufgaben letztlich ungeordnet und zufällig. Mangelnde Fairness entsteht so geradezu zwangsläufig.

Starke Standards können in Kerncurricula überführt werden, Letztere sind die Übersetzung der Standards in den Unterricht. Den Begriff Kerncurriculum verwende ich im Sinne eines kanonisierten und sequenzierten unverzichtbaren Kernbestands an konkret definierten Inhalten, die eine Schule verlässlich allen Schülerinnen und Schülern vermitteln soll. Es bezeichnet Wissen und Kompetenzen, die tragfähigen Grundlagen, über die Kinder verfügen müssen, wollen sie erfolgreich weiterlernen und Lebenschancen verwirklichen. Der als unverzichtbar angenommene Kern wird insbesondere im Falle sozialer Benachteiligung nicht im Alltag vermittelt. Im Unterschied zu den Kindern aus privilegierten haben solche aus bildungsfernen Schichten keine andere Chance, an dieses Wissen zu gelangen, als durch ihre Schule. Grundlegend ist die Hypothese, dass die Orientierung an einem verbindlichen, transparenten, anspruchsvollen, aber gleichzeitig von jedem Schüler zu erreichenden Wissens- und Kompetenzkanon eine Voraussetzung für mehr Gleichheit ist. Jede wirkliche Demokratisierung setzt voraus, dass das, was zum erfolgreichen Erwerb von Bildung gebraucht wird, dort gelehrt wird, wo die Unterprivilegierten dafür die einzige Chance haben, nämlich in der Schule. Kinder aus bildungsfernen Schichten haben ausschließlich hier Gelegenheit, den gesellschaftlichen Kernbestand an Wissen zu erwerben, der nötig ist für eine kritisch-kompetente Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und der ihnen die Chance gibt, ihrem sozialen Schicksal zu entkommen.

Alle Kinder können aber erst dann höhere Leistungen erbringen, wenn gezielte ausgleichende Maßnahmen für diejenigen ergriffen werden, die in Gefahr sind, die Standards (oder Kerncurricula) nicht zu erreichen. Ein Plädoyer für klare Standards muss die Forderung nach Förderungsinstrumenten beinhalten. Wer behauptet, man könne bestimmten Kinder nicht das vermitteln, was in einer zu entwerfenden Grundbildung formuliert werden kann, muss sich fragen lassen: Wozu Pädagogik? Angesichts einer Vielzahl pädagogischer Konzepte, die zeigen, dass alle Kinder lernen können, darf man optimistisch sein.

Neben Förderprogrammen müssen starke Standards und Kerncurricula von weiteren Instrumenten begleitet sein, die sich gemeinsam zu einer Art Masterplan fügen müssen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Lehrerbildung muss sich an den Inhalten der Standards und Curricula ausrichten und didaktisch-methodische Alternativen zum Erwerb der beschriebenen Inhalte und Kompetenzen erarbeiten. Außerdem muss gesichert sein, dass angemessen untersucht wird, ob Schulen und Lehrer ihren pädagogischen Auftrag tatsächlich auch erfüllen - es geht also um eine intelligente Rechenschaftslegung. Zwar entscheidet sich in den Schulen und im Unterricht, ob Reformen erfolgreich sind. Es ist aber eine Aufgabe der Politik, die Voraussetzungen für Erfolg zu schaffen. Was tut die Politik heute?

An den Problemen vorbei

Man könnte meinen, dass die aktuelle Bildungspolitik auf dem Weg ist, das Problem der sozialen Selektivität "anzupacken". Schließlich wird allenthalben gefordert, wir müssten schnellstens den internationalen Spitzenplatz bei der Sozialauslese verlassen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) und die Bundesbildungsministerin formulieren nationale Bildungsstandards, die Bundesländer setzen diese in Kernlehrpläne (u. ä.) um, Evaluation wird zum Kernbegriff einer Bildungspolitik, die den Anspruch der Gesellschaft einlösen will, ein Urteil über die Schulen und ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Ein genauerer Blick aber lässt zweifeln: Bildungsstandards sind an die hierarchisch gegliederten Schulformen gebunden, und sie sind als Regelstandards formuliert. Sie differenzieren also, statt ein Pensum für alle zu beschreiben, und sie unterstellen in ihrer Grundkonzeption, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler die Standards erreichen können, denn die "Regel" legitimiert die Ausnahme: Es gilt als natürlich, dass mehr oder weniger viele Kinder nur ein mangelhaftes oder ungenügendes Wissen und Können erwerben und deshalb Vorgaben verfehlen müssen. Die Standards sind weder klar noch knapp - schwache Standards jedoch sind nicht in der Lage, das Schulsystem zu verändern und einen Beitrag zur Reduktion von Ungleichheit zu leisten. Das Gegenteil ist zu vermuten, denn schwache Standards können Unterricht nicht steuern.

Schulformspezifische schwache Regelstandards werden die Entwicklung eines alternativen Steuerinstrumentes fördern: die Entwicklung von Leistungstests. Gegen solche spricht ja zunächst nichts, es ist nur zu vermuten, dass Tests im geschilderten Kontext das dominante Instrument werden und eine Art "Testeritis" erzeugen. Auch das Fehlen von Instrumenten zur Förderung von Schülerinnen und Schülern, die Gefahr laufen, Standards nicht zu erreichen, legt die Vermutung nahe, dass der deutsche Weg zur Verschärfung der Selektion führt. Ebenso fehlen Forschungsprogramme zur Förderung von Risikoschülern mittels pädagogischer oder schulorganisatorischer Modelle, deren Ergebnisse dann für die Praxis brauchbar verbreitet werden müssten. Für die These einer Verschärfung der Selektion spricht auch die Tatsache, dass hierzulande lediglich die Schülerinnen und Schüler die Folgen verfehlter Standards tragen müssen: Dass hiermit auch eine Identifizierung schlechter Lehrerinnen und Lehrer oder schlechter Schulen möglich sein kann, wird tabuisiert.

Man kann konzedieren, dass sich die deutsche Bildungspolitik zwar rhetorisch an die seit 20 Jahren geführte internationale Debatte zur Umsteuerung der Schule und des Schulsystems angekoppelt hat, aber die aktuellen Beobachtungen geben Grund zu der Behauptung, dass vorliegende Erfahrungen nicht adäquat genutzt und erfolgreiche Konzepte in trivialisierter Version angewandt werden. Ein Grund dafür mag die Unfähigkeit sein, zu erkennen, dass die akademischen Leistungen aller und die Förderung der Benachteiligten eben nicht durch Selektion verbessert werden.

Dabei zeigen gerade die internationalen Vergleichsstudien, dass Leistung und Gleichheit parallel angestrebt werden können und nur durch Unterstützung und Förderung der Lernenden und der Lehrenden erreicht werden können - nicht durch Verschärfung von Selektionsverfahren. Sie belegen, dass der Schule durchaus Möglichkeiten offen stehen, denjenigen mehr Chancen zu geben, die "von Haus aus" bildungsfern sind. Dieser Beleg ist eine der großen Leistungen der internationalen Leistungsvergleichsstudien wie TIMSS, IGLU oder PISA.

Aber will diese Gesellschaft - und die von ihr gestützte Bildungspolitik - die Verkopplung von Herkunft und Schulerfolg überhaupt lockern? Es sind "geheime" soziale Mechanismen, "mit deren Hilfe das Bildungswesen die Kinder verschiedener sozialer Klassen ungleich stark eliminiert" , schreiben Bourdieu und Passeron. Und weiter: "Das Geheimnis trägt zum Fortbestand einer auf Tarnung ihrer stärksten Selbsterhaltungsmechanismen angewiesenen Sozialordnung bei und dient den Interessen derer, die auf Erhaltung dieser Ordnung bedacht sind." Also fragen wir uns, Politiker und Wissenschaftler: Wer will eigentlich mehr Chancengleichheit im Bildungswesen? Von seinem aktuellen Zustand profitiert schließlich unsere soziale Klasse. Wollen wir unseren Kindern und Enkelkindern tatsächlich die vermehrte Konkurrenz von "denen da unten" zumuten?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans-Günter Rolff, Sozialisation und Auslese durchdie Schule, Heidelberg 1967 (hier zitiert nachder überarbeiteten Neuausgabe: Weinheim-München 1997, S. 36).

  2. Vgl. Dieter Geulen, Sozialisation und Auslese durch die Schule - revisited, in: Bernd Frommelt u.a. (Hrsg.), Schule am Ausgang des 20. Jahrhunderts, Weinheim - München 2000, S. 45 - 58.

  3. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971, S. 30f.

  4. Vgl. ebd.

  5. Vgl. Henry M. Levin, Economics of School Reform for At-Risk Students, in: National Research Council (Hrsg.), Improving America's Schools. The Role of Incentives, Washington, D.C. 1996, S. 225.

  6. Vgl. dazu genauer Wolfgang Böttcher, Kann eine ökonomische Schule auch eine pädagogische sein? Schulentwicklung zwischen Neuer Steuerung, Organisation, Leistungsevaluation und Bildung, Weinheim - München 2002.

  7. Es kommt darauf an, keine Ressourcen zu verschwenden, denn das käme einem nicht gewünschten Verzicht auf - mögliche - bessere Ergebnisse gleich.

  8. Die Tatsache, dass es problematisch ist, Anreizsysteme im Bildungswesen tatsächlich im intendierten Sinne zu implementieren, soll nicht verschwiegen, kann hier aber nicht weiter thematisiert werden.

  9. Ergebnisse US-amerikanischer Forschung legen den Schluss nahe, dass eine Steigerung der Mittel im Bildungswesen - abgesehen von deutlich unterfinanzierten Bereichen - nur dort erfolgreich ist, wo diese deutlich zielorientiert - z.B. zur Förderung nachhaltiger Lernstrategien für Risikoschüler - eingesetzt werden, oder wenn Schulen diese Mittel gezielt zu einem Umbau der Schulorganisation in Richtung auf effiziente Mittelnutzung einsetzen. Vgl. Eric A. Hanushek u.a., Making Schools Work: Improving Performance and Controlling Costs, Washington, D.C. 1994, sowie H. M. Levin (Anm. 5).

  10. Zum Beispiel könnte es ein einschlägiges Ziel sein, bis zum Jahr 2007 die Risikogruppe auf einen Anteil von zehn Prozent zu reduzieren. Das folgende Konzept gilt aber im Prinzip für jedes denkbare bildungspolitische Vorhaben wie z.B. den Erwerb von Schlüsselqualifikationen für Hauptschüler oder die Förderung von hoch Begabten.

  11. Vgl. P. Bourdieu/J.-C. Passeron (Anm. 3).

  12. Ebd., S. 86f. Oder: "Blindheit gegenüber sozialer Ungleichheit zwingt und berechtigt zugleich, jegliche Ungleichheit, besonders aber die des akademischen Erfolgs, als natürliche, als Ungleichheit der Begabung anzusehen." (Ebd., S. 82)

  13. Ebd., S. 88.

  14. Vgl. ebd.

  15. Collège de France, Vorschläge für das Bildungswesen der Zukunft, in: Sebastian Müller-Rolli (Hrsg.), Das Bildungswesen der Zukunft, Stuttgart 1987, S. 268. Dieser bildungspolitische Forderungskatalog trägt die Handschrift Pierre Bourdieus.

  16. American Federation of Teachers (AFT), Setting strong Standards, Washington, D.C. 1996, S. 16.

  17. Vgl. zum Folgenden Wolfgang Böttcher, Bildungsstandards und Kerncurricula, in: Die Deutsche Schule, 8.Beiheft, 2004.

  18. Vgl. P. Bourdieu/J.-C. Passeron (Anm. 3), S. 88.

  19. Ein der Chancengleichheit verpflichtetes System klarer Standards mit relativ regelmäßiger Evaluierung dient der Diagnose, nicht der Selektion - es erlaubt die Identifizierung derjenigen, die Lücken aufweisen. Je früher sichtbar wird, welche Kinder nicht hinreichend vom Bildungsangebot profitieren, desto erfolgversprechender sind pädagogische Interventionen.

  20. Vgl. z.B. American Institutes for Research (Hrsg.), An Educators' Guide to Schoolwide Reform, Washington, D.C. 1999.

  21. Was folgt aus solchen Standards wie "Kinder sollen kritisch lesen können" oder "Informationen mit unterschiedlichen Medien präsentieren"?

  22. Vgl. zu dieser These auch Matt Gandal/Jennifer Vranek, Standards: Here Today, Here Tomorrow, in: Educational Leadership, 59 (2001) 1.

  23. Diese "Testimonia" mit ihren negativen Effekten kann man in den USA gut studieren. Zur Problematik von Tests als Ersatz für Bildungspolitik: Alfie Kohn, The case against standardized testing. Raising the scores, ruining the schools, Portsmouth, N.H. 2000.

  24. P. Bourdieu/J.-C. Passeron (Anm. 3), S. 15.

Dr. rer. pol. habil, geb. 1953; Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, Georgskommende 33, 48143 Münster; Leiter der Abteilung Qualitätsentwicklung und Evaluation in der Lehreinheit Erziehungswissenschaft.
E-Mail: E-Mail Link: wolfgang.boettcher@uni-muenster.de
Internet: Externer Link: egora.uni-muenster.de