Einleitung
Die vier so genannten Hartz-Gesetze stehen für mehr als nur eine Reform der Arbeitsmarktpolitik. Sie sind zugleich Symbol für die Reformfähigkeit des deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialsystems schlechthin. So nimmt es auch nicht Wunder, dass sie wie kaum ein anderes Reformprojekt die Gesellschaft spalten. Die einen begrüßen die Reformpakete als längst überfälligen Durchbruch zu einer lange Zeit blockiert erscheinenden Reformpolitik. Andere sehen in ihnen den Beginn vom Ende des Sozialstaates.
Wohl selten zuvor war ein arbeitsmarktpolitisches Reformprogramm so umfassend angelegt und so zügig auf den Weg gebracht worden wie die Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, im Folgenden kurz Hartz-Gesetze genannt. Zu diesem Reformpaket gehört auch das zum Jahresbeginn 2004 in Kraft getretene "1. Gesetz zur Reform des Arbeitsmarktes". Angelehnt an die Vorschläge der so genannten Hartz-Kommission
In einer ersten Einschätzung wird die These vertreten, dass die Hartz-Gesetze eine Wegscheide in der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Konzeption markieren. Sie ist weniger durch die zu erwartenden quantitativen Arbeitsmarkteffekte begründet als durch die qualitativen Wirkungen: Die Reformschritte fördern den Umbau des Arbeitsmarktes in Richtung atypischer Beschäftigungsformen und verlangen den Arbeitsuchenden ein erhöhtes Maß an Eigenverantwortung ab, ohne gleichzeitig die gestiegenen sozialen Risiken durch verbesserte Beschäftigungschancen im Bereich der versicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisse kompensieren zu können.
Die vier Hartz-Gesetze
Das Tempo der jüngsten Arbeitsmarktreformen ist beachtlich. Mit Jahresbeginn 2003 sind die beiden ersten Hartz-Gesetze in Kraft getreten, Hartz III folgte zum Jahresbeginn 2004 und Hartz IV ein Jahr später. Mit diesen Gesetzen sind nicht nur bestehende arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Regelungen und institutionelle Strukturen einschneidend modifiziert sowie gänzlich neue Instrumente eingeführt worden. Sie haben auch das bereits mit dem 2001 verabschiedeten Job-AQTIV-Gesetz eingeschlagene Konzept der "Aktivierenden Arbeitsmarktpolitik" fortgeführt und fundiert. Mehr Eigenverantwortung der Arbeitsuchenden lautet die Schlüsselbotschaft. Weiter in den Hintergrund gerät der bei Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) im Jahre 1969 verankerte Grundgedanke der aktiven und präventiven Arbeitsmarktpolitik, der in der arbeitsmarktpolitischen Praxis ohnehin seit geraumer Zeit vernachlässigt schien.
Inhaltlich umfassen die bisherigen Reformschritte eine breite Palette heterogener Maßnahmen, deren wichtigste Elemente sich wie folgt gruppieren lassen. 1. Umbau der Bundesanstalt zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen Bundesagentur für Arbeit(BA): Hierunter fallen eine neue Steuerungsphilosophie der BA (Wirtschaftlichkeit und prognostizierte Wirkungen); Job-Center als einheitliche Anlaufstellen für alle Arbeitslosen; die Einführung vonBildungsgutscheinen und die Zulassung von Weiterbildungsträgern durch "Zertifizierungsagenturen". 2. Leistungsrecht: Fordern und Fördern: Hierzu gehört die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von maximal 32 auf maximal 12 bzw. 18 Monate für Arbeitslose ab 55 Jahre; die Verschärfung der Zumutbarkeit;
Von der Verknüpfung dieser vielfältigen Reformelemente aktiver wie passiver Arbeitsmarktpolitik werden Beschäftigung fördernde Impulse erhofft:
Neue Grundphilosophie
Die Hartz-Gesetze stärken den Gedanken der Eigenverantwortung, betonen das Konzept der Aktivierenden Arbeitsmarktpolitik und orientieren die Aktivitäten stärker an dem Verhältnis von prognostizierten Wirkungen (Wirksamkeit) und dem dafür erforderlichen finanziellen Aufwand (Wirtschaftlichkeit).
So positiv die Politik der Aktivierung der Arbeitslosen sowie die Unterstützung der Eigeninitiative im Grundsatz zu sehen sind, so problematisch ist das im Rahmen der Reformgesetze eingeschlagene Konzept in seiner konkreten Form und Umsetzung zu bewerten. Die Aktivierungsstrategie, die Arbeitslose motivieren soll, mehr Verantwortung bei den Reintegrationsversuchen zu übernehmen, konterkariert diese Ansätze durch Begrenzungen der Handlungsautonomie und dürfte zudem die Problemgruppen des Arbeitsmarktes überfordern.
Versucht man zu bilanzieren, in welchem Verhältnis die Reformschritte das Prinzip des Forderns und Förderns realisieren, dann schlagen die intensivierten Beratungs- und Vermittlungsaktivitäten positiv auf der Seite der Förderaktivitäten zu Buche. Zwar entspricht das derzeitige Verhältnis von Beratern bzw. Fallmanagern und zu betreuenden Arbeitsuchenden noch nicht der angestrebten Relation von eins zu 75 bis 150 (bisher eins zu 350 bis 800). Grundsätzlich lässt die intensivere Betreuung aber eine gezieltere Vermittlung erwarten. Hierzu dürften auch die zwischen Fallmanager und Arbeitslosen zu treffenden Eingliederungsvereinbarungenbeitragen. Sie legen Schritte fest, mit denen die Integration in den Arbeitsmarkt gefördert werden soll. Grundlage hierfür bildet eine Eignungsfeststellung (Profiling), bei der die Merkmale und Fähigkeiten der Arbeitslosen erfasst werden.
Außer Frage dürfte stehen, dass diese Aktivierungsbemühungen die bislang eher bescheidene Rolle der Bundesagentur für Arbeit (BA) im gesamten Prozess der Arbeitsvermittlung stärken,
Dieser generelle Arbeitsplatzmangel ist auch nicht durch die an die Arbeitslosen herangetragene Forderung nach höherer Konzessionsbereitschaft zur Arbeitsaufnahme zu beheben. Die Strategie des Forderns verfügt über mehrere Hebel: die gekürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, die Abschaffung der im Vergleich zum Arbeitslosengeld II (in Abhängigkeit vom früheren Einkommen) teilweise deutlich höheren Arbeitslosenhilfe, die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen und die Umkehr der Beweislast zuungunsten der Arbeitsuchenden. In diesen Maßnahmen klingt die Auffassung durch, Arbeitslosigkeit sei vorrangig ein Problem mangelnder Arbeitsmotivation. Die verschärften Sanktionen sollen entweder bisherige Leistungsempfänger mit nur geringer Erwerbsneigung zu einem Rückzug vom Arbeitsmarkt bewegen ("Bestandsbereinigung")
Schließlich ist die in der Arbeitsmarktpolitik eingeschlagene Strategie der vermehrten Eigenverantwortung nicht isoliert zu sehen, sondern im Kontext der gesamten sozial- und bildungspolitischen Reformen zu bewerten. Denn erst die Gesamtschau offenbart, dass sich für einen nicht unerheblichen Teil der Erwerbspersonen die Risiken mehren, schlichtweg überfordert zu werden. So läuft die Politik, den Beschäftigten einen höheren Eigenbeitrag bei der Altersvorsorge abzuverlangen, ins Leere, wenn gleichzeitig beim Arbeitslosengeld II die Anspruchskriterien nur vergleichsweise bescheidene Vermögensfreibeträge zulassen. In dem Maße, wie zukünftig Erwerbsbiographien häufiger durch längere Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen werden, schwinden die Möglichkeiten, die geforderte höhere Eigenvorsorge treffen und größere Sparguthaben bilden zu können. Das Risiko der Altersarmut wächst. Verstärkt wird es durch die arbeitsmarktpolitisch intensivierte Förderung geringfügiger Beschäftigung oder des Niedriglohnbereichs. So sind die Mini-Jobs nicht nur nicht gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit versichert. Die im Rahmen dieser Beschäftigungsverhältnisse entstehenden Ansprüche auf Alterssicherung sichern ebenso wenig den späteren Lebensunterhalt. Erst recht nicht dürfte eine auf den Prinzipien der umfassenden Eigenverantwortung basierende Politik ihr Ziel erreichen, wenn, wie jüngst von der Kommission "Finanzierung des Lebenslangen Lernens" vorgeschlagen, die Beschäftigten außerdem für ihre berufliche Weiterbildung eigenverantwortlich Vorsorge treffen und entsprechende Bildungssparguthaben bilden sollen.
Neben finanziellen Ressourcen setzt das auf vermehrte Eigenverantwortung abzielende Prinzip des Forderns und Förderns bei den Adressaten außerdem Marktkompetenz und die Fähigkeit zu autonomen Handeln voraus.
Verdrängungseffekte
Verschiedene Regelungen weiten die Möglichkeiten flexibler Beschäftigungsformen aus. Hierzu zählen vor allem die mit Hartz II eingeführten Mini- und Midi-Jobs mit Verdienstgrenzen bis 400.- Euro bzw. zwischen 401.- und 800.- Euro, welche die ursprüngliche Form der geringfügigen Beschäftigung (bis 325.- Euro) ersetzen, sowie Leiharbeit im Rahmen der PSA und der Existenzgründungszuschuss (Ich-AG). Die an diese Beschäftigungsformen geknüpften Erwartungen waren von Beginn an hoch spekulativ. Allein die neuen Formen der Leiharbeit im Rahmen der PSA sollten innerhalb von drei Jahren bis zu 500 000 Arbeitslose übernehmen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass einzelne der durch die Reformen geförderten Beschäftigungsformen kräftig zugelegt haben.
Den stärksten Zuwachs verzeichnen die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die zwischen September 2003 und September 2004 um knapp eine Million oder 17 Prozent auf 6,873 Millionen zugenommen haben.
Außerdem zählte die BA Ende Dezember 2003 rund 669 000 Midi-Jobs. Einen Existenzgründungszuschuss für eine Ich-AG haben 2004 knapp 176 000 Arbeitslose erhalten, im Jahresdurchschnitt waren es 154 000.
Die Mitte des Jahres 2003 eingeführten PSA stellten im Laufe des Jahres 2004 insgesamt 57 800 Arbeitslose ein, im Jahresdurchschnitt waren es 27 800.
Die bei diesen Beschäftigungsformen durch die Hartz-Gesetze ausgelösten Impulse haben nach Einschätzung der BA wesentlich dazu beigetragen, die in den Vorjahren rückläufige Entwicklung der Beschäftigung zu stoppen und in einen leichten Zuwachs von jahresdurchschnittlich 128 000 Erwerbstätigen oder 0,3 Prozent umzukehren.
Es gibt jedoch starke Indizien dafür, dass ein Gutteil dieser Entwicklung auf Verdrängungseffekte zurückzuführen ist. Gegenläufig zu der gestiegenen Erwerbstätigenzahl ist die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten kräftig (bis Juni minus 431 000 oder 1,6 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat) geschrumpft. Dieses Entwicklungsmuster ist in den Hochburgen geringfügiger Beschäftigung, in den Bereichen Gastgewerbe, Handel sowie Verkehr und Nachrichtenübermittlung, besonders ausgeprägt.
Neben dem Substitutionseffekt wird der arbeitsmarktpolitische Effekt der Mini-Jobs ferner dadurch relativiert, dass der kräftige Zuwachs dieser Beschäftigungsform zu fast 60 Prozent auf das Konto von geringfügig Nebenerwerbstätigen geht, die für diese Tätigkeit keine Beiträge zur Sozialversicherung zahlen, da sie bereits im Rahmen ihrer Hauptbeschäftigung sozialversichert sind. Bei der arbeitsmarktpolitischen Bewertung ist außerdem in Rechnung zu stellen, dass Rentner sowie Schüler und Studenten ein gutes Viertel dieser Beschäftigungsgruppe ausmachen.
Weder die zusätzliche Beschäftigung dieser Beschäftigtengruppen noch die der Nebenerwerbstätigen schafft Entlastung bei den registrierten Arbeitslosen.
Inwieweit es durch die im Rahmen von PSA beschäftigten Leiharbeitnehmer zu ähnlichen Verdrängungseffekten kommt, lässt sich angesichts der ausstehenden Evaluierungsergebnisse noch nicht sagen. Kommerzielle Zeitarbeitsunternehmen sowie der Bundesverband Zeitarbeit gehen jedenfalls von Verdrängungseffekten aus.
Rückwirkungen auf die Sicherungssysteme
Die skizzierten Verdrängungsprozesse schmälern nicht nur die Arbeitsmarktbilanz. Sie beeinträchtigen auch die Bilanzen der Sozialversicherungen. In dem Maße, wie speziell Mini- und Midi-Jobs sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ersetzen, entgehen den Sozialversicherungen Einnahmen. Die Renten- und die Krankenversicherungen erhalten nicht den vollen Beitragssatz, obwohl Anspruch auf volle Leistungen bei der Krankenversicherung besteht. Die Arbeitslosenversicherung geht bei den Mini-Jobs sogar leer aus.
Verdrängungseffekte wirken sich auch auf die Ausgabenseite der Sozialversicherungen aus. Werden die zusätzlichen Mini- und Midi-Jobs als Nebentätigkeiten oder von primär nicht erwerbstätigen Personen (Schülern, Studenten, Rentnern) ausgeübt, bleibt die Zahl der registrierten Arbeitslosen unverändert. Entlastungen auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte bleiben aus, während gleichzeitig die Einnahmeseite geschwächt wird. Steigende Beiträge bei den Sozialversicherungen können die Folge sein.
Diese Wirkungszusammenhänge gelten analog auch für den Einsatz der Ein-Euro-Jobs. Fundierte Bewertungen erscheinen nach der erst kurzen Einführungsphase sicherlich noch verfrüht. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass im kommunalen Bereich Ein-Euro-Jobs auch dazu dienen könnten, die durch natürliche Fluktuation entstehenden Personallücken zumindest teilweise auszugleichen.
Prekäre Inklusion
Erweitert man die arbeitsmarktpolitische Perspektive über die kurzfristigen Beschäftigungseffekte atypischer Beschäftigungsformen hinaus und bezieht die Nacherwerbsphase in die Betrachtungen ein, dann sind langfristige soziale Probleme nicht auszuschließen. Mit der der Förderpolitik implizit zugrunde liegenden Formel, jede Arbeit sei besser als keine, macht man es sich leicht, da die Inklusion in den Arbeitsmarkt nicht automatisch das Risiko eines sozialer Abstiegs beseitigt. Nicht von der Hand zu weisen sind soziale Risiken bei geringfügig Beschäftigten und abgemildert auch bei der neuen Form der Selbstständigkeit im Rahmen der Ich-AG.
Die neuen Mini-Jobs bedeuten für Personen, die sie ausschließlich ausüben und nicht anderweitig Ansprüche an die Sozialversicherungen erwerben, trotz der Integration in den Arbeitsmarkt keine sozialversicherungsrechtliche Gleichstellung mit Beschäftigten im Normalarbeitsverhältnis. Die Rente erreicht aufgrund der geringen Beiträge kein Subsistenz bzw. den Lebensunterhalt sicherndes Niveau,
eigenständige Ansprüche an die Krankenversicherung werden nicht erworben. Die Integration in die Arbeitslosenversicherung erfolgt erst für die Midi-Jobs (ab 401.- Euro) und ist auch dort nicht ausreichend. Dieses Kriterium würde erst erfüllt, wenn mehrere Mini-Jobs kumuliert würden, was aber nur bei acht Prozent der geringfügig Beschäftigten der Fall ist. Schließlich kranken geringfügige Beschäftigungsverhältnisse daran, dass sie kaum in die betriebliche Weiterbildung einbezogen sind. Für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit (employability) haben die Beschäftigten selbst in Eigenverantwortung zu sorgen. Im Unterschied hierzu sollen die PSA den dort beschäftigten Leiharbeitnehmern immerhin Möglichkeiten bieten, in vermittlungsschwachen Phasen an geförderter Weiterbildung teilzunehmen.
Zu vernachlässigen sind die sozialen Risiken von Mini- und Midi-Jobs, soweit diese Beschäftigungsformen als Brücke in sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsverhältnisse dienen oder nur phasenweise oder als Nebentätigkeiten ausgeübt werden.
In dem Maße aber, wie ihr (akkumulierter) Anteil am gesamten Erwerbsleben steigt, wächst das Risiko, im Alter nicht über eine eigenständige soziale Sicherung zu verfügen.
An den Problemgruppen vorbei
Mit der Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit haben sich auch die Strukturprobleme verhärtet. Fast zwei Fünftel (38,9 Prozent) aller im Bestand registrierten Arbeitslosen sind länger als ein Jahr ohne Beschäftigung. Alle bisherigen Lösungsversuche sind gescheitert. Auch die Hartz-Gesetze zeigen bislang keine positiven Wirkungen. Im Jahr 2004 ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen sowohl in West- als auch in Ostdeutschland deutlich weiter gestiegen, in Ostdeutschland um 3,7 Prozentpunkte auf 43,6 Prozent und in Westdeutschland um 3,7 Prozentpunkte auf 35,3 Prozent.
Offensichtlich greifen die neuen bzw. modifizierten Instrumente (noch) nicht. Skepsis besteht, ob sie generell tauglich sind, die Verhärtung der Arbeitslosigkeit aufzubrechen. Zu vermuten ist vielmehr, dass einige der Reformmaßnahmen eher in die Gegenrichtung wirken und die Arbeitsmarktpolitik die Problemgruppen des Arbeitsmarktes weiter aus den Augen verliert. Zwei Beispiele sprechen für diese Vermutung:
So definiert der von der BA verfolgte Vorrang der beschleunigten Vermittlung sicherlich ein im Grundsatz richtiges Leitprinzip. Je konsequenter dieses Anwendung findet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es auf eine Bestenauslese hinausläuft. Als vermittlungsschwach eingestufte Arbeitslose dürften bei einem insgesamt defizitären Angebot an offenen Stellen nur geringe Chancen auf ein Angebot durch die Arbeitsagenturen haben. Der bereits vor den Hartz-Gesetzen bestehende Selektionsprozess der Arbeitsvermittlung, der sich vor allem an der mit fortschreitendem Alter abnehmenden Wahrscheinlichkeit auf ein Stellenangebot vom Arbeitsamt ablesen ließ, würde sich verstärken.
Weiteren Vorschub erhält dieser Selektionssprozess durch den Wegfall der Zielgruppenorientierung aus der Weiterbildungsförderung. Völlig offen ist schließlich, wie sich der Übergang von Arbeitslosen von den Arbeitsagenturen zu den die Empfänger von Arbeitslosengeld II betreuenden Arbeitsgemeinschaften auswirken wird.
Ähnliche Selektionsmechanismen sind von der Ausgabe von Bildungsgutscheinen an Arbeitslose zu befürchten. Auf Bildungsgutscheine besteht kein Rechtsanspruch. Über die Zuteilung entscheidet der zuständige Arbeitsberater bzw. Fallmanager. Gefördert werden nur noch Maßnahmen, die eine Verbleibsquote von 70 Prozent versprechen. Problematisch ist dieser Maßstab, weil er nicht den durch die Maßnahme bewirkten Eingliederungserfolg auf dem Arbeitsmarkt misst, sondern nur den Anteil der Personen, die sechs Monate nach Beendigung der Maßnahme nicht mehr arbeitslos sind.
Wegen der geforderten Verbleibsquote werden die Bildungsträger nur Erfolg versprechende Kurse zulassen und sich vorrangig auf gut vermittelbare Arbeitslose konzentrieren. Die Weiterbildungschancen für schwer Vermittelbare wie Langzeitarbeitslose, gering Qualifizierte oder Ältere sinken. Intensive sozialpädagogische Betreuung als flankierende Hilfe dürfte weitgehend entfallen, da diese nicht öffentlich gefördert wird. Das drohende Dilemma, dass arbeitsmarktpolitische Problemgruppenorientierung kurzfristiger Effizienzorientierung zum Opfer fällt, ließe sich durch eine eher an langfristiger Effizienz orientierte Politik auflösen. Dabei wären die sozialen Kosten, die langfristig durch Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt entstehen, ebenso in das Kalkül einzubeziehen, wie die möglichen politischen Folgen aufgrund veränderter Einstellungen bei wachsenden Gruppen, die sich als von der Gesellschaft vernachlässigt empfinden.
Schlussfolgerungen
Die mit den Hartz-Gesetzen vollzogenen Arbeitsmarktreformen werden die anhaltende Misere am Arbeitsmarkt nicht grundlegend abstellen können. Solange sie nicht in eine Beschäftigung fördernde Makropolitik eingebettet sind, werden die sich abzeichnenden Beschäftigungseffekte primär auf Substitutionswirkungen beruhen. Ein höheres Wirtschaftswachstum und eine steigende Beschäftigungsentwicklung sind von einer koordinierten makroökonomischen Politik zu erwarten. Sie setzt eine expansive Geld- und Finanzpolitik ebenso voraus wie eine Lohnpolitik, die sich am langfristigen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstum und der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank orientiert.
Die Hartz-Gesetze erweitern die Flexibilität am Arbeitsmarkt, ohne die dadurch geminderte soziale Sicherung zu kompensieren. Die sich abzeichnenden Substitutionseffekte destabilisieren zudem die Sozialversicherungen und könnten aufgrund drohender Beitragserhöhungen oder verhinderter Beitragssenkungen sogar das Wachstum belasten. Alternativ hierzu bieten Überlegungen zu einem Konzept der "Flexicurity"
Ansätze, auch bei gesteigerter Beschäftigungsflexibilität die soziale Sicherheit aufrechtzuerhalten. Sie setzen vorrangig auf Formen interner Flexibilität auf Basis des versicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisses, die Betrieben bei schwankendem Arbeitsbedarf Anpassungsmöglichkeiten durch die Arbeitszeit bieten. Die sozialen Risiken atypischer Beschäftigungsformen vor allem in der Nacherwerbsphase versuchen sie durch Konzepte der Grundsicherung abzumildern.