Seit vier Jahren unterstütze ich mit der Organisation Ciocia Basia (polnisch für "Tante Barbara") Frauen aus Polen, einen Schwangerschaftsabbruch in Berlin vornehmen zu lassen. Denn in ihrer Heimat ist das Abtreibungsrecht noch restriktiver als bei uns. In diesem Zusammenhang habe ich Frauengruppen in Polen kennengelernt, die den Abbruch in freundlicher solidarischer Atmosphäre unter fachkundiger Anleitung – mithilfe der Organisationen Women on Web oder Women help Women – mit der Abtreibungspille selbst organisieren.
Als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich schockiert. Nicht, weil ich dieses Vorgehen für unverantwortlich hielt, sondern, weil es mir verrückt erschien, dass wir Frauen so sehr in einem patriarchalen (Denk-)System gefangen sind, dass wir nicht einfordern, eine zutiefst private und intime Erfahrung wie einen Schwangerschaftsabbruch selbst gestalten zu können. Und dass Frauen ausgerechnet in der Illegalität, wenn sie den Abbruch eigenständig organisieren müssen, Strukturen aufbauen, mit denen sie diese Erfahrung zu ihren Bedingungen machen, indem sie sich dem Zerrspiegel von Kirche und Politik mit ihrer Psychologisierung, ihrem Paternalismus, ihren Schuldzuweisungen und normativen Moralvorstellungen entziehen.
Das beeindruckende an Organisationen, die Frauen den Zugang zur Abtreibungspille ermöglichen und in denen viele Ärztinnen mitarbeiten, ist nicht nur, dass sie Hilfe zur Selbsthilfe geben, sondern auch, dass sie durch diese Praxis, auch wenn sie klandestin begann, Wege eröffnen, das selfmanagment der Abtreibungspille und Telemedizin, also Arztkonsultationen via Skype, in der Medizin zu etablieren. Ihre Erkenntnisse veröffentlichen sie in wissenschaftlichen Studien und ermöglichen Techniken, die vor allem für sogenannte Entwicklungsländer als Abhilfe gesehen werden – für Gegenden also, in denen es einen Ärztemangel gibt.
Weltweit zeigt sich, dass Länder mit liberalen Abtreibungsgesetzen auch die Länder mit den wenigsten Schwangerschaftsabbrüchen sind. Verbote in einem Feld wie Frauengesundheit bringen im Wesentlichen Einsamkeit, Schweigen, gefährliche Falschinformation und Todesfälle hervor. Denn nicht Zwang, Scham und Kontrolle verhindern ungewollte Schwangerschaften, sondern umfassende Sexualaufklärung, günstige oder kostenlose Verhütungsmittel und Selbstbestimmung in den Händen der Betroffenen. Wenn die Komplexität der Frauengesundheit anerkannt wird, funktioniert sie auch am besten.
Die §§219 und 218 im Strafgesetzbuch verhindern das und verschlechtern die Versorgungslage. Immer mehr ÄrztInnen schrecken im Angesicht der Kriminalisierung und des damit verbundenen Stigmas zurück, einen Schwangerschaftsabbruch anzubieten, und das Thema wird in der ärztlichen Ausbildung ausgespart. Doch so halten sich stereotype Vorbehalte gegenüber den Betroffenen auch in der ÄrztInnenschaft, weshalb jüngere ÄrztInnen keine Abbrüche mehr anbieten und ältere sich nicht über die neuesten Methoden weiterbilden lassen. Dabei gilt der Eingriff als sehr sicher, sogar sicherer als eine Geburt. Ciocia Basia bekommt bereits Anfragen von Frauen aus Deutschland, die Möglichkeiten für einen Abbruch suchen. In Deutschland ist die Zahl der Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, seit 2003 um 40 Prozent zurückgegangen, und die wenigsten von ihnen bieten die Abtreibungspille an. Ist Telemedizin also auch bei uns von Nöten?
Gerade die freie Wahl der Abtreibungsmethode ist essenziell für die Frau, und es ist unhaltbar, dass in Deutschland die Abtreibungspille so schwer zu finden ist, die laut Weltgesundheitsorganisation sehr sicher ist, eine geringe Fehlerquote hat und auch außerhalb von Kliniken sicher angewendet werden kann. Zudem machen die Frauen die Erfahrung, dass ein früher Abbruch vor der zehnten Schwangerschaftswoche eher einer Menstruation gleicht als, wie gern dargestellt, einer "Kindstötung" – und ich frage mich, ob es diese alternative Wahrnehmung eines Abbruchs ist, die man den Frauen nicht ermöglichen will. Die genannten Pro-Choice-Selbsthilfeorganisationen berücksichtigen die Lebensrealität von Frauen, während viele Politiker und Ärzte, unter anderem aus Angst vor Karriereknick und Rufschädigung, Klischees bedienen, die wissenschaftlich unhaltbar sind. So suggerierte etwa Jens Spahn (CDU) 2014 anlässlich der Debatte um die rezeptfreie Vergabe des Notfallverhütungsmittels Levonorgestrel, Frauen würden diese "Pille danach" wie "Smarties" essen, sollte sie rezeptfrei erhältlich sein. Dass jemand, der Aussagen tätigt, die mangelndes Fachwissen und Ressentiments bezeugen, Gesundheitsminister wird, kann auch als Hinweis gelesen werden, dass viele Aspekte der Frauengesundheit einen geringen Stellenwert haben.
Viele ungewollte Schwangerschaften entstehen trotz Verhütung. Die Vorstellung, Frauen seien zu verantwortungslos und unbedarft zum Verhüten, speist sich aus der Unwissenheit über die Fehlerquote, Kosten und Unverträglichkeit der gängigsten Verhütungsmethoden und die mangelnde Kooperation von Männern. Verhütungsmittel für Männer werden nicht weiter entwickelt, allein, weil sie ähnliche Nebenwirkungen haben, wie die, die Frauen seit Jahrzehnten ertragen. Warum halten wir den Frauen das Narrativ der Verantwortungslosigkeit und Schuldigkeit dennoch genüsslich vor? Warum erscheint es uns überhaupt akzeptabel, dass Staat und Gesellschaft Zugriff auf die Frau bekommen, sobald sie schwanger wird? Weil wir Zugriff auf die Frau als Ressource haben wollen, die selbstlos Fürsorge und Liebe in unserer Gesellschaft spendet, allerdings unbezahlt und unsichtbar durch die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Kleinfamilie, die bis heute ihre Wirkungsmacht nicht verloren hat.
Eine einfache Zahl hilft, um die Lebensrealität von Frauen ins rechte Licht zu rücken: In Deutschland haben mehr als 60 Prozent der Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, bereits Kinder. Sie lassen einen Abbruch vornehmen, weil sie wissen, wie viel Zeit, Geld und Fürsorge Kinder benötigen, die sie unter ihrem Nachwuchs aufteilen müssen. Doch diese Perspektive, dass Abtreibung eine verantwortungsvolle Entscheidung ist, die Frauen für sich und ihre Familien treffen, hat im gängigen Gruselnarrativ keinen Raum.
Zu diesem gehört auch die Vorstellung, Frauen würden nach einer Abtreibung unvermeidbar psychische Probleme bekommen. Christliche AbtreibungsgegnerInnen sprechen gar von einem "Post-Abtreibungs-Syndrom" (PAS). Tatsächlich ist das PAS weltweit von keiner einzigen wissenschaftlichen Institution als Krankheitsbild anerkannt. Natürlich können Frauen ambivalente Gefühle und Traurigkeit über ihren Schwangerschaftsabbruch verspüren, und es ist wichtig, dass sie darüber sprechen können. Eine Langzeitstudie der American Psychological Association (APA), die 2008 veröffentlicht wurde, ergab jedoch, dass die größte psychologische Belastung und Angst vor der Abtreibung liegt, also in der Zeit der Ungewissheit, wie und wo man Hilfe bekommt. Laut APA haben Abtreibungen keinen negativen Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit von Frauen. Hingegen könne es sehr wohl Traumata auslösen, eine ungewollte Schwangerschaft austragen zu müssen. Meine Erfahrung ist: Viele Frauen gehen gestärkt aus diesem Prozess hervor, weil sie sich ihrer Handlungsfähigkeit und ihres Rechts auf eigene Bedürfnisse bewusst werden.
Aber statt einer wissenschaftlichen Betrachtung über die embryonale Entwicklung werden Frauen genüsslich Fantasien von hilflosen empfindsamen Babys im Mutterleib vorgehalten. In der emotionalen Erpressung von Frauen haben sich AbtreibungsgegnerInnen professionalisiert. Das Internet ist voll mit Websites, die sich auf den ersten Blick als Hilfsangebote an ungewollt Schwangere darstellen, aber mit einseitigen oder falschen Informationen Frauen Angst und Schuldgefühle machen wollen. Organisierte, radikale AbtreibungsgegnerInnen machen Angebote für den Schulunterricht und haben Stände auf Messen für Jugendliche. Sollte der Staat nicht eher dort eingreifen, wo manipulative Falschinformationen über medizinische Methoden an Schutzbefohlene verbreitet werden?
Unsere christlich-männlich und technokratisch geprägte Kultur macht aus einer Stärke der Frau, ihrer Gebärfähigkeit, eine Schwäche. Ein Gesundheitssystem, das Abtreibung stigmatisiert, hat ein generelles Problem mit der Qualität der Frauengesundheit. Ein sensibler Umgang mit Abtreibung würde sich gut auf die Frauengesundheit auswirken, da er eine Atmosphäre schafft, in der die Bedürfnisse aller Schwangeren berücksichtigt werden. Einen Raum, in dem Abtreibung, Fehlgeburten, postnatale Depression, selbstbestimmte Geburt, Pannenanfälligkeit von Verhütungsmitteln, eben allen Aspekten der Gebärfähigkeit mit Kenntnis und Empathie begegnet wird – anstatt Schwangerschaft und Mutterschaft zum Glückszustand zu verklären und Frauen damit mundtot zu machen.