Einleitung
Verfassungen sollen nach einem Bonmot Napoleons "kurz und dunkel" sein. Das bedeutet zweierlei: Zum einen soll eine Verfassung nur wenige, knapp gehaltene Artikel umfassen und sich auf das Wesentliche beschränken; zum anderen soll nicht alles bis ins letzte Detail geregelt sein, es soll Spielraum für juristische Interpretation und politisches Handeln bleiben. Artikel 23 des Grundgesetzes (GG), der im Zuge der deutschen Einheit neu geschaffene "Europa-Artikel", stellt diese Prämissen auf den Kopf. Er gehört zu den wortreichsten Artikeln des Grundgesetzes. Darin wird versucht, die Europapolitik in einem Bundesstaat durch eine vermeintlich klare juristische Begrifflichkeit und eine am innerstaatlichen Kompetenzmodell orientierte Liturgie zu klären. Ergänzt wird der Europa-Artikel durch zwei nicht weniger umfangreiche Begleittexte, welche die operationellen Details regeln.
Die Länder sahen - nicht zu Unrecht - von Beginn an die Gefahr, dass der Bund ohne Rücksicht auf ihre Interessen und Belange Kompetenzbereiche von der nationalen auf die Ebene der EG übertragen würde. Der Art. 24 Abs. 1 GG ("Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen") war der "Hebel" für den Bund, Kompetenzbereiche nach und nach auf die europäische Ebene zu übertragen. Schon in der Frühgeschichte der europäischen Integration sah der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold im Zusammenhang mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) die Gefahr, die deutschen Länder könnten im Zuge der europäischen Zusammenarbeit ihre Eigenständigkeit verlieren und zu "reinen Verwaltungseinheiten herabgedrückt" werden.
Ein kurzer historischer Rückblick über die Mitwirkung der Länder in der Gemeinschaftspolitik wird zeigen, dass die in der Föderalismus-Kommission diskutierten Fragen alles andere als neu sind. Zum anderen zeigt sich, dass sich im Zuge der Revisionen der europäischen Gründungsverträge ein bestimmtes Muster herausgebildet hat: Sobald die Länder Kompetenzen und Hoheitsrechte an die Europäische Gemeinschaft abgaben, wurden diese Verluste an eigenständigem Handlungsspielraum für die Regierungen der Länder durch Beteiligung an der Europapolitik auf Bundesebene kompensiert. Diese Form der Kompensation ist mit dem im Oktober 2004 von den europäischen Staats- und Regierungschefs verabschiedeten Vertrag über eine Europäische Verfassung an ihre Grenzen gestoßen - wohl auch deshalb, weil viele der 16 Länder selbst personell und finanziell zu angespannt sind, um die in Art. 23 GG festgeschriebenen Mitwirkungsrechte auch nur annähernd ausschöpfen zu können, und sie deshalb an einer erneuten Ausweitung ihrer Partizipationsmöglichkeiten in EU-Fragen seit einiger Zeit wenig interessiert sind.
Europapolitische Zusammenarbeit
Die Länder suchten von Anfang an nach Strategien, um diese Politik des Bundes zu bremsen und damit die Interventionen der Europäischen Gemeinschaft in ihre "inneren Angelegenheiten" abwehren zu können. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten zwei eng miteinander verknüpfte Strategien entwickelt und diese nach und nach perfektioniert. Diese werden hier - die Kategorien von Ivo Duchacek bzw. von Charlie Jeffery aufnehmend - als Strategie des "let us in" und des "leave us alone" beschrieben.
Im Zusammenhang mit den Verhandlungen zu den ersten größeren Vertragsrevisionen - Einheitliche Europäische Akte (1986) und Vertrag von Maastricht (1992) - setzten die Länder zunächst vor allem auf die Strategie des let us in, um ihre Interessen auf europäischer wie auf nationaler Ebene direkt einbringen zu können. Da neben dem Bundestag auch der Bundesrat den Maastrichter Vertrag mit Zweidrittelmehrheit ratifizieren musste, hatten die Länder - die bayerische Staatsregierung war hier federführend - ein Junktim zwischen einer Stärkung ihrer Mitwirkungsrechte in EU-Fragen und der Zustimmung des Bundesrates zum Unionsvertrag formuliert.
Da die Länder eine geschlossene Front gegen die Bundesregierung bilden konnten, und Bundeskanzler Kohl an einer raschen und reibungslosen Ratifizierung interessiert war, musste Außenminister Klaus Kinkel (FDP) seine Bedenken zurückstellen und dem Kompromiss zustimmen.
Die Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam (1997) und zum Vertrag von Nizza (2000) sowie die Debatte, die zum Verfassungsvertrag führte, waren Teil des Praxistests des neuen Art. 23 GG. Ähnlich wie bei den Maastricht-Verhandlungen hatten die Länder auch in Nizza ihren Forderungen etwa nach einem Kompetenzkatalog im europäischen Vertrag und nach einer Aufwertung des Ausschusses der Regionen dadurch Nachdruck verliehen, dass sie wieder mit der Veto-Karte spielten.
Darüber hinaus besitzen die Länder mit dem neuen Verfassungsvertrag - die erfolgreiche Ratifizierung vorausgesetzt - zusätzliche Vetomöglichkeiten. Dazu gehört der so genannte "Frühwarnmechanismus", der dem Bundesrat eine "Subsidiaritätsrüge" bzw. eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof bei Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips ermöglichen würde. Zudem haben einige Länder wie etwa Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren einiges unternommen, um die "Europafähigkeit" ihrer Landesverwaltungen zu stärken. Baden-Württemberg und Bayern haben darüber hinaus durch ihre neuen, im Jahr 2004 bezogenen Vertretungsbüros gezeigt, dass sie sich die Präsenz in Brüssel einiges kosten lassen. Die Feststellung des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber bei der Eröffnung der neuen Vertretung im September 2004 - von den Medien als "Schloss Neuwahnstein"
Die Länder haben seit Anfang der neunziger Jahre eine Stärkung der let us in-Strategie wie der leave us alone-Methode erreicht (vgl. die Tabelle).
Unterschiedliche Bewertungen der Praxis
In der Sachverständigenanhörung zum Thema "Europa" im Dezember 2003 übten die Experten fast einhellig Kritik an den Regelungen des Artikels 23 GG. Das Problem sei, dass die Bundesregierung sich in Ratsverhandlungen häufig der Stimme enthalten müsse - bekannt als "German vote" - oder von den anderen Mitgliedstaaten überstimmt werde, da es regelmäßig keine einheitliche, im Bund-Länder-Kreis sowie zwischen den Bundesministerien abgestimmte Position gebe. Den am weitesten reichenden Vorschlag auf Seiten der Sachverständigen machte Fritz W. Scharpf: Da in einer auf 25 Mitgliedstaaten erweiterten EU die Abstimmungen im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit an Bedeutung und damit wechselnde Koalitionen und Tauschgeschäfte zunähmen, würde jede "Intervention von außen" die Verhandlungs- und Einflussmöglichkeiten des deutschen Vertreters im Rat schwächen. Scharpf nannte deshalb die "ersatzlose Streichung von Art. 23 Abs. 2 bis 7" als "optimale Lösung" - Voraussetzung dafür sei jedoch eine "effektive Koordination auf der Bundesebene."
Die breite "Front" gegen den Art. 23, die sich Anfang 2004 abzeichnete, überraschte viele Beobachter, da die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage der Unions-Fraktion im Bundestag im November 2003 die bisherigen Erfahrungen mit dem Europa-Artikel insgesamt positiv bewertet hatte. In den wenigen Fällen, in denen es zu Konflikten zwischen Bund und Ländern gekommen war, hatte sich in der Regel die Bundesregierung durchsetzen können, sie wurde also in ihrer Verhandlungsführung in Brüssel nicht behindert. In insgesamt nur 28 Fällen in den Jahren zwischen 1998 und 2002 habe der Bundesrat, so die Auflistung des Auswärtigen Amtes, die "maßgebliche Berücksichtigung" seiner Stellungnahme gefordert; in 17 Fällen habe der Bund dies abgelehnt, weil er der Auffassung gewesen sei, dass die Bedingungen für die maßgebliche Berücksichtigung der Bundesratspositionen nicht gegeben waren. Der Bundesrat habe dies akzeptiert - wohl auch vor allem deshalb, weil inhaltlich zwischen Bundesregierung und Bundesrat die Positionen "identisch oder weitestgehend identisch" waren, wie die Regierung in ihrer Antwort schreibt.
Die Sicht der Länder
Die Länder, angeführt von Baden-Württemberg, legten einen ähnlich weit reichenden Vorschlag wie die Befürworter einer "Verschlankung" oder Streichung von Art. 23 GG vor. Der vor allem taktisch zu verstehende Ländervorschlag zielte jedoch in die entgegengesetzte Richtung und verlangte eine Ausweitung der Mitwirkung; er orientierte sich an der Diskussion um die innerstaatliche Entflechtung von Politikbereichen und übertrug dieses Modell einer "vollständigen Entflechtung" auf die Europapolitik. Dieses Modell ist dabei am belgischen Verfahren orientiert, in dem tatsächlich eine klare Aufteilung der Kompetenzen zwischen Föderalstaat und den Regionen bzw. Gemeinschaften festgeschrieben ist. Analog zu diesem Kompetenzkatalog sitzen bei Verhandlungen im Europäischen Ministerrat auf belgischer Seite ganz selbstverständlich die Vertreter der Regionen bzw. der Gemeinschaften am Verhandlungstisch - in einem kleinen Land wie Belgien ein eingespieltes und auf der Basis einer spezifischen politischen Kultur akzeptiertes Verfahren. Eine Übertragung auf die deutschen Verhältnisse ist jedoch aufgrund der ganz unterschiedlichen Ausgangsbedingungen schwer vorstellbar. In dem gemeinsamen Papier der deutschen Ministerpräsidenten wurden neben dem Modell einer "vollständigen Entflechtung" als alternative Option "Präzisierungen der derzeitigen Rechtslage" vorgeschlagen; hier wurde als Ziel die "uneingeschränkte Bindung des Bundes an das Votum des Bundesrates" formuliert.
Die Sicht des Bundes
Neben den Sachverständigen waren es die Vertreter der SPD-Fraktion und einzelne Mitglieder der Bundesregierung, die in verschiedenen internen Papieren und auch öffentlich die Länder für das schwache Auftreten der deutschen Europapolitik in Brüssel verantwortlich machten.
Bewertung und Ausblick
Bund und Länder hatten in den Verhandlungen auf ihre jeweilige Nutzenmaximierung gezielt und wollten oder konnten keine für die jeweils andere Seite tragfähigen Kompromisslinien vorlegen. Der Bund argumentierte mit dem worst case-Szenario, wonach die Länder die Möglichkeiten des Art. 23 GG voll ausschöpfen und damit der Bundesregierung in einer EU-25 jeglichen Spielraum bei Verhandlungen in Brüssel nehmen könnten. Die Länder dagegen argumentierten retrospektiv auf der Basis der Erfahrungen einer überschaubareren EU mit 15 Mitgliedstaaten, in der die Veto-Möglichkeiten der Länder kaum ausgereizt worden sind. Da beide Interpretationen der bisherigen Praxis auf ganz unterschiedlichen Prämissen beruhten und zudem Bund wie Länder mit der bisherigen Regelung im Moment (noch) ganz gut leben können, bleibt es zunächst beim Status quo.
Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit Art. 23 GG und aufgrund der Schwierigkeiten, die Ressorts innerhalb der Bundesregierung auf eine gemeinsame Position zu bringen, mochte es aus Sicht der Bundesregierung einleuchten, zusätzliche Vetospieler wie die Länder aus dem europapolitischen Koordinationsverfahren nach Möglichkeit zu verdrängen.
Den eigentlichen europapolitischen Lackmustest des "Europa-Artikels" wird erst die Praxis einer EU mit 25 Staaten in den kommenden Jahren mit sich bringen.