Einleitung
Zwischen Müttern und Stiefmüttern bestehen große Unterschiede. Eine Mutter schenkt neues Leben und umsorgt ihre Kinder. Kurzum: sie ist alles andere als "stiefmütterlich". Und so weckte Edmund Stoiber allerlei Assoziationen, als er im vergangenen Jahr die Erneuerung des deutschen Bundesstaats eine "Mutteraller Reformen" nannte. Damit wollteer unterstreichen, eine Veränderung des Grundgesetzes würde auch Reformen auf anderen Gebieten, zum Beispiel bei Gesundheit und Rente, leichter möglich machen. Anders ausgedrückt: Weil der Verfassungsmotor stottert, kommt das Auto "Bundesrepublik" nicht richtig in Fahrt.
Viele Erwartungen standen am Anfang, umso größer war am Ende die Enttäuschung: die von Franz Müntefering und Edmund Stoiber geleitete Kommission scheiterte im Dezember 2004.
Nun wird sich eine Reform so schnell nicht mehr verwirklichen lassen. Die Bundestagswahl 2006 beeinflusst bereits jetzt das Handeln der Politiker. Deshalb glaubt keiner von ihnen, dass eine Neuauflage der Kommission zum Erfolg führen würde. Und auch der Vorschlag der FDP, einen Konvent einzuberufen, hat kaum Aussicht, umgesetzt zu werden.
So falsch lag Stoiber nicht, als er die Reform mit einer Mutter verglich, denn es gibt einen Zusammenhang zwischen dem jetzigen Zustand des Föderalismus und der Reformfähigkeit des Landes. Das hat der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi gut mit einem Bild erklärt: Ein Mann läuft schnell auf einer Straße und schiebt nebenher ein Fahrrad. Auf die Frage, warum er nicht einfach auf das Rad steigt, um besser voranzukommen, antwortet er: "Dazu habe ich keine Zeit!" Wie aber könnte das Fahrrad aussehen, auf das wir nur aufspringen müssen, um schneller ans Ziel zu gelangen? Dieses Fahrrad eines Staates sind seine Institutionen, seine Verfassung also.
"Bei der Herstellung von Würsten und Gesetzen soll man besser nicht zuschauen", sagte Otto von Bismarck. In der Tat: Den Bürger stößt der Blick in die Gesetzesküche, das Parlament, oft ab. Wieso? Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sowie die verschiedenen Ebenen von Bund und Land - sie arbeiten nicht effektiv zusammen. Die Politik hat sich in Deutschland in einer Verflechtungsfalle verheddert. Am Ende weiß niemand mehr, wer für was zuständig ist.
"Die Demokratie lebt davon, dass für die Bürger klar ist, wem sie auf Zeit welche Verantwortung übertragen haben und wer ihnen nach der Frist Rechenschaft schuldet", hat Johannes Rau festgestellt.
Der Föderalismus in seiner jetzigen Form erlaubt es den Ministerpräsidenten und Bundespolitikern, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben. Beide haben "Hartz IV" nach Verhandlungen im Vermittlungsausschuss auf den Weg gebracht, aber immer wieder gibt es Kritik zu einzelnen Punkten dieser Reform von den beteiligten Parteien. Niemand will es gewesen sein. Diese Unehrlichkeit führt zu Politikverdrossenheit - die Demokratie verliert zusätzlich an Rückhalt.
Ist also der Bundesstaat der Grund allen Übels? Nein, hat Peer Steinbrück betont, "der Föderalismus an sich ist nicht Teil der Krise, die wir in Deutschland wahrnehmen, sondern er ist Teil der Lösung". Der Bundesstaat bietet bürgernahe Lösungen. Nur er ermöglicht Lernprozesse durch einen "trail and error"-Prozess. Wer macht die bessere Bildungspolitik: Bayern oder Hamburg? Wo leben die Einwohner sicherer, in welchem Land sind Ausländer am besten integriert?
Gewiss: Als Alternative gäbe es für Deutschland das Modell des Einheitsstaats. Wir müssen nur nach Westen blicken, über den Rhein hinweg: Das zentral regierte Frankreich funktioniert nicht schlechter, ist nicht weniger demokratisch, nicht weniger frei. Aber kann man so einfach aus der Bundesrepublik eine Zentralrepublik machen? Nein, der Föderalismus "diese kunstvolle Staatsordnung muss begründet sein in der Geschichte des Landes", schrieb Heinrich von Treitschke vor fast eineinhalb Jahrhunderten.
In seiner jetzigen Form wirkt der Föderalismus aber als Bremsklotz. Er muss reformiert werden. Genau das war der Auftrag der Kommission. Woran ist sie gescheitert - und was lässt sich aus dem Misserfolg für dieZukunft lernen? Drei Bedingungen fallen dabei besonders ins Auge.
In der Vergangenheit haben die Länder "das Erstgeburtsrecht ihrer Autonomie für das Linsengericht der Mitbestimmung im Bund" hergegeben, so hat es der Kölner Wissenschaftler Fritz W. Scharpf formuliert.
Dann würden auch die Landtage an Einfluss gewinnen. Heute sind die Landesparlamente, so der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, "vor die Alternative gestellt, auf das ihnen unterbreitete Resultat exekutiv-föderativer Koordination mit Ja oder Nein zu antworten, wobei in der Praxis vielfach nur die Möglichkeit der Zustimmung verbleibt"
Zweitens braucht es mehr Klarheit darüber, was es bedeutet, in einem föderalen System zu leben. Oft sind einheitliche Gesetze nötig. Es gibt ein Bedürfnis nach gemeinsamen Standards, um der Bevölkerung eine gewisse Mobilität zu ermöglichen, die Funktionsfähigkeit des Gesamtstaats zu sichern, im internationalen Vergleich mitzuhalten und den Föderalismus in Einklang mit der Entwicklung innerhalb der EU zu bringen. Das kann aber nicht heißen, durch die Hintertür den Zentralstaat einzuführen. Zum Wesen des Bundesstaats gehört Verschiedenheit. "Wenn es uns ernst ist mit der gelebten Bundesstaatlichkeit, werden wir uns in Zukunft für mehr Länderverantwortung einsetzen müssen", hat Kurt Biedenkopf festgestellt.
In Deutschland gilt die Lösung auf der Bundesebene stets als die bessere. Den Ländern trauen die Bürger oft nicht zu, sich einer Sache gut anzunehmen. Ein Beispiel: Die Pisa-Studie legte Probleme im Bildungsbereich offen. Bundesministerin Edelgard Buhlman forderte sogleich "einheitliche Standards". Dass auch die Länder mit dezentralen Lösungen um eine Verbesserung der Lage wetteifern könnten, spielte in der Diskussion eine untergeordnete Rolle.
Dieses Misstrauen gegenüber den Ländern liegt vielleicht im historischen Gedächtnis der Deutschen begründet. Die Zentrale stand meist für Modernität und Aufbruch, die Länder hingegen für die rückständige Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts, für Provinz und Hinterwäldlertum. Die Bismarck'sche Reichsgründung 1871 fand jedenfalls das Gefallen ihrer Bürger, hatte sie doch die in Fürstentümer zersplitterte Nation zu neuer Größe geformt. Das wirkt bis heute nach. Ganz anders in den USA: Die Amerikaner blicken argwöhnisch nach Washington. Jedenfalls in Sachen Föderalismus können wir einiges von den USA - und auch von der Schweiz - lernen.
Noch eine dritte Voraussetzung für das Gelingen einer neuen Föderalismusreform sei hier genannt: der richtige Zeitpunkt, das "timing". 2003 öffnete sich ein Zeitfenster für Reformen. Die Bundesregierung legte ihre "Agenda 2010" vor und setzte sie gegen den Widerstand in den eigenen Reihen durch. Auch die CDU ging mutige Schritte, als sie auf dem Leipziger Parteitag die Gesundheitsprämie zum Programm erhob. In dieser Phase wurde auch eine neue Debatte über den Zustand des Föderalismus lauter.
Sie führte zur Einsetzung der Kommission, die unter guten Vorzeichen ihre Arbeit begann, da die Union auf einen Machtwechsel im Bund hoffte. Die Umfragen vom Winter 2003/04 bis zum Herbst 2004 sahen die Opposition vorne. Das belebte die Reformfreude, und zwar aus einem einfachen Grund. In der Kommission ging es um eine Teilentmachtung des Bundesrats. Da sich die Union ohnehin im Vorhof der Macht im Bund glaubte, war sie anfangs willens, auf ihre Bastion Bundesrat zu verzichten. Im Herbst 2004 schwenkte aber die Stimmung um: Die SPD holte in den Umfragen auf, die Kompromissbereitschaft der Union wurde entsprechend geringer.
Das ist ein prägnantes Beispiel, wie kurzfristige Interessen der Politiker einem Erfolg entgegenstanden. So ließ Gerhard Schröder die Kommission scheitern, weil er nicht auf die Hochschulpolitik als Thema für den Wahlkampf 2006 verzichten wollte. Roland Koch wiederum blieb stur, weil er nur ungern den Bundesrat als Bühne räumen wollte. Sie dient ihm als Plattform für eine eventuelle Kanzlerkandidatur. Der Egoismus beider, ihre Alles-oder-nichts-Strategie, entfaltete zum Schluss fatale Wirkung.
So ist es, wenn man Politiker mit einer Reform beauftragt, die ihren eigenen Interessen widerspricht. Sie müssten aber einen vitalisierten Föderalismus nicht fürchten, auch wenn sie kurzfristig etwas verlieren würden, denn langfristig würden alle Beteiligten gewinnen: Schröder und Rot-Grün bekämen mehr Handlungsfreiheit, wenn die Rechte des Bundesrats beschnitten würden. Das Zuwanderungsgesetz, Steuerpläne, alles das hinge nicht mehr vom Plazet der Union ab. Im Gegenzug könnten die Länder zum Beispiel die Besoldung ihrer eigenen Beamten regeln oder bei den Universitäten schalten und walten, wie sie wollen. Damit ist der größte Vorteil noch nicht genannt: Die nötigen Reformen im Wirtschafts- und Sozialbereich würden leichter möglich. Nicht nur der Föderalismus würde erneuert, sondern die gesamte Politik bekäme mehr Schwung.