"Gewalt" gehört zu den hochkontroversen Themen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, denn sie ist unterhaltsam und abstoßend zugleich. Auch als Phänomen ist Gewalt hochambivalent. Im öffentlichen Diskurs erleben wir eine gewisse Verselbstständigung von Subjektivität. Empirische Befunde werden selten ernst genommen, Gewaltwahrnehmung und Gewaltvorkommen driften auseinander. Physische Gewalt nimmt statistisch nicht besorgniserregend zu, während Gewalt als Narrativ zur "Super-Metapher" gerät, mit der auch vieles, das nicht Gewalt im engeren Sinne ist, sondern schlicht Unbehagen, scheinbar erklärt werden kann.
Bei den folgenden Ausführungen zum innerstaatlichen Gewaltmonopol orientiere ich mich an einem strafrechtlich-phänomenologischen Gewaltverständnis, das Gewalt als eine "Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt", fasst.
Man kann zwar sehr abstrakt die Staatsgewalt (potestas) von der zerstörerischen oder zumindest unbotmäßigen Individualgewalt (violentia) unterscheiden, aber auf der Handlungsebene fügt auch die Staatsgewalt Schmerzen zu, und es gibt dort sowohl gesetzlich gerechtfertigten als auch ungesetzlich zugefügten Schmerz, und schließlich werden auch den Gewaltmonopolistinnen, also den Polizisten, solche zugefügt und zugemutet.
Gewaltausübung lernen
Die Schädigung anderer Menschen ist im Rahmen des gesellschaftlichen Auftrags der umfassenden Existenzsicherung ebenso Bestandteil der Polizeiarbeit wie die Bewahrung vor Verletzung, denn auf der Handlungsebene ist der Schutz des einen Menschenrechts oft verbunden mit dem Eingriff in ein anderes. Um erfolgreich arbeiten zu können, müssen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte daher in ihrer Ausbildung gewaltfähig gemacht werden, ohne in Gewaltaffinität zu entgleiten. Aufgabe der Organisation ist es, genau diesen Gewaltlegitimitätskorridor herzustellen, dem Grundsatz folgend, so wenig Gewalt wie möglich einzusetzen und so viel Gewalt wie nötig und vom Gesetz erlaubt.
Dies funktioniert völlig unabhängig von individuellen Dispositionen, dem Wesen eines Menschen, seiner genetischen Veranlagung oder einer autoritären Persönlichkeit. Bislang ist der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen autoritärer Disposition und der Berufswahl Polizistin oder Polizist nicht gelungen. Wie wir heute wissen, führen Einstellungen nicht automatisch zu gleichlautenden Handlungen, sodass selbst beim Nachweis einer autoritativen Grundhaltung noch keine Schlüsse auf polizeiliches Handeln zu ziehen sind.
Polizistinnen und Polizisten müssen mit dem crimen in Kontakt kommen, ohne sich von ihm infizieren zu lassen. Sie lernen in der Ausbildung, dass ihren Anweisungen Folge geleistet werden muss und sie im Zweifel ihre Maßnahmen auch gegen Widerstand mit Gewalt durchsetzen können. Dabei üben sie ein, Menschen unter besonderen Umständen Schmerzen zuzufügen, ohne in einen emotionalen Ausnahmezustand (Gewaltrausch, Angstschock) zu geraten. Das Bewusstsein für die Komplexität solcher Situationen und die daraus folgende Ausgeglichenheit zwischen Bewusstsein und konkreter Handlung wird jedoch erst durch die unmittelbare Erfahrung im Umgang mit Gewaltphänomenen erreicht und ist dementsprechend bei vielen jungen Polizistinnen und Polizisten noch nicht habitualisiert. Sie bedürfen der praktischen Begleitung durch Vorgesetzte oder erfahrene Kolleginnen und Kollegen. Es liegt also in der Verantwortung der Personalführung der Polizei, dafür zu sorgen, dass die Bediensteten Teil der Lösung von Gewalt und nicht Teil des Problems werden.
Polizeikultur: Gewalt vermeiden
In der offiziellen Polizeikultur – eine Kultur der Rechtlichkeit und Verfahrensförmigkeit – spielt Gewalt nur eine marginale Rolle. Das gilt vor allem seit den Bemühungen der Polizei um ein "Polizeiliches Leitbild" Ende der 1980er Jahre, als eine Politik des smart policing begann,
Smart policing ist auch mit der sogenannten präventiven Wende in der Polizeipolitik verknüpft,
Polizistinnen und Polizisten werden nunmehr stärker und früher darauf vorbereitet, dass Prävention auch heißen kann, sich in einem Stadium um Menschen zu kümmern, in dem die Polizei früher noch gar nicht zuständig war. Die Leitbilder der Polizeikultur verpflichten die Polizistinnen und Polizisten auf den Kantischen Imperativ. Nur eines fehlt in den Leitbildern der deutschen Polizei(en): die Gewalt.
An dieser Tilgung der Gewalt aus der Polizeikultur zeigt sich, dass der polizeipolitische Überbau und die Vollzugsebene sehr unterschiedliche Schwerpunkte für ihr Selbstverständnis setzen. Denn in der Polizistenkultur ist Gewalt natürlich noch präsent, in einigen Gegenden hypothetisch jeden Tag, spürbarer aber als mythopoetischer Bestand der Erzählkultur unter Polizistinnen und Polizisten. Gewalt wird in der Polizei also praktiziert und mündlich überliefert, aber nicht reflexiv vermittelt.
Polizistenkultur: Mit Gewalt leben
Die alltagsorientierte Polizistenkultur (Cop Culture)
Es gehört zu den prägenden Erfahrungen von Polizistinnen und Polizisten, die unmittelbare Auseinandersetzung, das Agieren, die Gefühlsarbeit, die Situationsdefinition und die moralische Legitimation des eigenen Handelns als different hinsichtlich des Handelns der Gegenseite zu beschreiben. So lässt sich die Alltagshermeneutik der Beamtinnen und Beamten verstehen, ebenso wie ihre hohe Empfindsamkeit gegenüber der ihnen entgegengebrachten Gewalt. Die Empörung und vielleicht auch das Erschrecken lassen sich einordnen, wenn man als gegeben annimmt, dass in der als gewaltaversiv beschriebenen Gegenwartsgesellschaft nicht die Gewalt schlimmer, sondern die Gewaltperzeption sensibler geworden ist.
Die Spirale der Aufrüstung gegen einen skrupellosen Gegner führt innerpolizeilich zu einer binären Freund-Feind-Figuration, in der die sogenannte Kriegermännlichkeit ihren angestammten Platz hat. Deren Dominanz besteht darin, dass sie – obwohl von den meisten Angehörigen der Polizei nicht praktiziert – die Polizei jederzeit prägen kann. Die kriegerische Mentalität durchdringt die Diskurse um Polizei und die mit ihrem Handeln verbundenen Bilder, die in den zahlreichen Geschichten und Polizeimythen auftauchen. Sie kann jederzeit wirkmächtig und legitimiert werden, besonders bei polizeilichen Großereignissen. So war etwa beim G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 zu beobachten, wie durchaus situationsabhängig es ist, ob die Organisation ihre kriegerische oder ihre bürgerfreundliche Seite zeigt. Ein so rasch funktionierender Wechsel kann nur in einer Organisationskultur gelingen, in der das kriegerische Männlichkeitsideal stets aktivierbar ist, auch wenn es sich nicht täglich zeigt, und hat auch damit zu tun, dass sich bundesweit vor allem Männer und wenige Frauen für diese Einsätze bereithalten.
Die damit verbundene Frage, ob aggressive Männlichkeit in der Polizei selbst erst erzeugt oder lediglich kultiviert oder ausgenutzt wird, ist nicht eindeutig zu beantworten. Bei der zu beobachtenden Vielfalt der Persönlichkeiten ist jedoch nicht davon auszugehen, dass der Polizeiberuf attraktiv für auffällig aggressive oder autoritative Charaktere ist. Die psychologischen Eignungsauswahlverfahren der Polizei sind geradezu darauf ausgerichtet, Menschen mit einer erhöhten aggressiven Neigung und Gewaltlust auszuschließen. Jedoch gewinnt aktuell wieder ein Habitus an Wertschätzung, der in bestimmten Organisationsteilen zu einer besonderen Betonung von Disziplin und Bezwingermännlichkeit führt.
Spätestens seit den islamistisch motivierten Terroranschlägen in Paris 2015 wird die Polizei auch in Deutschland zunehmend mit militärischen Waffen und Geräten ausgerüstet. Mit dem Sturmgewehr G36 in vielen Bundesländern und bei der Bundespolizei wurde ein neuer Waffentypus (Langwaffe) eingeführt, mit der "Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit plus" (BFE+) in der Bundespolizei eine neue Polizeieinheit gegründet, deren Einsatztaktik zur Terrorismusbekämpfung sich strukturell nicht mehr von militärischem Vorgehen im Häuserkampf unterscheidet, und neue, besser gepanzerte Ausrüstung und Fahrzeuge wurden angeschafft.
Die polizeiliche Kategorie des Schutzmanns befindet sich ebenso wie die der Schutzfrau aktuell in der Defensive, die polizeiliche Bühne betritt nun wieder der Polizei-Krieger, gern auch als Held im Kampf gegen das Böse. Der kriegerische Habitus kann für die Polizei aber zum Problem werden, denn er negiert die Grenzen des zivilen Charakters der Polizei beziehungsweise verschiebt diese Grenzen immer weiter in eine militärische Logik hinein.
Gewalt gegen die Polizei
Die Grundbedingung der Herausbildung des demokratischen staatlichen Gewaltmonopols umfasst, dass die Polizei auch die Aufgabe hat, Gewalt auf sich zu ziehen. Nur deshalb gibt es in der Bundesrepublik den Paragrafen 113 Strafgesetzbuch (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte). Mit ihm sollen die Amtshandlungen der Hoheitsträger geschützt werden und damit mittelbar sie selbst, aber eben nur dann, wenn sie hoheitlich tätig werden. Diese Regelung wurde 2017 durch den neuen Paragrafen 114 Strafgesetzbuch (Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte) ergänzt, der nunmehr explizit die Personen in Gänze schützt und nicht nur deren Amtshandlung.
Polizistinnen und Polizisten legen mit Blick auf die ihnen entgegengebrachte Gewalt eine sehr hohe Empfindlichkeit an den Tag. Sie sind nicht so sehr erschrocken über die tatsächliche Gewalt, sondern über die Selbstverständlichkeit und den Verbreitungsgrad der vermeintlichen Respektlosigkeit ihnen gegenüber – der Polizei, oft synonym mit dem Staat, der Obrigkeit.
Zwar waren die Zeiten der großen gesellschaftlichen Konflikte auch für die Polizei rauer, und gerade der Terrorismus der 1970er Jahre bedeutete eine Zerreißprobe für die Gewalttoleranz in Polizei und Bevölkerung der Bundesrepublik.
Polizeilicher Fehlgebrauch von Gewalt
Gleiches gilt für die Frage, ob die legitime wie illegitime Gewaltausübung durch Polizistinnen und Polizisten qualitativ und quantitativ zugenommen hat oder ob sich dieser Eindruck auf eine stärkere mediale Aufbereitung in der gewaltsensiblen Gegenwartsgesellschaft zurückführen lässt, in der Gewalt dort, wo sie fallweise wieder auftritt, heftige Reaktionen und Ängste auslöst.
Die illegitime Anwendung von Gewalt (violentia) wohnt auch der legitimen Gewaltanwendung (potestas) inne, beispielsweise als Gewaltexzess, also einem "zu viel" einer an sich rechtmäßigen polizeilichen Handlung. Die polizeiinternen Reaktionen auf Fehlverhalten im Zusammenhang mit der polizeilichen Gewaltanwendung, etwa Übergriffe oder Diskriminierungshandlungen, fallen jedoch hochambivalent aus. Strafanzeigen gegen Kolleginnen und Kollegen sind nach wie vor äußerst selten und haben für die anzeigende Person meist unangenehme Folgen.
Beharrlich bemüht die politische Führung der Polizei nach wie vor das Argument des individuellen Fehlverhaltens: Für sie sind es weiterhin wenige "schwarze Schafe", die den Ruf der Organisation ruinieren. Zugleich ist die Gegenmeinung, die bekannt gewordenen Fälle seien lediglich die Spitze des Eisbergs und Ausdruck eines strukturellen Gewaltproblems der Polizei, empirisch ebenso wenig haltbar. Polizeiliches Fehlverhalten im Sinne nicht legitimer Gewaltanwendung ist weder singulärer "Unfall" noch wird es strukturell unterstützt. Vielmehr wird man über (sub)kulturelle Milieus sprechen müssen, in denen sich solches Gebaren häuft beziehungsweise als legitim erachtet wird. Ein wesentlicher Aspekt dabei sind in aggressiver Maskulinität verankerte Vorstellungen einer guten gesellschaftlichen Ordnung (der frühere Begriff dafür hieß "Policey") und einer adäquaten Konfliktbewältigung.