Eine der grundlegenden gesellschaftlichen Erwartungen an die Polizei ist, dass sie Menschen vor Straftaten schützt und Täter überführt. Diese Aufgaben erfordern eine stetige Anpassung der Polizeiarbeit an neue gesellschaftliche, rechtliche und kriminologische Entwicklungen. Lange konnte davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesen Entwicklungen um Handlungsweisen handelt, die in einem physischen Raum stattfinden.
Virtueller Interaktionsraum
Rund 90 Prozent der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren nutzen zumindest gelegentlich das Internet, 77 Prozent sogar täglich. Bei den 14-Jährigen liegt die Quote seit 2012 sogar konstant bei 100 Prozent.
Die durchschnittliche tägliche Dauer von Internetaktivitäten der Deutschen steigt seit Jahren.
Kriminalität imvirtuellen Raum
Kriminalität – also willensgetragenes und strafbewährtes Verhalten – entsteht in vielen Ausprägungen aus der Interaktion zwischen Menschen. Diese Interaktion ist auch im Internet möglich. Entsprechend ist kaum eine Deliktsform denkbar, die nicht auch im oder über das Internet begangen werden kann. In Deutschland hat sich für Kriminalität im Internet der Begriff "Cybercrime" etabliert. Dabei wird unterschieden zwischen Cybercrime im engeren Sinne – computerbasierte Angriffe, die sich gegen das Internet oder entsprechende Hardware richten – und im weiteren Sinne – Delikte, bei denen das Internet als Tatmittel genutzt wird, beispielsweise bei Beleidigung oder Volksverhetzung in Sozialen Medien.
In der politischen Debatte über Normen im Netz wird häufig betont, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sei.
Anders sieht es im digitalen Raum aus. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) weist für 2018 für Cybercrime im engeren Sinne 63.496 Anzeigen aus,
Ähnliche Quoten sind für das Phänomen Cybergrooming festzustellen, also onlinebasiertes Einwirken auf ein Kind zur Einleitung oder Intensivierung eines sexuellen Missbrauchs: Die PKS weist für die entsprechenden Grundtatbestände 1391 Anzeigen für 2018 aus,
Fixierung von Normenüberschreitungen
Auch wenn solche Hochrechnungen Schwächen haben, zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit im Netz, für Delikte auch verfolgt zu werden, geringer ist als im physischen Raum. Hier muss bedacht werden, dass im Internet Normenüberschreitungen teilweise zeitlich fixiert werden, beispielsweise in Form von strafbaren Kommentaren, sexuellen Belästigungen oder ähnlichen Delikten vor allem in Sozialen Medien. Typischerweise ist eine Normenüberschreitung im physischen Raum eine temporäre und situationsabhängige Handlung, deren Fixierung meist in Form des stattgefundenen Schadens und der Erinnerungen der Beteiligten erfolgt. Ein Unbeteiligter, der an einem Tatort vorbeikommt, kann also möglicherweise nicht mehr registrieren, dass hier ein Normenbruch stattgefunden hat. Im virtuellen Raum bleibt ein Normenbruch hingegen häufig nachvollziehbar.
Der nicht unumstrittenen Broken-Windows-Theorie zufolge kommt es bei einem Normenbruch – den eingeschlagenen Fensterscheiben – maßgeblich darauf an, dass sichtbar reagiert wird, um ein Interesse an einer Normendurchsetzung zu symbolisieren.
Gedanklich kann daran die Routine-Activity-Theorie angeschlossen werden, die drei Faktoren benennt, die sich gegenseitig bedingen und in einer konkreten Situation zu einer Entscheidung für oder gegen einen Normenbruch führen können: Jemand muss erstens eine grundsätzliche Tatmotivation besitzen, zweitens muss ein lohnendes Ziel vorliegen und drittens müssen die vorhandenen Schutzmechanismen entsprechend gering sein.
Wenn ein Normenbruch sichtbar stattfindet und es zu keiner Reaktion beziehungsweise dem Beseitigen der Schäden – der Reparatur der Fensterscheibe – oder einer sichtbaren staatlichen Reaktion etwa in Form von Polizeistreifen kommt, zeigt dies, dass die Schutzmechanismen und damit das Risiko bei einer Tatbegehung offenbar niedrig sind. Entsprechend kann die Hemmschwelle für das jeweilige Delikt sinken. Dies könnte zu einem generellen Gefühl der Rechtsfreiheit im Internet beitragen, das durch die digitale Fixierung intensiviert wird und in Ansätzen einem anomischen Raum ähnelt.
Je nach Deliktsart wird damit auch das Dunkelfeld für Menschen sicht- und wahrnehmbar. Ein Nutzer, der im Internet mit strafbaren Kommentaren, sexuellen Belästigungen oder mit Betrugshandlungen konfrontiert wird, bekommt einen Einblick in das Dunkelfeld. Der Theorie einer "Präventivwirkung des Nichtwissens" zufolge ist genau dies ein grundsätzliches Problem.
Hürden der Polizeipräsenz und Strafverfolgung
Die reine Präsenz der Polizei im öffentlichen Raum ist also ein essenzieller Faktor der Normenregulierung.
Im digitalen Raum ist die Polizei noch nicht in einem ähnlichen Maßstab aufgestellt. Nach gegenwärtigem Verständnis gibt es zunächst zwei grundlegende Formen der Polizeipräsenz im Netz. Zum einen kann diese verdeckt erfolgen, beispielsweise um Recherchen und Beweissicherungen für Ermittlungsmaßnahmen zu betreiben, in Form sogenannter verdeckter Ermittler, bei denen sich die Polizisten eine eigene Identität geben. Verdeckte Ermittler werden genutzt, um sich in Darknet-Foren einzuschleusen, oder sie geben sich als sogenannte Scheinkinder in Sozialen Medien aus, um Cybergroomer proaktiv zu überführen. Diese Form der Präsenz ist für den Nutzer nicht wahrnehmbar, eine entsprechende präventive Wirkung kann sich also nicht entfalten. Inwiefern die Polizei sich zudem dabei auf Ermächtigungsgrundlagen stützen kann, die nicht für einen virtuellen Einsatz gedacht waren, ist zudem umstritten.
Zum anderen kann Polizeipräsenz wahrnehmbar sein. Diese Art der Polizeipräsenz erfolgt in Deutschland fast ausschließlich über institutionelle Social-Media-Accounts der Polizei. Ende 2018 gab es in Deutschland 333 solcher Accounts,
In den Niederlanden oder auch in Großbritannien wird neben Kommunikationszwecken zudem vermehrt auf das Konzept des "digital community policing" gesetzt.
Zusammenfassend ist also festzustellen: Bisher setzt die Polizei in Deutschland Soziale Medien vorrangig dazu ein, um Handlungsanweisungen möglichst vielen Menschen transparent zu erklären und zu vermitteln. Ferner nutzt sie Soziale Medien auch, um Informationen im Rahmen von Strafverfahren zu erhalten. Weniger im Fokus steht bisher die Frage der generalpräventiven Wirkung der polizeilichen Präsenz im Netz sowie der Einsatz zur Vermittlung von Präventionsthemen.
Herausforderungen für die Polizeiarbeit
Die gesamte Sicherheitsstruktur der deutschen Polizei ist auf die Abarbeitung des Hellfeldes ausgerichtet. Dabei ist sie in der Lage, leichte Schwankungen innerhalb des Hellfeldes abzudecken, wenn es beispielsweise in einem Deliktsfeld zu einem höheren Anzeigenaufkommen kommt. Doch nur, weil nicht das gesamte Dunkelfeld ersichtlich ist, reichen die polizeilichen Ressourcen. Die Sicherheitsbehörden wären schlicht nicht in der Lage, das gesamte Dunkelfeld abzuarbeiten. Da Deutschland aber offensichtlich nicht als rechtsfreier Raum wahrgenommen wird, scheint das auszureichen, um eine generelle Normenakzeptanz herbeizuführen.
Eine relevante Hürde für die Polizeiarbeit im digitalen Raum stellt das Legalitätsprinzip dar, das vornehmlich in Deutschland und Österreich verankert ist. Dieses Prinzip, das sich primär aus den Paragrafen 152 Absatz 1 und 163 Absatz 1 der Strafprozessordnung speist, verpflichtet Polizeibeamte dazu, bei einem Anfangsverdacht zwingend strafprozessuale Maßnahmen einzuleiten. Wenn der Polizist dies nicht tut, setzt er sich der Gefahr einer Strafbarkeit nach Paragraf 258a Strafgesetzbuch aus. Dieses Konstrukt ist am Hellfeld orientiert und soll sicherstellen, dass Straftaten unabhängig von anderen Faktoren verfolgt werden. Das Prinzip ist nicht dafür gedacht, dass Sicherheitsbehörden tatsächliche Kriminalität vollumfänglich ins Hellfeld rücken können. Im Internet wird genau das zum grundsätzlichen Problem. Denn hier kann jeder Kriminalität mit wenigen Mausklicks selbst erhellen, sei es im Darknet oder in den Sozialen Medien. Faktisch kann dabei jede Beleidigung, jede Urheberrechtsverletzung und so fort einen Anfangsverdacht darstellen, der wiederum eine Strafverfolgungspflicht auslöst. Da das Legalitätsprinzip keine Ausnahmen oder eine Wertigkeitshierarchie von Delikten vorsieht, muss jede Straftat unverzüglich verfolgt werden. Eine Konzentration auf spezielle Delikte beispielsweise bei einer virtuellen Polizeistreife ist also nicht umsetzbar. Hinzu kommt, dass die Polizei auch keine Verjährung feststellen darf, dies obliegt letztlich der Staatsanwaltschaft.
Ein weiteres Problem ist, dass im Internet keine physischen Grenzen gelten. Daher müssen auch strafbare Handlungen von Menschen im Ausland – faktisch weltweit – in die zu verfolgenden Delikte aufgenommen werden, da Polizisten nicht auf den ersten Blick erkennen können, ob beispielsweise der Verfasser eines strafbaren Kommentars in Deutschland sitzt oder nicht. Auch die sprachliche Ausrichtung von Kommentaren kann hierbei nur ein Indiz sein, denn allein onlinebasierte Übersetzungssysteme ermöglichen Veröffentlichungen in nahezu allen Sprachen. All dies multipliziert mögliche Straftaten, auf die die Polizei im Netz reagieren müsste. Im Internet entsteht so eine Art Kriminalitätstransparenz, für die das Legalitätsprinzip nicht geschaffen wurde.
Die Bundeswehr soll 2017 rund zwei Millionen Cyberangriffe nur gegen ihre eigenen Systeme festgestellt haben.
Aber nicht nur die Architektur der Strafverfolgung steht vor einer grundsätzlichen Herausforderung, sondern auch das polizeiliche Aufgabengebiet der Gefahrenabwehr. Obwohl hier zwar die originäre Zuständigkeit bei den Ordnungsbehörden liegt, werden diese doch häufig in Form einer subsidiären Aufgabenwahrnehmung durch die Polizei übernommen. Die Art und Weise, wie die Polizei dieser Aufgabe nachgehen kann, wird in den Landespolizeigesetzen geregelt. Diese sind auch wesentliche Unterscheidungsmerkmale zwischen den Landespolizeien, da die darin erteilten Befugnisse sich von Land zu Land unterscheiden. Im Gegensatz zur klassischen Strafverfolgung, die auf Bundesgesetzen basiert, ist bei der Gefahrenabwehr die örtliche Zuständigkeit die Grundlage, der zufolge ein Polizist seinem Polizeigesetz entsprechend nur in seinem Bundesland zuständig werden darf. Im alltäglichen Leben spielt dies selten eine Rolle, da ein Polizist meist in seinem Bundesland handelt. Wenn jedoch wie im Internet bereits zwischen Staaten keine physischen Grenzen zu ziehen sind, gilt dies noch viel stärker für die Grenzen von Bundesländern. Damit ist die Feststellung einer örtlichen Zuständigkeit, die für die Anwendung der deutschen Polizeigesetze notwendig ist, im digitalen Raum nahezu unmöglich.
Braucht ein digitaler Raum eine digitale Polizei?
Die Polizei ist in jeder demokratischen Gesellschaft ein Eckpfeiler des Rechtsstaates. Sie ist dabei ganz selbstverständlich auch im öffentlichen Raum präsent, um einerseits das Gewaltmonopol des Rechtsstaates sichtbar zu vertreten und andererseits für die Menschen ansprechbar zu sein. Gleichzeitig ermöglicht eine Erkennbarkeit der Polizei eine rechtsstaatliche Überprüfung polizeilicher Maßnahmen. Aber auch potenzielle Straftäter im öffentlichen Raum müssen stets mit dem Risiko rechnen, dass eine Polizeistreife vorbeikommt. Dabei ist die Sicherheitsarchitektur in Deutschland so aufgestellt, dass es keine Totalüberwachung, aber auch keine absolute Unterwachung gibt. Diese Struktur orientiert sich jedoch an physischen Regeln wie Landesgrenzen, an denen sich die Polizeien des Landes und des Bundes orientieren können.
Eine gesellschaftliche wie sicherheitspolitische Debatte der Übertragung dieser Mechanismen auf den digitalen Raum steht erst am Anfang. Die bisher offenbar vorhandenen Unsicherheiten bei der Polizei, wie mit diesem Raum umgegangen werden muss, zeigt sich in vielen Bereichen, sei es die im internationalen Vergleich sehr zögerliche Nutzung von Social-Media-Accounts, die geringe Auseinandersetzung mit dem im Verhältnis zu physischen Delikten höheren Dunkelziffern, dem sehr geringen polizeilichen Personal für den digitalen Raum oder bei der Frage der Anwendbarkeit der Polizeigesetze im Internet. Hierbei zeigt sich auch, dass rechtliche Konstrukte wie das Legalitätsprinzip nicht einfach auf die Polizeiarbeit im Internet übertragen werden können. Der häufige Verweis darauf, dass der digitale kein rechtsfreier Raum sei, erscheint vor diesem Hintergrund eher wie ein Reflex statt wie eine Feststellung.
Letztlich fehlt es bisher an einer übergeordneten Strategie in Deutschland, wie die Sicherheit im Internet auch zwischen Menschen gewährleistet und strukturiert werden und ob die Polizei ein integraler Bestandteil dieses digitalen Raumes sein soll. Eine tatsächliche Polizeiarbeit und Präsenz in einem digitalen Raum würde dabei folgerichtig auch eines wesentlich höheren Personal- und Ressourceneinsatzes bedürfen und gleichzeitig zu steigenden Fallzahlen führen. Die hohen Konfrontationszahlen von Menschen mit Kriminalität im digitalen Raum können eine solche Debatte aber rechtfertigen.