In Deutschland wird die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch häufig auf eine Konfliktlage zwischen Schwangerer und Embryo reduziert. In diesem Beitrag ordnen wir die gegenwärtige Debatte in den weiteren Kontext der reproduktiven Rechte ein, wie sie im Völkerrecht, zunehmend aber auch in der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft diskutiert werden.
Reproduktive Gesundheit und Rechte im internationalen Recht
Unter "reproduktiver Gesundheit" wird im internationalen Recht ein Zustand uneingeschränkten körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens in allen Lebensbereichen der Fortpflanzung verstanden.
Die Anfänge
Auf der Ebene des internationalen Rechts finden sich schon früh erste Überlegungen, Familiengründung und Fortpflanzung nicht allein aus bevölkerungspolitischer Perspektive, sondern als menschenrechtliches Thema zu begreifen. So verabschiedete die Internationale Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1968 in Teheran eine Resolution zu den menschenrechtlichen Aspekten der Familienplanung. Sie betont das Recht aller erwachsenen Menschen auf Familiengründung und -planung, insbesondere auf die freie Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und den Abstand zwischen den Geburten.
Aktueller völkerrechtlicher Rahmen
Seitdem wurde im Völkerrecht ein umfassender Katalog reproduktiver Rechte entwickelt, der sich auf unterschiedliche Menschenrechtsverträge stützt und weitreichende Staatenpflichten begründet. So garantieren die UN-Frauenrechtskonvention (Art. 16 Ziff. 1 lit. e CEDAW) und die UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 23 CRPD) das Recht, über Anzahl und Altersunterschied der Kinder zu entscheiden, einschließlich eines Rechts auf Zugang zu den notwendigen Informationen und Ressourcen, um dieses Recht wahrnehmen zu können. Artikel 12 CEDAW verpflichtet die Vertragsstaaten, der Frau gleichberechtigt mit dem Mann Zugang zur Familienplanung zu gewährleisten sowie für angemessene Schwangerschafts- und Entbindungsbetreuung zu sorgen. Wichtige Menschenrechtsgarantien, die die reproduktiven Rechte weiter ausgestalten, finden sich ferner im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (Art. 3, 6, 7, 17, 23, 26) und im Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Art. 12). Im europäischen Kontext verpflichtet Artikel 39 der Istanbul-Konvention des Europarates, Abtreibungen und Sterilisationen an Frauen ohne deren Zustimmungen unter Strafe zu stellen. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK), worunter nach der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auch die freie Entscheidung für oder gegen Kinder fällt.
Reproduktive Rechte – besondere Bedeutung für Frauen
Nicht ohne Grund hat sich ein umfassendes Verständnis reproduktiver Rechte insbesondere mit Blick auf die Menschenrechte von Frauen entwickelt.
Aus diesem Grund gilt die UN-Frauenrechtskonvention mit den bereits erwähnten Vorschriften als das Herzstück für die Verwirklichung reproduktiver Rechte. Die Umsetzung der Konvention wird vom UN-Frauenrechtsausschuss (CEDAW-Ausschuss) überwacht. Dies geschieht vor allem durch das völkerrechtliche Instrument des Staatenberichtsverfahrens, an dessen Ende der Ausschuss in "Abschließenden Bemerkungen" Mängel aufzeigt und Empfehlungen ausspricht. Deutschland hat im jüngsten Staatenberichtsverfahren gerade auf dem Gebiet der reproduktiven Rechte Kritik erfahren. In den Abschließenden Bemerkungen von 2017 monierte der Ausschuss den eingeschränkten Zugang zu Verhütungsmitteln für einkommensschwache Frauen sowie in abgelegenen Gebieten. Kritik übte er auch an den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch: Weder die verpflichtende Beratung noch die dreitägige Wartezeit zwischen Beratung und Eingriff seien nach den Regeln der Weltgesundheitsorganisation erforderlich. Außerdem solle Deutschland gewährleisten, dass die Krankenversicherung die Kosten für alle Schwangerschaftsabbrüche erstattet – was derzeit für die Abbrüche nach Pflichtberatung nicht geschieht.
Reproduktive Gesundheit im europäischen Recht
Zum Völkerrecht gehört auch die Europäische Menschenrechtskonvention, das zentrale Menschenrechtsdokument des Europarats, dessen Umsetzung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überwacht wird. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats bekräftigte bereits 2008 das Recht auf reproduktive Entscheidungsfreiheit, wozu sexuelle Aufklärung, der zuverlässige Zugang zu Verhütungsmitteln sowie der Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen in Europa zählen.
2017 bekannte sich der Menschenrechtskommissar des Europarates zu der Notwendigkeit, die reproduktive Selbstbestimmung aller Menschen zu fördern, ohne die erhebliche und intime Aspekte unseres Lebens gefährdet seien.
Einen weiteren Schwerpunkt legt der Bericht auf die Verwirklichung reproduktiver Autonomie: In allen reproduktiven und sexuellen Belangen muss bei medizinischen Eingriffen eine informierte Entscheidung (informed consent) gewährleistet werden. Jegliche Form von Zwang, wie Zwangssterilisation, Zwangsverhütung, Zwangsabtreibung oder nicht konsensuale Eingriffe bei gynäkologischen Untersuchungen oder während der Geburt, muss verhindert, entschädigt und sanktioniert werden. Explizit wird im Hinblick auf eine selbstbestimmte Geburt auch gefordert, dass jede Frau in den Genuss einer ausgebildeten Geburtshilfe kommt. Bezogen auf das Gesundheitssystem sollen finanzielle Hürden, die den Zugang zu reproduktiven Dienstleistungen verhindern, abgebaut werden; explizit sollen Verhütungsmittel, Schwangerschaftsabbrüche und die medizinische Betreuung für Mütter in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen werden.
Reproduktive Gesundheit und Rechte in Deutschland
In Deutschland hat sich ein derart umfassendes Verständnis reproduktiver Rechte bislang nicht durchsetzen können, und auf die völkerrechtliche Debatte wird selten Bezug genommen.
Information und Aufklärung
Ein allgemeines Recht auf Information, Aufklärung und Beratung über reproduktive Belange lässt sich im Grundgesetz nicht eindeutig verorten. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht staatliche und/oder staatlich geförderte Dienstleistungsangebote zu Familienplanung und reproduktiver Gesundheit als Bestandteil einer staatlichen "Schutzpflicht für das ungeborene Leben"
Daneben ist die Sexualaufklärung und -erziehung gegenüber Minderjährigen als Teil des staatlichen Bildungsauftrags in der Schule anerkannt (Art. 7 Abs. 1 GG). Hier mehren sich seit einiger Zeit Konflikte um die Frage, inwieweit voreheliche sexuelle Beziehungen, nicht heterosexuelle Orientierungen und nicht binäre Geschlechtsidentitäten Bestandteil des Sexualkundeunterrichts sein dürfen beziehungsweise sollten. Aus der Perspektive reproduktiver Rechte als individuelle Freiheitsrechte liegt auf der Hand, dass Minderjährige über alle denkbaren Varianten ihrer Persönlichkeitsentwicklung informiert werden sollten – sowohl hinsichtlich des weiten Spektrums von Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen als auch über die gesamte Bandbreite legitimen Freiheitsgebrauchs wie die Gestaltung sexueller und familiärer Beziehungen.
Zugang zu erschwinglichen Verhütungsmitteln
Verhütungsmittel müssen in Deutschland grundsätzlich privat finanziert werden. Ausnahmen gelten nur für gesetzlich Versicherte bis zum vollendeten 20. Lebensjahr: Für sie übernehmen die Krankenversicherungen die Kosten für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel (§24a Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch, SGB V). Von Personen, die Leistungen zum Lebensunterhalt beziehen, müssen diese Kosten hingegen aus dem Regelbetrag der Grundsicherung beziehungsweise Sozialhilfe bestritten werden. In dessen Berechnung ist für den gesamten Bereich "Gesundheitspflege" derzeit ein Betrag von 15 Euro im Monat vorgesehen (§5 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz). In der Folge greifen einkommensschwache Frauen häufig aus finanziellen Gründen zu günstigeren und darum weniger sicheren Verhütungsmitteln oder verzichten gleich ganz darauf.
Aus den völkerrechtlichen Grundsätzen lassen sich jedoch materielle Voraussetzungen an reproduktive Gesundheit und Autonomie ableiten. Hierzu gehört der Zugang zu sicheren und erschwinglichen Verhütungsmitteln. Da nach wie vor überwiegend Frauen die Zuständigkeit für die Verhütung zugesprochen wird, liegt darin auch ein wichtiger Indikator für die Geschlechtergerechtigkeit einer Gesellschaft. Derzeit befinden sich zwei Gesetzesentwürfe zur Schaffung einer bundeseinheitlichen Regelung zur Kostenübernahme von Verhütungsmitteln (für Menschen mit geringem Einkommen) in der Beratung.
Zugang zu sicherem und legalem Schwangerschaftsabbruch
Betrachtet man reproduktive Gesundheit und Selbstbestimmung in ihrem menschenrechtlichen Gehalt, so lässt sich auch die Möglichkeit, eine ungewollte Schwangerschaft sicher und legal zu beenden, als individuelles Recht der Schwangeren begreifen. Ob und in welcher Weise dieses Recht durch Belange oder Rechte des Embryos beziehungsweise Fetus begrenzt wird, wird dann zu einer Frage, die erst auf der zweiten Ebene zu klären ist. In Deutschland überwiegt die entgegengesetzte Auffassung. Sie wird maßgeblich geprägt durch zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1975 und 1993
Aus menschenrechtlicher Perspektive ist diese Konzeption des Verhältnisses von Schwangerer und Embryo problematisch, weil die Bedeutung, die eine Schwangerschaft in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht für eine Frau entfaltet, in eklatanter Weise marginalisiert wird. Auch wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht den Embryo als Träger der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) begreift, rechtfertigt dies noch nicht eine Sicht auf Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft, in der diese tief greifenden Veränderungen als Umstände erscheinen, durch die ein Mensch nur "in manchen persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt"
Räumt man dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren demgegenüber im Einklang mit dem völkerrechtlichen Diskussionsstand größeres Gewicht ein, bleiben rechtliche Regulierungen des Schwangerschaftsabbruchs möglich, könnten jedoch stärker als nach den ungewöhnlich detailreichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts dem Gesetzgeber überlassen werden. Gerade bei ethisch und politisch derart umkämpften Themen ist es primär Aufgabe der demokratisch unmittelbar legitimierten Legislative, im Wege der öffentlichen Debatte und Abstimmung eine Entscheidung zu finden.
In einer solchen öffentlichen Diskussion könnten auch die im völkerrechtlichen Kontext kritisierten Elemente des deutschen Rechts sachlich erörtert werden: Die (Teil-)Kriminalisierung hat Folgen nicht nur für die Finanzierung, sondern auch für Information und Beratung. Derzeit dominiert die Vorstellung, schon die sachliche Information durch Ärzte und Ärztinnen über Angebot und Methoden des Schwangerschaftsabbruchs müsse als strafbare Werbung gelten (§219a StGB). Daran wird sich auch nach Änderung des Paragrafen nichts Wesentliches ändern. Zwar sollen Ärztinnen und Ärzte künftig über die Dienstleistung als solche informieren dürfen, nicht jedoch über die angebotenen Methoden. Für Informationen darüber müssen sie auf eine bundesweite Liste von Praxen und Kliniken verweisen, die Abbrüche vornehmen, erstellt von der Bundesärztekammer und der BZgA.
Die weitere Kritik des CEDAW-Ausschusses an der Pflichtberatung und der zwingenden Wartefrist zwischen Beratung und Eingriff wird auch hierzulande aufgegriffen.
Die derzeitige strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs führt schließlich dazu, diesen Eingriff in der Ärzteschaft und in der medizinischen Ausbildung zu tabuisieren.
Selbstbestimmte und sichere Schwangerschaft und Geburt
Neben den bereits genannten Rechten gehören zur reproduktiven Gesundheit auch eine selbstbestimmte Schwangerschaft sowie Wahlfreiheit bei der Geburt. Diese umfasst die freie Wahl des Geburtsorts (Hausgeburt, Geburtshaus, Klinik) und die Art und Weise der Geburt – mit einer individuellen Betreuung. Nach §24d SGB V haben Betroffene während der Schwangerschaft, bei und nach der Entbindung Anspruch auf ärztliche Betreuung und Hebammenhilfe. Auch eine Wochenbettbetreuung bis zwölf Wochen nach der Geburt ist davon abgedeckt. Seit Jahren besteht in Deutschland jedoch ein gravierender Versorgungsmangel in der Geburtshilfe – bei steigender Geburtenanzahl. Der Versorgungsmangel resultiert aus einer Ökonomisierung der Geburtshilfe, die eine Schließung vieler Geburtsstationen
Die Folgen der Unterversorgung sind erschreckend: Die Überlastung und die schlechten Arbeitsbedingungen der Hebammen führen zu Personalmangel und unzureichender Betreuung der Schwangeren. Vielerorts müssen in Klinken vorhandene Kreißsäle kurzfristig oder dauerhaft geschlossen werden. In der Folge werden Frauen zum Teil trotz Geburtswehen wegen mangelnder Kapazitäten abgewiesen. Versorgungsmangel besteht nicht nur in der Geburtshilfe, sondern auch bei der Vor- und Nachsorge. Diese Unterversorgung bedeutet eine potenzielle Gesundheitsgefährdung von Schwangeren und Kindern. Mit der klar formulierten Erwartung des Bundesverfassungsgerichts, der Gesetzgeber habe ein umfassendes "Schutzkonzept für das ungeborene Leben" zu erarbeiten, ist die derzeitige Situation in der Schwangerenversorgung und Geburtshilfe ebenfalls nicht zu vereinbaren.
Fazit
Zusammengefasst ist die geltende Rechtslage in Deutschland in vieler Hinsicht widersprüchlich: So werden beim Schwangerschaftsabbruch dem Embryo weitreichende Leistungsansprüche gegenüber der Schwangeren zugestanden;