Konflikte um Abtreibung sind keine deutsche Eigentümlichkeit und schon gar nicht eine der Moderne. Vielmehr ist der Konflikt in dieser universalen wie menschheitsgeschichtlichen Praxis angelegt.
Seit 1996 hat sich in der Debatte in Deutschland noch eine weitere Gruppe herausgebildet: Vertreter_innen jener Position, die den vielfach beschworenen "mühsam errungenen Kompromiss" um die Ausgestaltung der §§218ff. Strafgesetzbuch (StGB) nicht erneut infrage stellen woll(t)en, unabhängig davon, ob dieser Kompromiss ihre ehemals (oder auch immer noch) vertretenen politischen Positionen widerspiegelt oder nicht. Der Kompromiss und der damit zumindest weitgehend erreichte Rechtsfrieden führten in Deutschland tatsächlich dazu, dass nach jahrelangen erbitterten Auseinandersetzungen um die Maximalforderungen eine relative Ruhe einkehrte.
Weltweit, auch innerhalb Europas und sogar der EU, geben Staaten sehr unterschiedliche Antworten auf die bestehenden Konfliktlinien. Dies reicht von einem völligen Verbot (etwa in Nicaragua) bis zur außerstrafrechtlichen Regelung (etwa in Kanada). Viele europäische Länder haben ähnlich wie Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen legalisiert beziehungsweise straffrei gestellt, andere mit starken Restriktionen belegt.
In diesem Beitrag wird zunächst die Begriffswahl geklärt, anschließend folgt ein Überblick über die Häufigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen und über Einstellungen zu Abtreibung in der Bevölkerung in Deutschland und Europa. Im Fokus stehen die Debatten in Deutschland, ein Blick wird auf die europäischen Beispiele Polen und Irland geworfen.
Unterschiedliche Begriffe – unterschiedliche Haltungen
Das durch äußere Einwirkung herbeigeführte vorzeitige Beenden einer Schwangerschaft kann in der deutschen Sprache mit verschiedenen Begriffen bezeichnet werden. Medizinisch werden beispielsweise die Begriffe "Abruptio" oder "Interruptio" verwendet. Der Begriff "induzierter Abort" gehört ebenfalls in den Bereich der medizinischen Fachsprache. Umgangssprachlich ebenso wie innerhalb politischer Debatten über diesen Vorgang werden vor allem die Begriffe "Schwangerschaftsabbruch" und "Abtreibung" verwendet. In der DDR kursierte noch eine weitere Bezeichnung im Diskurs. Dort wurde von einer "Schwangerschaftsunterbrechung" gesprochen.
Der Begriff "Schwangerschaftsabbruch" taucht erstmalig Ende der 1960er Jahre
Häufigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen
Die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche wird in Deutschland seit 1996 gemäß §§15ff. Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) durch das Statistische Bundesamt erfasst. Praxen und andere Einrichtungen, in denen Abbrüche vorgenommen werden, sind verpflichtet, die Eingriffe nach gesetzlich vorgegebenen Merkmalen zu erheben und diese Erhebung vierteljährlich dem Bundesamt zu melden. Aus dieser Statistik wird ersichtlich, dass die Zahl der Abbrüche pro Jahr in Deutschland seit 1996 von etwa 130.000 auf um die 100.000 zurückgegangen ist. Über 96 Prozent aller Abbrüche werden innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen und nach der Beratungsregelung (§218a Abs. 1 StGB) vorgenommen.
Im europäischen Vergleich hat Deutschland damit (offiziell) die meisten Abbrüche (ausgenommen Russland). Die absoluten Zahlen sind jedoch wenig aussagekräftig, fehlt ihnen doch die Relation zur Gesamtbevölkerungszahl und zu der Zahl der Menschen, die überhaupt in die Situation kommen können, einen Abbruch vornehmen zu lassen. Hierfür ist die sogenannte Abbruchziffer heranzuziehen. Sie gibt an, wie viele von 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren innerhalb eines Jahres einen Abbruch hatten. In Deutschland beträgt die Abbruchziffer recht konstant um die 4,4. Insbesondere in einigen der ehemaligen Sowjetstaaten liegt die Abbruchziffer vergleichsweise hoch (s. Tabelle).
Am Beispiel Polen, das besonders restriktive Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch hat, zeigen sich allerdings die Schwierigkeiten, die Zahl der Abtreibungen realistisch abzubilden: Sowohl die absolute Zahl als auch die Abbruchziffer sind in den offiziellen Statistiken sehr niedrig. Dafür wird die Zahl der illegalisierten Abtreibungen auf bis zu 150.000 geschätzt.
Einstellungen der Bevölkerung zu Schwangerschaftsabbrüchen
In der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) werden regelmäßig Einstellungen gegenüber dem Schwangerschaftsabbruch abgefragt. Die Befragten können zu der Aussage "ob es [i]hrer Meinung nach einer Frau gesetzlich möglich sein sollte oder nicht, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen"
Die Anerkennung der Willensentscheidung der Schwangeren als Legitimationsgrund ("wenn die Frau es so will, unabhängig davon, welchen Grund sie dafür hat") fällt hingegen kontrovers aus. Im historischen Vergleich hat die Zustimmung durch alle Befragten im Zeitraum von 1992 bis 2006 um zehn Prozent abgenommen. 2006 akzeptierten diesen Grund noch zwei Drittel der ostdeutschen und nur wenig mehr als ein Drittel der westdeutschen Befragten. Das kann darauf hindeuten, dass die Einstellung einer Bevölkerung zur Abtreibung auch von den jeweiligen gesetzlichen Regelungen abhängt. In Ostdeutschland galt von 1972 bis zur endgültigen Neuregelung 1996, dass ungewollte Schwangere innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen die Schwangerschaft auf ihren Wunsch hin und ohne Angabe von Gründen abbrechen lassen konnten. An historischen Vergleichsuntersuchungen mit ostdeutschen Jugendlichen bestätigt sich diese Vermutung. Denn während sich 1990 noch etwa die Hälfte der Befragten für die Regelungsoption einer Fristenlösung aussprach, taten dies 2013 nur noch 16 Prozent.
Die Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch variieren stark zwischen einzelnen europäischen Ländern, wie eine Untersuchung durch das Meinungsforschungsinstitut Ipsos Public Affairs zeigt.
Aktuelle Debatten um Schwangerschaftsabbrüche
Sowohl die Rechtslage als auch die gesellschaftspolitische Debatte um Abtreibung sind in Europa höchst unterschiedlich. Vor allem dort, wo liberale Regelungen implementiert wurden, werden diese von Befürworter_innen einer restriktiven Gesetzgebung in den Parlamenten und auf der Straße häufig wieder infrage gestellt. Die sogenannte Lebensschutz-Bewegung mobilisiert nicht nur in Deutschland, sondern gesamteuropäisch Abtreibungsgegner_innen, etwa durch Kampagnen wie "One of Us" 2014.
Deutschland
Wie bereits erwähnt, ist es mit der Ruhe in der Debatte um Abtreibung in Deutschland vorbei. Und dass es sich nur um eine "relative" Ruhe handelte, lässt sich am besten an der Entwicklung der "Lebensschutz"-Bewegung ablesen.
Die "Lebensschutz"-Bewegung agiert mit einem breiten Spektrum an Aktionsformen und Angeboten. Diese reichen von Beratungsangeboten zur direkten Beeinflussung von ungewollt Schwangeren und Bildungsangeboten für Jugendliche (beispielsweise durch den Verein KALEB e.V.) über politische Lobbyarbeit mittels eines gut strukturierten und finanziell gut ausgestatteten Netzwerks an Vereinen und Initiativen (wie etwa Aktion Lebensrecht für Alle e.V.; Bundesverband Lebensrecht; Christdemokraten für das Leben) bis hin zu zum Teil mehrwöchigen, Schwangere und Fachkräfte einschüchternde Kundgebungen im öffentlichen Raum in unmittelbarer Nähe von Beratungsstellen und Kliniken.
Für Aktivist_innen der "Lebensschutz"-Bewegung bot zudem §219a StGB eine willkommene Möglichkeit, um Ärzt_innen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, unter Druck zu setzen. Das in diesem Paragrafen statuierte sogenannte Werbeverbot war bis vor Kurzem so ausgestaltet, dass bereits die bloße Information, dass in dieser Praxis oder jenem Krankenhaus Abbrüche möglich sind, als strafbar galt. Der bekannte Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen erstattete nach eigener Auskunft auf seiner Internetseite abtreiber.com seit 2005 regelmäßig Anzeigen gegen Ärzt_innen und Einrichtungen, die seiner Ansicht nach gegen den §219a StGB verstoßen hatten. In der Regel wurden die Verfahren eingestellt, die Anzeigen nicht zur Anklage gebracht.
Der Fall markiert eine Zäsur, sowohl in der deutschen Rechtspraxis zur Abtreibungsgesetzgebung als auch in der parteipolitischen Auseinandersetzung und der aktivistischen Praxis von Feminist_innen. Binnen kürzester Zeit erhielt der Fall Kristina Hänel weitreichende mediale Aufmerksamkeit, und es entstanden zahlreiche feministische Bündnisse und Initiativen; Ärzt_innen bekannten medienwirksam "Wir machen Schwangerschaftsabbrüche",
In den Plenarbeiträgen der einzelnen Abgeordneten im Deutschen Bundestag oder in den Stellungnahmen der Sachverständigen vor dem Rechtsausschuss wurden, obwohl es im Grunde um die Frage nach der Ausübung des aktiven und passiven Informationsrechts ging, erneut die grundsätzlichen Linien der Abtreibungsdebatte deutlich. Von den Vertreter_innen der jeweiligen Position zum §219a StGB galt dieser entweder als Garant für den Schutz des ungeborenen Lebens im "Gesamtpaket" der Abtreibungsgesetzgebung oder als ein Ausdruck der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen. Nicht nur die inhaltliche Auseinandersetzung knüpfte an die bekannten Positionen zur Abtreibung an, sondern auch die Form der Lösung setzte in einer gewissen Kontinuität den deutschen Weg der Abtreibungsgesetzgebung fort: Auch das Ergebnis der Verhandlung zwischen den Koalitionsparteien SPD und CDU/CSU wurde wie die Kompromisse in den 1990er Jahren als hart errungen dargestellt, die vorausgegangenen Verhandlungen als zäh. Ein vorläufiger Schlusspunkt ist mit der Änderung des §219a nun erreicht.
Beendet ist die Debatte aber damit nicht. Sowohl Kristina Hänel als auch die FDP-Fraktion gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke haben angekündigt, dass sie eine Beurteilung des Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht anstreben.
Mediziner_innen nehmen in dem Prozess einer Abtreibung neben den Berater_innen der anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen eine zentrale Stellung ein. Sie sind in jedem Fall Ansprechpersonen für die ungewollt Schwangeren, mindestens bei der Feststellung der Schwangerschaft. Damit ungewollt Schwangere den im gesetzlichen Rahmen möglichen Abbruch auch erhalten, braucht es genügend Mediziner_innen, die diese Leistung anbieten. Versorgungslücken sind aber bereits vorhanden – nicht nur in Deutschland.
Die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland eröffnet Ärzt_innen die Möglichkeit, aus persönlichen weltanschaulichen oder religiösen Motiven Patient_innen den Eingriff zu versagen, der de facto als gerechtfertigt behandelt wird.
Ein weiterer Grund, der für die zunehmenden Versorgungslücken, insbesondere in Deutschland, angeführt wird, ist die Tatsache, dass aktuelle, fachgerechte Methoden zum Abbrechen einer Schwangerschaft in Deutschland nicht regulärer Bestandteil des Medizinstudiums sind, auch nicht im Rahmen der fachärztlichen Ausbildung in der Gynäkologie.
Ärzt_innen, auch Fachärzt_innen für Gynäkologie, sind in Deutschland mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht optimal für den Eingriff ausgebildet und haben zudem die Möglichkeit, diesen aus Gewissensgründen abzulehnen. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem Abtreibung tabuisiert und Personen, die damit in Verbindung stehen, stigmatisiert oder offen bedroht und unter Druck gesetzt werden, entscheiden sich offenbar auch immer mehr Mediziner_innen dafür, keine Schwangerschaftsabbrüche anzubieten.
Angestoßen durch den Fall Kristina Hänel und weitere Verhandlungen gegen Ärzt_innen und Aktivist_innen werden in den Medien neben der Frage zum Zugang zu der ärztlichen Leistung auch wieder die grundsätzlichen Fragen um die Regulierung der Abtreibung diskutiert.
Polen und Irland
In Irland und Polen hat die katholische Kirche starken Einfluss sowohl auf die außerrechtliche Bewertung moralischer Fragen als auch auf Politik und Gesetzgebung. In Polen galt über mehrere Jahrzehnte sozialistischer Regierung hinweg, von 1956 bis 1993, eine permissive Rechtslage. Unter dem ab 1990 regierenden Staatspräsidenten Lech Wałesa und der wieder erstarkten katholischen Kirche wurde die Möglichkeit der Abtreibung in Polen massiv eingeschränkt.
In Irland, wo die katholische Kirche und deren Verankerung in der Bevölkerung ebenfalls sehr stark ist, galt bis 2018 ein noch restriktiveres Gesetz als in Polen. 1983 wurde das Recht auf Leben des Ungeborenen in der irischen Verfassung verankert (im 8th Amendement). Daraus wurde bis 2014 ein grundsätzliches Abtreibungsverbot abgeleitet. Verstöße konnten mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden.
Schluss
Eine ewig gültige, alle Positionen befriedende Regelung zu Schwangerschaftsabbrüchen wird es, so zeigen die hier verhandelten Beispiele, nicht geben. In die Zukunft weisen die Debatten um reproduktive Gesundheit und Rechte, wie sie im Völkerrecht geführt werden.