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Pariser Verträge - Besiegelung deutscher Zweistaatlichkeit | 50 Jahre Souveränität | bpb.de

50 Jahre Souveränität Editorial Von der beschränkten zur vollen Souveränität Deutschlands Pariser Verträge - Besiegelung deutscher Zweistaatlichkeit Die Hallstein-Doktrin: Ein souveräner Fehlgriff? Bundesdeutsche Souveränität und die Rückgabe der diplomatischen Akten

Pariser Verträge - Besiegelung deutscher Zweistaatlichkeit

Siegfried Schwarz

/ 17 Minuten zu lesen

Die Pariser Verträge bedeuteten für die Bundesrepublik nach Ansicht des Autors nur eine eingeschränkte Souveränität. Sie förderten das weitere Auseinanderdriften beider deutscher Staaten.

Einleitung

Die Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 und deren Inkraftsetzung am 5. und 9. Mai 1955 gehören zu den folgenreichsten Einschnitten in der deutschen und europäischen Geschichte nach 1945. Sie führten zu schwerwiegenden Konsequenzen in dreifacher Hinsicht: Zwar verursachten sie nicht den bereits in Gang befindlichen Prozess der deutschen Teilung, aber sie vertieften ihn und befestigten die Zweistaatlichkeit auf Jahrzehnte; sie integrierten die Bundesrepublik institutionell in das atlantische und westeuropäische Paktsystem und symbolisierten damit die Trennung des gesamteuropäischen Kontinents; sie wurden zu einem umstrittenen Markstein und viel benutzten Schlagwort in dem ohnehin gespannten weltweiten Ost-West-Verhältnis.

Nicht zuletzt hatten die Pariser Verträge eine hohe politisch-psychologische Bedeutung insofern, als sich im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung und darüber hinaus auch anderer europäischer Völker ein allmähliches Umdenken zu militärpolitischen und kulturellen Ost-West-Gegensätzen auszuprägen begann. Bei vielen Deutschen setzte die Unsicherheit ein, ob es jemals wieder zu einer politisch-ökonomischen Einheit der Nation kommen könne. Überreste eines solchen fatalistischen Denkens sind selbst imvereinigten Deutschland von heute - 50Jahre nach den einschneidenden Ereignissen - noch zu finden.

Bis in die Mitte der fünfziger Jahre hatte immerhin noch ein teilweise verbreitetes Bewusstsein gesamtdeutschen Schicksals existiert, das durch die gemeinsam durchlebten Eckpunkte deutscher Geschichte 1914, 1918, 1933 und 1945 verstärkt worden war. Der bald nach Kriegsende einsetzende Kalte Krieg zwischen den Siegermächten und 1949 die Begründung zweier eigenständiger deutscher Staaten hatten erste Breschen in ein gesamtdeutsches Gefühl der Zusammengehörigkeit geschlagen. Die Pariser Verträge wurden nunmehr zu einem Schnittpunkt wesentlicher Entscheidungslinien europäischer Politik, die namentlich auf Deutschland, in abgeschwächter Form aber auch auf die Nachbarländer, ihre nachteiligen Wirkungen ausgeübt haben.

Konfrontation zweier Systeme

Der Hintergrund aller Vorgänge, die schließlich zum Abschluss der Pariser Verträge führten, war die Konfrontation zweier diametraler Gesellschaftssysteme in Europa, zweier sich im Prinzip ausschließender Lebenswelten. Hierzu gehörten die Ausdehnung des Einflusses der Sowjetunion nach Mittel- und Südeuropa, die Etablierung von ihr dirigierter oder zumindest stark beeinflusster Staaten und der Versuch, eine eigene Einflusszone von Norwegen bis zur Türkei zu schaffen. Moskau stand also im Begriff, eine Art "Cordon sanitaire" um sein Herrschaftsgebiet zu errichten.

Im direkten Gegensatz hierzu befand sich die außenpolitische Strategie der USA, die seit Anfang 1946 entsprechend der Doktrin der "Eindämmung" ("Containment") danach trachtete, nicht nur den sowjetischen Bestrebungen entschlossen entgegenzuwirken, sondern zugleich ihren politischen und ökonomischen Einflussraum in Europa zu konsolidieren und zu erweitern. Hierbei richtete sichdas Hauptinteresse Washingtons auf Deutschland, das später zum Schauplatz des Kalten Krieges werden sollte.

Das Ziel, die Westzonen Deutschlands nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch-militärisch in das westliche Paktsystem und damit in die westliche Lebenssphäre einzubinden, war 1954/55 nicht neu. Es ging lediglich um die Form, die Art und Weise der Eingliederung, die zu Differenzen einerseits zwischen den Westalliierten, andererseits zwischen dem umworbenen Partner Bundesrepublik und den Drei Mächten führten. Im Prinzip waren sich jedoch alle Partner darüber einig, das westliche Verteidigungssystem erheblich zu stärken und zu diesem Zweck die ökonomischen und militärischen Potenziale der damals noch jungen Bundesrepublik zu nutzen. Der kommunistische Putsch in Prag vom Februar 1948, die sowjetische Blockade West-Berlins und die hierauf einsetzende Luftbrücke der Westmächte 1948/49, der teilweise radikale Umbau des Gesellschaftssystems in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands weitgehend nach Moskauer Vorbild und schließlich die Auslösung des Korea-Krieges im Sommer 1950 waren Warnungen und Triebkräfte für eine möglichst rasche, auch militärpolitische Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Paktsystem.

Daraufhin verlangte der amerikanische Außenminister Dean Acheson in einem Bericht an den Nationalen Sicherheitsrat vom 3. Juli 1950, Westdeutschland "so schnell wie möglich in eine enge und feste Verbindung mit dem Westen zu bringen und Verhältnisse zu schaffen, unter denen das Potenzial Westdeutschlands endgültig dem Potenzial des Westens hinzugefügt werden kann. Dies bedeutet, dass (West-)Deutschland nicht nur in die westlichen Organisationen aufgenommen werden sollte, sondern dass dies in einer Weise geschehen soll, die (West-)Deutschland so endgültig auf den Westen festlegt, dass seine künftige Entscheidung zwischen Ost und West unzweifelhaft feststeht."

Washington verfolgte hierbei eine Strategie der "doppelten Eindämmung" ("double containment"), nämlich die Begrenzung des Einflusses der Sowjetunion in Europa mittels Eindämmung und die gleichzeitige Relativierung des zu erwartenden Gewichts der Bundesrepublik mittels Einbindung in westliche Bündnisstrukturen. Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Hastings L. Ismay, prägte den zugespitzten, aber treffenden Satz: "NATO was created to keep the Soviets out, the Americans in, and the Germans down."

Die Idee, die Bundesrepublik annähernd gleichberechtigt in die NATO einzubeziehen und sie damit im Kreise der wichtigsten Westmächte "salonfähig" zu machen, hatte die Regierung Adenauer ihrerseits von Anfang an im Sinn und hierin zugleich einen günstigen Umstand erblickt, um die Souveränität der Bundesrepublik allmählich erringen und das Besatzungsstatut der Westmächte schrittweise abstreifen zu können. Die Absicht einer militärischen Aufwertung stieß jedoch auf Widerspruch in Westeuropa, namentlich in Frankreich, dessen Bevölkerung sich in Erinnerung an die Untaten der deutschen Besatzungstruppen während des Zweiten Weltkrieges die erneute Aufstellung einer deutschen Nationalarmee, die mit einer direkten Aufnahme in die NATO verbunden gewesen wäre, nicht vorstellen und einen solchen Plan nicht billigen konnte.

EVG-Projekt

Angesichts zahlreicher Widerstände suchten die Regierungen nach einer anderen Form derEinbeziehung der Bundesrepublik und der Aufstellung westdeutscher Streitkräfte. Durch entsprechende Kontakte zwischen Jean Monnet, dem geistigen Inspirator der Montan-Union, und amerikanischen Regierungsstellen schälte sich die Idee einer "Europäischen Streitmacht" ("European Defense Force") unter einem gemeinsamen Oberkommando heraus. Nach diversen Debatten stellte der französische Ministerpräsident René Pleven am 24. Oktober 1950 diesen Plan der Nationalversammlung vor. Es setzten langwierige Verhandlungen zwischen den sechs Teilnehmerstaaten ein, die schließlich zum Vertragsentwurf über die Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) führten, der am 27. Mai 1952 von Vertretern der Bundesrepublik, Frankreichs, Italiens und der drei Benelux-Staaten in Paris unterzeichnet wurde.

Die EVG sollte mehrere Ziele der Vertragspartner miteinander verbinden: Die massiven Einwände in Westeuropa gegen eine westdeutsche Wiederaufrüstung - nur wenige Jahre nach Kriegsende - sollten durch die Form integrierter westdeutscher Einheiten bis zu den unteren Ebenen weitgehend entschärft werden. Außerdem sollte die Konstruktion der Kommandostruktur die französische Vormachtstellung innerhalb der zu schaffenden Streitkräfte möglichst sichern. Schließlich wurden nach zähen Verhandlungen auch gewisse Diskriminierungen einer aufzustellenden Bundeswehr vermieden,zumal die amerikanische Regierung auf eine rasche westdeutsche Wiederbewaffnung drängte. Auch bot sich für den Kurs der Regierung Adenauer ein Spielraum, um die partielle Souveränität und politische Gleichberechtigung über den Weg einer militärischen Integration zu erreichen.

Es wurden der EVG- und der Deutschlandvertrag durch ein politisches Junktim miteinander verbunden. Dadurch hätte das Besatzungsstatut abgelöst und der Bundesrepublik die schrittweise Souveränität zugestanden werden können. Allerdings ergaben sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen westeuropäischen Ländern heftige Widerstände gegen den EVG-Vertrag, weil große Teile der Bevölkerung eine abermalige deutsche Vorherrschaft befürchteten.

Schließlich lehnte es die französische Nationalversammlung in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre am 30. August 1954 mit einer unerwartet hohen Mehrheit von 319 gegen 264 Stimmen und 12 Enthaltungen ab, sich überhaupt mit der Vertragsvorlage zu befassen. Der EVG-Vertrag und alle Bemühungen, die westdeutsche Souveränität partiell herzustellen und die Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft gleichberechtigt einzufügen, waren vorerst gescheitert. Adenauer bezeichnete den Vorgang als "schwarzen Tag" für Europa und war von "tiefer Bitterkeit" erfüllt. Eine schwere Krise der Integration war entstanden; der Rückschlag für die Außenpolitik des Kabinetts Adenauer war gravierend.

In dieser verfahrenen Situation übernahm der britische Außenminister Anthony Eden im Verein mit seinem amerikanischen Kollegen John Foster Dulles die Initiative zur Überwindung der Krise. Beide Politiker begaben sich in die westeuropäischen Hauptstädte und suchten nach einem Ausweg: Vom 28. September bis zum 3. Oktober 1954 wurde eine Neunmächte-Konferenz nach London einberufen. Im Ergebnis langwieriger Verhandlungen wurde vereinbart, den Besatzungszustand in der Bundesrepublik zu beenden, den Brüsseler Pakt von 1948 zwischen Großbritannien, Frankreich und den Beneluxländern zu verändern und die Bundesrepublik sowie Italien in die neu konstruierte Westeuropäische Union (WEU) aufzunehmen. Gleichzeitig sollte die Bundesrepublik direktes Mitglied der NATO werden.

Inhalt der Verträge

Das Überraschende an diesem Vorgang bestand vor allem darin, dass, entgegen allen Erwartungen, die Bundesrepublik nach dem (gescheiterten) Umweg über eine westeuropäische Integrationslösung nun doch mit eigenen nationalen Streitkräften, der späteren Bundeswehr, gleichberechtigtes Mitglied der Nordatlantischen Allianz wurde; des Weiteren darin, in welch hohem Tempo diese Kursänderung erfolgte und dass die westlichen Mächte sich auf diese ursprünglich verworfene Lösung zu einigen vermochten. Insgesamt konnte die Regierung Adenauer ihrerseits das nunmehr erzielte Ergebnis als Erfolg verbuchen, obwohl mit dem Paket von Verträgen und Vereinbarungen die deutsche Teilung weiter vertieft wurde und die Souveränität der Bundesrepublik nicht vollständig hergestellt werden konnte.

Die wichtigsten Bestimmungen des vielgliedrigen Vertragswerks betrafen: Das Besatzungsstatut und die Alliierte Kontrollkommission wurden aufgehoben. Im Gegenzug erklärte sich die Bundesrepublik bereit, dass ausländische Truppen auf ihrem Hoheitsgebiet stationiert werden konnten. Dies bedeutete jedoch nicht die Herstellung der vollen Souveränität der Bundesrepublik. Sie wurde vor allem durch die Festlegung in Art. 2 des Deutschlandvertrags ("Generalvertrags") wesentlich eingeschränkt, wonach "die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" behalten.

Ferner wurde aus dem Brüsseler Pakt von 1948, der noch eine Klausel gegen eine potenzielle deutsche Aggression enthielt, die Westeuropäische Union (WEU) gebildet, in die die Bundesrepublik und Italien neu aufgenommen wurden. Es wurde ein System der Rüstungskontrolle geschaffen. Die Bundesrepublik verpflichtete sich, keine Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen) sowie keine anderen schweren Waffen auf ihrem Gebiet herzustellen.

Die Bundesrepublik wurde in den Nordatlantikpakt aufgenommen. Es wurde die Bildung einheitlicher militärischer Strukturen vereinbart, in denen sämtliche Streitkräfte der Mitgliedstaaten, die im Kommandobereich des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa stationiert waren, dessen Befehl unterstellt wurden. Im Unterschied zur EVG-Struktur, deren Integration auf Westeuropa konzentriert war, blieb eine militärische Integration nunmehr ausschließlich der NATO vorbehalten.

Konsequenzen

Die wichtigste Konsequenz bestand unter gesamtdeutschen Gesichtspunkten in der Besiegelung der deutschen Teilung, der Konsolidierung der Zweistaatlichkeit, auch in der gesteigerten militärischen Konfrontation der beiden Systeme in Gesamteuropa. Hoffnungen auf eine baldige positive Lösung der deutschen Frage waren damit endgültig zerschlagen worden. Nach der Gipfelkonferenz der Siegermächte in Genf im Juli 1955 verkündete der neue starke Mann in der Führungsgruppe der Sowjetunion, Nikita S. Chrutschtschow, demonstrativ, dass es nunmehr zwei deutsche Staaten gebe, die jeweils entgegengesetzten Gesellschaftssystemen und Militärpakten angehörten.

Bereits am 14. Mai 1955 war die DDR dem Warschauer Pakt beigetreten. Bald danach folgten die Umwandlung der Kasernierten Volkspolizei (KVP) in die Nationale Volksarmee (NVA) sowie weitere Schritte, die die"Souveränität" und Selbstständigkeit der DDR, insbesondere deren Distanzierung vom Kurs der Bundesrepublik, betonen sollten.

Bis zum Jahr 1955 hatte es eine Welle diplomatisch-propagandistischer Vorstöße und Initiativen seitens der UdSSR und ihrer Verbündeten gegeben, die sämtlich auf Verhandlungen über die Herstellung eines einheitlichen Deutschlands mit einem mehr oder weniger neutralen Status drängten. Diese Offensive reichte von Appellen der Volkskammer der DDR an den Bundestag, Briefen von Ministerpräsident Otto Grotewohl an Bundeskanzler Konrad Adenauer (die unbeantwortet blieben) bis zu mehreren Noten der Sowjetunion an die drei Westmächte, von denen die Sowjetnote vom 10. März 1952 eine besonders herausgehobene Rolle spielte.

Über den Inhalt, die Tragweite und die "Ehrlichkeit" namentlich der zuletzt genannten Note gibt es bis heute eine anhaltende Kontroverse. Nachdem die sowjetischen Vorschläge von westlicher Seite abgelehnt worden waren, meinten die einen, es sei eine Chance zur deutschen Einheit verpasst worden, während die anderen argumentierten, es habe sich bei den sowjetischen Angeboten lediglich um ein Propagandamanöver oder um eine gefährliche Lockung gehandelt, um (bis 1954) das EVG-Projekt und (bis 1955) die Pariser Verträge zu Fall zu bringen. Zu beiden Argumentationsmustern existieren Hinweise und Vermutungen, aber keine gesicherten Erkenntnisse.

Es bleibt allerdings zu fragen, ob es nicht dem Kanzler, der in Reden die Wiedervereinigung stets als wichtigstes und vordringlichstes Ziel deklariert hatte, auch einen ernsthaften Versuch hätte wert gewesen sein müssen, in geduldigen Verhandlungen die Konzessionsbereitschaft der sowjetischen Seite zu erkunden. Jedoch, der Bundeskanzler hatte vorrangig den westeuropäischen Zusammenschluss im Auge, nicht die Wiedervereinigung: Die EVG war für ihn Ziel, nicht Mittel zum Ziel; und:"Eine Wiedervereinigung Deutschlands konnte kein Ersatz für die westeuropäische Integration der Bundesrepublik sein."

Natürlich war eine der wichtigsten Komponenten in den Moskauer Überlegungen, sowohl das EVG-Projekt als auch (nach dem Oktober 1954) die Pariser Verträge zu vereiteln, vor allem die Teilnahme der Bundesrepublik an beiden Vertragswerken zu verhindern. Der sowjetische Hauptstoß richtete sich dabei gegen die Strategie der USA, die in der Teilnahme Bonns einen unverzichtbaren Bestandteil der amerikanischen Pläne erblickte. Hierfür war Moskau sogar bereit, die in der noch jungen DDR dominierende SED-Schicht zu "opfern". Dies sollte dazu beitragen, ein politisches (und militärisches) "Gleichgewicht" in Europa zu schaffen und das Klima für Verhandlungen zwischen den Supermächten zu verbessern.

Für die UdSSR stellte die sich abzeichnende Westintegration der Bundesrepublik offensichtlich ein größeres Risiko dar als eine bewaffnete Neutralität Gesamtdeutschlands. Das Hauptziel Moskaus, eine Schwächung der Positionen der USA zu erreichen, hätte in den fünfziger Jahren nur durch eine Neutralisierung des "deutschen Faktors" erreicht werden können. Außerdem hätte eine werdende industrielle Großmacht Gesamtdeutschland zahlreiche Kontaktmöglichkeiten zur westlichen Wirtschaftswelt geboten. In den Augen Moskaus hätte ein handelspolitisch offenes Gesamtdeutschland ein wertvolles Bindeglied zwischen West und Ost wie auch ein wichtiges Transferland für westliche Technologie in die UdSSR werden können.

Alles dies zeigt, dass mit der sowjetischen diplomatisch-propagandistischen Offensive am Vorabend sowohl des EVG-Projekts als auch der Pariser Verträge nicht nur vorübergehende taktische Raffinessen verbunden waren, sondern zugleich weit reichende strategische Ziele, zu deren Erreichung Moskau bereit war, über bedeutende Zugeständnisse in Mitteleuropa und in der deutschen Frage zu verhandeln. Diese (gewiss unsichere) Chance nicht genutzt oder nicht wenigstens den Versuch dazu unternommen zu haben bleibt - mit historischem Abstand betrachtet - ein Versäumnis, das Millionen Menschen im Osten Deutschlands um Lebens- und Gestaltungsmöglichkeiten gebracht hat und eine schwere Bürde für das geteilte Gesamtdeutschland darstellte.

Widerstand

Um eine solche Entwicklung rechtzeitig von der deutschen Nation abzuwenden, erhob sich in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre auch in der Bundesrepublik selbst ein erheblicher Widerstand aus mehreren gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen. Er kam von der parlamentarischen Opposition, die seinerzeit von der SPD artikuliert wurde, aber auch von zahlreichen außerparlamentarischen Kräften. Das Ringen um die Ratifizierung der Pariser Verträge geriet zur bis dahin heftigsten innenpolitischen Auseinandersetzung in der Nachkriegszeit.

Viele der ablehnenden und protestierenden Gruppen gehörten zu Führungskreisen der Evangelischen Kirche, manche waren Katholiken, andere gehörten zur Politikergeneration der Weimarer Republik. Zahlreiche Einzelpersönlichkeiten meldeten sich in Reden und auf Kundgebungen, in denen es um das zukünftige Schicksal Gesamtdeutschlands ging, zu Wort; dies war gewiss kein Zufall, lebten doch Millionen Menschen noch in der Vorstellung, in der Tradition eines einheitlichen deutschen Staates, mit dem sie für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gemischte Erfahrungen, für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft ungute Erinnerungen verbanden.

Besonders bekannt wurde Gustav Heinemann, der von 1949 bis 1950 Adenauers Innenminister war, dann aber aus Protest gegen eigenmächtige Schritte des Bundeskanzlers zum Angebot westdeutscher Einheiten für eine Europa-Armee von seinem Amt zurücktrat und aus der CDU ausschied. Er begründete, zusammen mit der Zentrumspolitikerin Helene Wessel u.a., die oppositionelle Gesamtdeutsche Volkspartei. Er wandte sich sowohl in der Bundesrepublik als auch bei Regierungsstellen der DDR gegen eine Remilitarisierung in Ost und West und plädierte aktiv für die Einheit Deutschlands.

Ein anderes Mitglied des ersten Kabinetts Adenauer, Thomas Dehler (FDP), warf später in einer leidenschaftlichen Rede am 28. Januar 1958 im Bonner Bundestag dem Kanzler rückblickend vor, jede politische Chance zur deutschen Vereinigung zugunsten der Westintegration ausgelassen zu haben. Mit Schärfe polemisierte er: "Hier, Herr Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, haben Sie bewiesen, dass Sie alles taten, um die Wiedervereinigung zu verhindern!"

Die meisten politischen Strömungen trafen sich in der Paulskirchen-Bewegung, die am 29. Januar 1955 mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, die Ratifizierung der Pariser Verträge zu vereiteln und Viermächte-Beratungen über die Lösung der deutschen Frage herbeizuführen. Nicht zuletzt setzten sich zahlreiche Publizisten - wie Paul Sethe - mit aufrüttelnden Beiträgen für die "Bündnislosigkeit" eines wiedervereinigten Deutschlands ein. Trotz erbitterter Auseinandersetzungen auch im Deutschen Bundestag wurden die Pariser Verträge Ende Februar 1955 ratifiziert.

Modell Österreich?

Eine direkte Verbindung zwischen den Pariser Verträgen, welche die Bundesrepublik und die Drei Mächte abschlossen, und der Aushandlung des Staatsvertrages für Österreich, den die Vier Mächte und die Wiener Regierung am 15. Mai 1955 unterzeichneten, gab es nicht; dennoch existierten Zusammenhänge und parallele Vorgänge. Seit Stalins Tod im Jahr 1953 gab es einen "New Look" in der sowjetischen Außenpolitik. Der Begriff der "friedlichen Koexistenz von Staaten mitunterschiedlicher Gesellschaftsordnung" rückte in den Mittelpunkt der Angebote Moskaus an den Westen. Die Wiener Regierung unter Bundeskanzler Julius Raab machte sich Hoffnungen, die Österreichfrage endlich aus dem Schatten der deutschen Frage führen und zu Ergebnissen für die Unabhängigkeit des Landes gelangen zu können.

Das österreichische Kabinett hegte in jener Situation große Hoffnungen auf einen neutralen Status des Landes. Dies erreichte die Regierung Raab auch tatsächlich nach entsprechenden Verhandlungen. Der Staatsvertrag konnte bereits Mitte Mai 1955 unterzeichnet werden. Im Herbst 1955 zogen die Besatzungstruppen aus Österreich ab; die Regierung Raab verkündete die "immerwährende Neutralität" des Landes und schloss sich keinem militärischen Paktsystem an.

Gegen die Absicht einer solchen Regelung hatte Bundeskanzler Adenauer jedoch erhebliche Einwände erhoben. Er befürchtete, Österreich werde, um den Staatsvertrag endlich zu erhalten, eine "oktroyierte Neutralisierung" hinnehmen, die das Land einer ständigen Kontrolle der Signatarstaaten, also auch der Sowjetunion, mit der Möglichkeit einer jederzeit denkbaren Intervention unterwürfe. Adenauers zentrale Sorge bestand darin, die Vier Mächte könnten sich schließlich auch auf eine Art "Österreich-Lösung" für Deutschland einigen, also auf eine "Viermächte-Kontrolle ohne Zonengrenze". In einem solchen Fall wäre Adenauers Ziel, die Souveränität zunächst für den westdeutschen Teilstaat zu gewinnen, um von dieser Basis aus später eine gesamtdeutsche Vereinigung zu erlangen, in unbestimmte Ferne gerückt.

Der Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 war eine Art "Interessenausgleich" zwischen den Vier Mächten, teilweise zu Lasten der Bundesrepublik. Er führte auch zu einer gewissen Belastung im westdeutsch-amerikanischen Verhältnis. John Foster Dulles neigte nämlich im Mai 1955 zu einer (ungerechtfertigt) optimistischen Einschätzung der Lage in Mitteleuropa und erklärte, die Wiedervereinigung Deutschlands "liege in der Luft". Er kalkulierte, die Sowjets würden, da sie unter ökonomischem Druck standen, eine außenpolitische Umorientierung vornehmen und eine Liberalisierung ihrer mittelosteuropäischen Verbündeten zulassen.

Eine solche Entwicklung betrachtete Adenauer mit großer Skepsis. Er befürchtete, eine solche Liberalisierung hätte mit der Neutralisierung Gesamtdeutschlands durch die westliche Seite erkauft werden sollen. Kurz nach der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages drohte also der Bonner Regierung "neue Ungewissheit" seitens des wichtigsten Verbündeten. Adenauer war auf das Höchste alarmiert. Der Historiker Matthias Pape urteilt, das Verhalten Washingtons im Mai 1955 habe Adenauer vor einen der Abgründe seiner Kanzlerschaft gestellt.

Mit der Lösung der Österreichfrage warf die Sowjetregierung zweifellos außenpolitischen Ballast ab und gab dem Westen ein deutliches Signal für Vorteile einer aktiven Politik der friedlichen Koexistenz. Daraufhin ging in den Hauptstädten der Westmächte sogar eine Art "Österreichfurcht" um, verbunden mit der Frage, ob Moskau nun eine ähnliche Initiative mit dem Ziel einer Art "Österreichlösung" auch für Deutschland plane.

In Paris spekulierte man, mit einem neutralisierten Österreich wolle Moskau ein "künstliches Paradies" schaffen - als "Blendwerk" für die Westdeutschen. Diese sollten davon überzeugt werden, dass sie ohne Gefahr für sich "Neutralisten" werden könnten. Intern hatte man in Bonn jedoch große Sorge, dass die Auswirkungen des Modells "Österreich" nicht mehr kontrollierbar werden könnten. Wie schon bei der harschen Ablehnung der Sowjetnote vom 10. März 1952, so lehnte Adenauer auch jegliche Analogie zur Österreichlösung, jede neutrale Variante für Deutschland im Mai 1955 kategorisch ab.

Zweifellos konnte die Bonner Regierung mit Hilfe der Pariser Verträge Macht und Einfluss, auch die Sicherheit der Bundesrepublik erhöhen; ob mit dieser Lösung allerdings ein Optimum für das gesamtdeutsche Anliegen erreicht wurde, nämlich die Verhinderung weiteren Auseinanderdriftens der beiden deutschen Teilstaaten, muss mit Fug und Recht bezweifelt werden. Es kam hinzu, dass infolge der Verträge, der Aufstellung der Bundeswehr und analoger militärischer Schritte auf östlicher Seite das Denken, die Vorstellung und die Illusionen gefördert worden sind, mittels militärpolitischer Instrumente die wichtigsten politischen Ziele erreichen zu können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Donal O'Sullivan, Stalins "Cordon sanitaire". Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939 - 1949, Paderborn 2003, S. 302ff.; Stefan Creuzberger/Manfred Görtemaker (Hrsg.), Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944 - 1949, Paderborn 2002.

  2. Vgl. Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941 - 1955, München 19897, S. 125ff.; Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945 - 1958, Baden-Baden 2000, S. 26ff.

  3. Zit. in: Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 296.

  4. Vgl. Rolf Steininger u.a. (Hrsg.), Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und deutsche Frage in den Fünfzigern, München 1993.

  5. Zit. in: Wolfram F. Hanrieder, Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1994, Paderborn 19952, S. 39.

  6. Vgl. Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945 - 2000, Stuttgart-München 2001, S. 34ff.

  7. Vgl. Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, München 1980, S. 429ff.

  8. Vgl. Paul Noack, Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Entscheidungsprozesse vor und nach dem 30. August 1954, Düsseldorf 1977.

  9. Vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen, Bd. 2: 1953 - 1955, Stuttgart 1966, S. 307.

  10. Abgedruckt bei Ingo von Münch (Hrsg.), Dokumente des geteilten Deutschland. Quellentexte zur Rechtslage des Deutschen Reiches, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Stuttgart 1968, S. 230.

  11. Vgl. Gregor Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 38f.

  12. Vgl. Heinrich Brandweiner, Die Pariser Verträge, Berlin 19562, S. 15ff.

  13. Vgl. Curt Gasteyger, Europa von der Spaltung zur Einigung. Darstellung und Dokumentation 1945 - 1997, Bonn 1997, S. 117f.

  14. Vgl. Rolf Steininger, Eine vertane Chance. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung. Eine Studie auf der Grundlage unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten, Bonn 19903, S. 20.

  15. Vgl. Gerhard Wettig, Sowjetische Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zum Ende des Kalten Krieges, in: Peter März (Hrsg.), 40 Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999, S. 78f.

  16. Vgl. Hermann Graml, Die Legende von der verpassten Gelegenheit. Zur sowjetischen Notenkampagne des Jahres 1952, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ), (1981), S. 340f.; Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945 - 1955, München 1999, S. 205ff.

  17. Vgl. Yvonne Kipp, Eden, Adenauer und die deutsche Frage. Britische Deutschlandpolitik im internationalen Spannungsfeld 1951 - 1957, Paderborn 2002, S. 102f.

  18. Vgl. Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 72; Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996, S. 35ff.

  19. Arnulf Baring, Im Anfang war Adenauer. Die Entstehung der Kanzlerdemokratie, München 19843, S. 249.

  20. Vgl. R. Steininger (Anm. 14), S. 20.

  21. Vgl. Eckart Lohse, Östliche Lockungen und westliche Zwänge. Paris und die deutsche Teilung 1949 bis 1955, München 1995, S. 144.

  22. Vgl. Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949 - 1961, Köln-Weimar-Wien 2001, S. 208f.

  23. Vgl. Günther Scholz, Gustav Heinemann, in: ders. Martin E. Süskind, Die Bundespräsidenten. Von Theodor Heuß bis Horst Köhler, München 2004, S. 218f.

  24. Rede Thomas Dehlers vom 28. Januar 1958 vor dem Deutschen Bundestag. Nach dem Protokoll der 9. Sitzung (3. Wahlperiode), S. 384f., zit. in: Thomas Dehler, Reden und Aufsätze, Köln-Opladen 1969, S. 156.

  25. Vgl. Rainer Blasius, Mobilmachung gegen Adenauer. Wie sich die Paulskirchen-Bewegung gegen eine Ratifizierung der Pariser Verträge stellte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 1. 2005, S. 10.

  26. Vgl. Günter Bischof, Österreichische Neutralität, die deutsche Frage und europäische Sicherheit 1953 - 1955; in: R. Steininger u.a. (Anm. 4), S. 133ff.

  27. Vgl. Rolf Steininger, Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Bd. 2: 1948 - 1955, Frankfurt/M. 2002, S. 177.

  28. Vgl. Matthias Pape, Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945 - 1965, Köln-Weimar-Wien 2000, S. 237.

  29. Vgl. ebd., S. 242.

  30. Vgl. ebd., S. 334.

  31. Vgl. R. Steininger (Anm.27), S. 297f.

Dr. phil., geb. 1934; Professor em., Humboldt-Universität zu Berlin, bis 1990 am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft. Heegermühler Weg 52, 13158 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: S-R.Schwarz@t-online.de