Einleitung
Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Souveränität wiedergewonnen und damit die Freiheit," rief Konrad Adenauer in einer Hörfunksendung am 5. Mai 1955 aus.
Und dennoch war die Bundesrepublik Deutschland kaum ein normaler, souveräner Staat und konnte es auch nicht sein, weil sie sich weiterhin als Teilstaat definierte, als ein Stück von "Deutschland als Ganzem". In späteren Jahrzehnten würde vielen die Vorstellung von einem deutschen Einheitsstaat als altmodisch erscheinen, doch in den fünfziger Jahren konnten sich die westdeutschen Eliten kaum etwas anderes vorstellen. Was stellte denn die Deutsche Demokratische Republik für sich genommen überhaupt dar? Was waren die Westberliner, wenn nicht Deutsche? Angesichts des offensichtlichen Fehlens politischer Freiheit in der DDR und des abnormen Status Berlins übernahmen es die Westdeutschen selbst, für "Deutschland als Ganzes" zu sprechen. Doch die Bundesrepublik besaß keine legale Jurisdiktion über diese Menschen. Die Sowjets hatten bereits im März 1954 die DDR zu einem souveränen Staat erklärt - wenn auch nicht gerade mit viel Überzeugung. Die Sowjetführung wollte sich ihren Sieg in Berlin nicht nehmen lassen und weigerte sich, irgendeine Beziehung zwischen der Bonner Republik und den drei westlichen Sektoren der früheren Reichshauptstadt anzuerkennen. Damit die Adenauer-Regierung ihren Alleinvertretungsanspruch aufrechterhalten konnte, brauchte sie die Unterstützung der drei westlichen Alliierten - Frankreich, Großbritannien und Vereinigte Staaten.
Somit war die Souveränitätsdeklaration vom Mai 1955 weit weniger einschneidend als erwartet. Adenauer war nicht mehr verpflichtet, die Alliierten Hohen Kommissare zu konsultieren, die zu bloßen Botschaftern herabgestuft worden waren; bis Ende 1955 waren jedoch zwischen den deutschen Amtsträgern und ihren Gegenübern bei den Alliierten neue Formen der Konsultation entstanden. Die Westalliierten ihrerseits hatten gelernt, dass sie die Deutsche Frage nicht einfach beiseite schieben konnten. Nicht nur, dass London, Paris und Washington sich verpflichteten, ihre Rechte in Berlin aufrechtzuerhalten - einschließlich der Drohung mit Krieg. Sie verpflichteten sich auch, eines der Merkmale des Kalten Krieges in Deutschland weiter zu unterstützen: die weltweite Kampagne, um die Anerkennung der DDR als ein zweiter souveräner deutscher Staat zu blockieren. Tatsächlich war einer der unvorhergesehenen Nebeneffekte der westdeutschen Souveränität eine fühlbare Verschärfung des Konkurrenzkampfes zwischen Bonn und Ostberlin. Die Regierung Adenauer übernahm dabei die Führung, neue Barrieren gegen die Anerkennung Ostdeutschlands zu errichten, und zwar mit einer Politik der Drohungen, die später etwas abschätzig "Hallstein-Doktrin" genannt wurde.
Dieser Beitrag soll skizzieren, warum sich die Frage der Souveränität in Deutschland zu einem Problem weltweiten Ausmaßes entwickelte und warum das westliche Lager im Großen und Ganzen erfolgreich war, Ulbrichts Regime für etwa zwei Jahrzehnte zu isolieren.
Übersetzung aus dem Englischen: Tilmann Chladek, Berlin.
Die Phase des Aufbaus
Zur Zeit ihrer Gründung im Mai 1949 war die Bundesrepublik bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zur internationalen Staatenwelt völlig abhängig von den Westalliierten. Hier hatte Ostberlin einen Startvorteil, weil die Sowjets unmittelbar nach der Ausrufung der DDR im Oktober 1949 die Schaffung eines Außenministeriums förderten. Innerhalb weniger Monaten waren ostdeutsche Gesandte auf dem Weg in neutrale Länder wie die Schweiz, Schweden und Finnland, in denen sie die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen als Vorbedingung für den Handel mit der DDR verlangten.
Die Ostberliner Regierung klein zu halten war eine Sache, doch Bonn auf internationaler Ebene zu unterstützen war eine ganz andere. Obwohl die Westalliierten die Bundesrepublik im Prinzip geschaffen hatten, zögerten sie, Adenauers Anspruch, für das ganze deutsche Volk zu sprechen, beizupflichten - einem Anspruch, den er zum ersten Mal vor dem Bundestag am 21. Oktober 1949 erhoben hatte.
In den meisten Fällen übernahmen westdeutsche Diplomaten die Kontrolle über Botschaften und Gesandtschaften, die vom Deutschen Reich im Jahr 1945 geräumt worden waren, womit die Linien der Kontinuität zwischen dem klassischen deutschen Nationalstaat und der neuen Bonner Republik gestärkt wurden. Unterdessen setzten sich die westlichen Verbündeten in verschiedenen Organisationen der Vereinten Nationen als Bonns Anwälte ein. Bereits im Herbst 1952 wurde es der Bundesrepublik gestattet, einen Ständigen Beobachter in die UN-Generalversammlung in New York zu entsenden; und sie trat einer ganzen Reihe anderer Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Vollmitglied bei. Die relative Isolierung des Sowjetblocks in den frühen fünfziger Jahren, dem Höhepunkt des Kalten Krieges, machte es den Alliierten leicht, die Bundesrepublik als den Nachfolger Deutschlands in der internationalen Politik zu etablieren.
Nach dem umfassenden Fehlschlag der Bemühungen, eine direkte diplomatische Anerkennung zu erreichen, ging das Ulbricht-Regime zu einer Schritt-für-Schritt-Strategie über. Durch die Errichtung von Handelsmissionen in westlichen Staaten sollte für die ostdeutschen Emissären eine gewisse Grundlage für die Kommunikation mit der nichtkommunistischen Welt geschaffen und damit der Boden für eine spätere Anerkennung durch die Gastländer bereitet werden. Die Westalliierten achteten jedoch sorgfältig darauf, die Ausbreitung jeglicher Einrichtungen, die mit der DDR-Regierung liiert waren, zu durchkreuzen. Stattdessen mussten Geschäftsleute, die mit Firmen in der "Sowjetzone" Handel treiben wollten, die Handelskammern nutzen. Derartigen Verfahrensweisen haftete immer etwas Künstliches an, war die ostdeutsche Wirtschaft doch zentral geplant; aber sie halfen dabei sicherzustellen, dass der "cordon sanitaire" rings um die DDR sich nicht allzu schädlich auf das Wirtschaftsleben dieses Gebietes auswirkte. Inoffizielle Handelskammervertretungen als Repräsentanten der ostdeutschen Industrie wurden in Amsterdam, Brüssel und einer Reihe anderer europäischer Städte eröffnet.
Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 hatte die Sowjetführung davon überzeugt, dass sie Schritte unternehmen müsse, um die Glaubwürdigkeit der SED-Regierung zu verbessern. Im März 1954 erklärten die Sowjets, dass die DDR "frei sei, über interne und externe Angelegenheiten, einschließlich der Beziehungen zu Westdeutschland, nach ihrem Willen zu bestimmen". Obwohl die Erklärung das Wort "Souveränität" sorgfältig vermied und den Sowjets ausdrücklich "Funktionen, die mit der Garantie der Sicherheit in Verbindung standen", vorbehielt, war Moskau in der Tat dabei, die Staaten der Welt aufzufordern, ihre Einstellungen gegenüber der DDR neu zu bewerten.
Das folgende Jahr brachte jedoch eine grundlegend veränderte Situation. Erstens begannen sich die Fronten des Kalten Krieges an der "Peripherie" zu entspannen. Das Auftreten der Blockfreienbewegung auf der Bandung-Konferenz vom April 1955 zeigte, dass zahlreiche asiatische und afrikanische Staaten ihre bis dahin geübte Praxis aufgaben, westliche Positionen zu Fragen des Kalten Krieges einfach zu übernehmen. Und zumindest rhetorisch gelang es Nikita Chruschtschow besser als seinen amerikanischen Gegenübern, die Blockfreienbewegung zu umwerben. Die Verbesserung der Beziehungen der Sowjetunion zu Jugoslawien stellte sich als besonders nützlich heraus angesichts des beträchtlichen Ansehens von Marschall Josip Broz Tito. Zugleich ließ es die offensichtliche Verhärtung der Pattsituation des Kalten Krieges in Europa - symbolisiert durch den Beitritt Westdeutschlands zur NATO und die darauf folgende Gründung des Warschauer Paktes - immer anachronistischer erscheinen, das Vorhandensein von zwei deutschen Staaten in Deutschland zu bestreiten. Adenauer beförderte diesen Wandlungsprozess unabsichtlich durch die Aufnahme offizieller Beziehungen mit der Sowjetunion im September 1955. Wenn jetzt zwei deutsche Botschafter in Moskau residierten, warum sollten dann nicht andere Länder dasselbe Privileg genießen?
Somit sah sich die soeben souverän gewordene Bundesrepublik im Herbst 1955 voreine Herausforderung ihres Selbstverständnisses gestellt. Westdeutsche in hohen Positionen befürchteten, dass die Teilung Deutschlands in zwei verschiedene Staaten auf ewig besiegelt würde, wenn die DDR dieAnerkennung von Schlüsselstaaten der Blockfreien wie Ägypten und Indien erlangen würde. Dies wiederum warf beunruhigende politische Fragen für den Kanzler wie auch für die Westalliierten auf. Adenauer hatte die Westbindung damit begründet, dass die wirtschaftliche und militärische Integration in die westlichen Institutionen Bonns Macht erhöhen und damit die Wiedervereinigung in der Zukunft wahrscheinlicher machen würde. Wenn es aber klar werden würde, dass die "Politik der Stärke" stattdessen die deutsche Einheit weniger wahrscheinlich gemacht hatte, würde das nicht Adenauers nationalistischen Gegnern in die Hände spielen und zu einer dramatischen Umorientierung der deutschen Politik führen? Im Winter 1955/56 sah sich Adenauer beträchtlichem Druck ausgesetzt, die Beziehungen zur Sowjetunion im Interesse der Vereinigung zu aktivieren; in der Tat verließ die FDP zum Teil wegen dieser Frage Adenauers Regierungskoalition. Die SPD ihrerseits verlangte direkte Gespräche zwischen Bonn und Ostberlin über das Problem der deutschen Einheit - eine Aussicht, die die Westalliierten für beunruhigend hielten. Adenauer war der einzige führende Politiker, bei dem man sich darauf verlassen konnte, dass er den Status quo einer westlich orientierten Bundesrepublik verteidigen und noch vertiefen würde. Somit waren die politischen Bedürfnisse Adenauers auch diejenigen der Alliierten.
Triumph der Abschreckung
Im Herbst 1955 errichtete die Adenauer-Regierung eine Art allgemeines Abschreckungssystem. Zuvor hatten sich die Westdeutschen damit begnügt, dass sie allgemeine Warnungen aussprachen. Jetzt wurde die Sprache Bonns zunehmend konkreter. Am 22. September 1955 erklärte Adenauer vor dem Bundestag, dass, wenn ein diplomatischer Partner der Bundesrepublik sich dafür entschiede, die DDR anzuerkennen, dies als ein "unfreundlicher Akt" angesehen würde.
Brentanos eindeutige Sprache fand ihr Echo durch Staatsekretär Walter Hallstein, der Journalisten in Hintergrundgesprächen versicherte, dass Bonns Politik hart und kompromisslos sei.
Unter der Oberfläche war die Bonner Politik flexibler, als es Hallstein spüren ließ. Wie Wilhelm Grewe, Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, bemerkt hat: "Es muss davon ausgegangen werden, dass ein staatsähnliches Territorium mit einer Bevölkerung von 17 Millionen Menschen von der übrigen Welt nicht als nicht-existent behandelt werden kann."
Die Politik Grewes eröffnete den ostdeutschen Emissären beträchtlichen Handlungsspielraum, um die Grenzen der Geduld der Westdeutschen auf die Probe zu stellen. Im Winter 1957/58 wurde in Kairo ein "Büro des Bevollmächtigten der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik für die arabischen Staaten" eröffnet.
Der Handelsvertreter in Damaskus nannte sich selbst Konsul; Richard Gyptner, Bevollmächtigter in Kairo von 1958 bis 1961, führte den Titel "Botschafter". Doch all dies brachte das SED-Regime der Aufnahme echter diplomatischer Beziehungen zum Regime von Gamal Abdel Nasser keinen Schritt näher. Er gewährte der DDR Privilegien in wohl dosierten Dosen, um in Bonn keine nervöse Reaktion hervorzurufen. Theoretisch hätte die Bonner Kampagne zur Isolierung der DDR nichts kosten sollen; die Nichtanerkennung war eine Vorbedingung für die Unterhaltung diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik. Doch in der Realität gelang es großen Staaten wie Ägypten, Indien und Jugoslawien, Bonn dazu zu veranlassen, Konzessionen einzuräumen im Austausch für den Verzicht auf die Aufnahme engerer Beziehungen zur DDR.
Was die Politik Bonns stärkte, war der unbestreitbare Nachweis, dass das Auswärtige Amt, wenn es zum Äußersten getrieben wurde, seine Drohungen in die Tat umsetzen würde. Als im Oktober 1957 Jugoslawien diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahm, brach die Bundesrepublik ihre Beziehungen zu Jugoslawien ab. Das war kein ruhmreiches Kapitel in der Geschichte der deutschen auswärtigen Beziehungen, denn eine sorgfältige Analyse der Ereignisse im Herbst 1957 legt es nahe, dass Adenauer und seine engsten Berater die Frage der Beziehungen zu Osteuropa völlig falsch handhabten.
Viele westdeutsche Medienvertreter vermuteten zu Recht, dass die Demonstration der Stärke gegen Jugoslawien dazu führen würde, Fortschritte in der deutschen Ostpolitik auf absehbare Zukunft zu blockieren. Joachim Schwelien sprach sarkastisch von der"Hallstein-Grewe-Doktrin", welche die westdeutsche Diplomatie beseele.
Nachlassender Druck aus Bonn
Noch Jahrzehnte später gilt die "Hallstein-Doktrin" gewöhnlich als ein konzeptionell irriges, legalistisches Konstrukt, das letzten Endes Bonns eigene Bewegungsfreiheit einschränkte.
Es trifft zu, dass in Bonn in den sechziger Jahren für eine kurze Zeit eine Art von perfektionistischem Eifer vorherrschte. Andeutungen einer Entspannung zwischen den Supermächten im Jahr 1963 rief eine Reaktion nicht unähnlich jener aus dem Jahr 1955 hervor: Wieder einmal vor die Tatsache gestellt, dass sich der Status quo in Europa verhärtete, verstärkten die westdeutschen Amtsinhaber ihre Bemühungen, das Auftreten Ostdeutschlands in der internationalen Arena zu blockieren. Walter Ulbrichts Staatsbesuch in Ägypten imFebruar 1965 führte zum Bruch in den westdeutschen Beziehungen zur arabischen Welt.
Westdeutsche Kritiker in den sechziger Jahren tendierten dazu, die Dinge nicht so optimistisch zu sehen. Es war nur logisch, die schrittweisen Fortschritte der Ostdeutschen zur Kenntnis zu nehmen - ein Generalkonsulat in Sri Lanka, Landerechte für die staatliche Fluglinie Interflug auf Zypern; es war zu vermuten, dass die DDR früher oder später aus dieser Isolierung ausbrechen würde. Doch war die "Hallstein-Doktrin" kein Fehlschlag. Nach 1966 gelang es der Großen Koalition sogar, ihre Politik anzupassen und die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien wieder aufzunehmen, ohne die ganze Struktur der Isolierungskampagne zum Einsturz zu bringen. Erst eine Veränderung der Prioritäten in Bonn ermöglichte es der DDR, sich selbst als unabhängigen, souveränen Staat in den globalen Angelegenheiten zu präsentieren. Westdeutsche Spitzenpolitiker erkannten schließlich an, dass sie in Wirklichkeit nicht für die Bevölkerung in Ostdeutschland sprachen.
Die Bundesrepublik verweigerte zwar dem SED-Regime immer noch die Anerkennung und wirkte auf andere Länder ein, keine diplomatischen Beziehungen zu Ostberlin aufzunehmen. Das Kabinett von Kurt-Georg Kiesinger zog aber die Schlussfolgerung, dass sein unmittelbares Ziel nicht die deutsche Einheit sei, zumindest nicht kurzfristig; seine oberste Hoffnung war es, eine echte demokratische "Selbstbestimmung" innerhalb der DDR zu erreichen. Die Isolierungskampagne wurde als ein Mittel eingesetzt, um Druck auf Ulbricht auszuüben. Unter Kanzler Willy Brandt in den Jahre von 1969 bis 1972 tauschte das Auswärtige Amt Verbesserungen für den internationalen Status der DDR für Konzessionen bei der Bewegungsfreiheit zwischen den beiden deutschen Staaten ein. Auch wenn sich die Ergebnisse dieses "geregelten Nebeneinanders" als viel zu mager herausstellten, ist es im Nachhinein eindrucksvoll, wie klug Brandt und sein Berater Egon Bahr die anhaltende ostdeutsche Isolierung als ein Mittel nutzten, um die "neue Ostpolitik" voranzubringen. In diesem Sinn leistete die "Hallstein-Doktrin" der Bundesrepublik gute Dienste - zuerst in der Verweigerung der Souveränität und Dauerhaftigkeit des SED-Regimes und dann bei der Kontrolle der Umstände, unter denen die DDR international schließlich als zweiter deutscher Staat anerkannt worden ist.