Einleitung
Die Mythen des Anfangs wussten Einheit zu stiften, indem sie Geschichten der "Einheit" erzählten. Die Eliten der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und der Republik Österreich standen im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg und der "Stunde null" vor der Aufgabe, ein auf das jeweilige Staatswesen und sein Gesellschaftssystem bezogenes Wir-Gefühl zu begründen. Es galt, Legitimität zu symbolisieren und Loyalität von den Vielen zu erheischen, wozu prägnante, akzeptanzfähige, emotionalisierende und mobilisierende Erzählungen angeboten werden mussten. Vornehmste Aufgabe dieser Geschichten musste es sein, politische, soziale, ökonomische, vor allem aber familiäre Erfahrungen von Kontingenz in höhere Sinnhorizonteeinzubinden. Die traumatischen Kriegserlebnisse, der Zusammenbruch staatlicher Institutionen und politischer Autoritäten sowie die Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit von Millionen machten einfache und einprägsame wie sozialpsychologisch leistungsstarke Erzählungen erforderlich.
Diese Narrative gaben den Gesellschaften in statu nascendi eine integrierende Zeit-Gestalt vor, indem sie erklärten, woher man kam, wo man stand und wohin man gemeinsam wollte. Sie offerierten ein versöhnliches Muster vonVergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektiven (Karl-Ernst Jeismann). Diese Narrative hatten diejenigen Grund-Werte zu vermitteln, die für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fortan verbindlich sein sollten. Sie mussten nichts weniger als einen akzeptanzfähigen zeitlich-politisch-moralischen Orientierungsrahmen, kurz: das neue soziale und politische Selbstverständnis und Selbstgefühl, leicht verständlich darstellen und versinnbildlichen - in Form von Bildern, Symbolen, Ritualen und Personen.
Mythen des Anfangs sind nicht nur Gründungsmythen, die unhinterfragbar einen sagenhaften Ursprung des eigenen Gemeinwesens formulieren und ausgestalten.
Österreich - "das erste Opfer des Nationalsozialismus"
In allen drei Ländern lässt sich die Vielfalt der Symbole, Bilder und Geschichten auf unumstößliche erste Grund-Sätze zurückführen. In Österreich lautete diese fundamentale Sentenz: "Wir sind die ersten Opfer des Nationalsozialismus." Dieser den künftigen österreichischen Offizialdiskurs strukturierende Satz wurde im April 1945 im Gründungsdokument der Republik festgeschrieben: "Angesichts der Tatsache, daß der Anschluß des Jahres 1938 (...) durch militärische Bedrohung von außen und den hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet, einer wehrlosen Staatsleitung abgelistet und abgepreßt, endlich durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist, (...) und endlich angesichts der Tatsache, daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, ökonomischen und kulturellen Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, (...), erlassen die unterzeichneten Vertreter aller antifaschistischen Parteien Österreichs (...) die nachstehende Unabhängigkeitserklärung."
Die Erklärung der Unabhängigkeit als Deklaration der Unschuld: Während im "Altreich" noch gekämpft wurde, vier Tage vor Hitlers Freitod, gossen drei Parteien des "neuen Österreich" das Fundament des künftigen Selbstverständnisses. Der gängigen Erzählung zufolge war das kleine und wehrlose Österreich von den "braunen deutschen Horden" 1938 überrannt worden.
Diese Grundsätze des österreichischen Selbstbildes stießen auf breite Akzeptanz. Etwa vier Jahrzehnte lang strukturierten und steuerten Variationen dieses Opfermythos das österreichische Selbstverständnis.
Integration durch Abgrenzung: Der Opferstatus ließ es zu, Täter und Schuldige ohne großen Aufwand auszugrenzen.
Einheitsstiftung durch imaginierte gemeinsame Erfahrung: Opfer der Aggressoren waren sowohl Repräsentanten der Linken wie der Rechten, "Rote" wie "Schwarze", so ein weiteres Argumentationsmuster. In den Konzentrationslagern waren sie unterschiedslos dem Terror ausgesetzt. Die gemeinsame Erfahrung der "Lagerstraße" begründete demzufolge die neue demokratische Kultur. Das Gegeneinander der Ersten Republik sollte aufgrund des "Geistes der KZ-Gemeinschaft" in ein Miteinander der Zweiten Republik überführt werden.
Zur überragenden politischen Symbolfigur des neuen Österreichs avancierte der zweite Kanzler der Zweiten Republik, Leopold Figl. "Unser Poldl" war "unser Österreich", der homo austriacus schlechthin: ein volksverbundener Heurigen-Politiker mit Weinglas, die Inkarnation des guten und ausgleichenden Landesvaters. Vor allem aber konnte der Bauernsohn aus dem Tullnerland als Verkörperung des Opfermythos gelten, denn "der Figl" war von 1938 bis 1943 in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg inhaftiert gewesen, weil er sich unerschrocken zu Österreich bekannt hatte.
Das "neue Österreich" präsentierte sich auch visuell als "Land der Berge, Land am Strome", das seine Nationalhymne seit 1947 geradezu programmatisch pries.
DDR - "das andere Deutschland"
Auch die Ideologen der 1946 gegründeten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) richteten einen unwiderruflichen Grund-Satz auf: "Wir sind diejenigen, welche das andere, das bessere Deutschland aufbauen." Eng damit verknüpft war ein weiteres politisches Grundaxiom: Die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR sah sich - ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik - als Hort des "Antifaschismus".
In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war die unmittelbare Nachkriegszeit bereits als Phase der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" bezeichnet worden, in deren Verlauf die Enteignung von "Kriegsverbrechern", Nazigrößen und Großgrundbesitzern durchgeführt und eine "wahre" Demokratisierung ins Werk gesetzt werden sollte. Durch die Entmachtung der Exponenten des Faschismus, der "Militaristen" und "Imperialisten", sei die DDR zum ersten deutschen "Friedensstaat" geworden.
Das menschliche Antlitz des Sozialismus: Die Protagonisten des neuen Staates, die Kader der SED, nahmen für sich in Anspruch, Führer der Arbeiterklasse und Opfer des Nationalsozialismus zu sein. Als ehemalige KZ-Häftlinge und Emigranten reklamierten sie eine moralische Dignität, aus welcher sie ihre Machtansprüche herleiteten. Die ehedem kommunistischen und sozialdemokratischen Verfolgten des Naziregimes sollten nunmehr als Protagonisten der Partei das Programm des "neuen Deutschlands" verkörpern. Vor allem Angehörige der um 1930 geborenen Aufbaugeneration folgten diesem Angebot, da sie hofften, auf diesem Weg ihren jugendlichen Glauben in den Nationalsozialismus kompensieren zu können.
Auf der Bühne der DDR traten Propagandafiguren auf, welche die Idee des Sozialismus personifizieren sollten. Zum wirkmächtigen Kanon der Gründungsnarrationen zählten vor allem die Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes, die wie Märtyrer verehrt wurden und deren Aura den neuen Staat und die Partei heiligte; dazu zählte der im Konzentrationslager Buchenwald ermordete frühere Parteichef der KPD Ernst "Teddy" Thälmann. In den fünfziger Jahren kamen Helden des Aufbaus wie der Bergmann und Bestarbeiter Adolf Hennecke und Sportlerhelden wie der Radfahrer Gustav Adolf "Täve" Schur hinzu.
Auch die politischen Eliten der DDR mussten bestrebt sein, zu integrieren. "Einheit" wurde zum Leit-Propagem. Die politische Interpretation von "Einheit" definierte unmissverständlich die Machtverhältnisse in der DDR: Die "Einheit der Arbeiterklasse" wurde als Garant der neuen politischen Macht und des Weges in eine neue Gesellschaft verstanden und stellte einen unabdingbaren Glaubenssatz dar. Die soziale Interpretation definierte die gesellschaftlichen Verhältnisse: Der Händedruck war nicht nur Symbol für die "Einheit der Arbeiterklasse" in der SED, sondern auch für die "Einheit der Klassen" in der DDR. Die deutschlandpolitische Interpretation definierte das Verhältnis zur Bundesrepublik: In den vierziger und fünfziger Jahren symbolisierte der Händedruck wie selbstverständlich die "Einheit Deutschlands". "Die Einheit der beiden deutschen Staaten" blieb offizielle Politik der DDR bis in die sechziger Jahre hinein. Walter Ulbricht preschte immer wieder mit Plänen zu einer Konföderation der beiden deutschen Staaten vor. Die außenpolitische Interpretation definierte die Vormacht des sozialistischen Lagers: "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!" Die Freundschaft zur Sowjetunion galt als Grund-Gesetz. Die Einheit des sozialistischen Weltsystems war hierarchisch gegliedert. Die sowjetischen Brüder hatten als diejenigen zu gelten, die in der politischen und persönlichen, in der gesellschaftlichen und der wissenschaftlichen Entwicklung weiter vorangeschritten waren.
Integration durch Abgrenzung: Die Feinde dieses konsequent "antifaschistischen" Kurses und des Strebens nach "Einheit" wurden von der Propaganda in Westdeutschland, West-Berlin und Washington geortet. Dort saßen die wahren Schuldigen des Nationalsozialismus, die "Nazigeneräle", die "Militaristen", die sich mit den "Kapitalisten" zusammengetan hatten, um die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mit ihren üblen Machenschaften zu unterminieren.
Zwar gab es eine Omnipräsenz legitimierender "antifaschistischer" Geschichtsbilder in der DDR,
Besonders in den Anfangsjahren wurde der neue Staat gern als neugeborenes Kind imaginiert: "Die Geburt eines neuen Deutschland" lautete der programmatische Titel einer frühen Geschichte der DDR.
Bundesrepublik Deutschland - "das Wirtschaftswunder"
Die Einwohner der Westzonen konnten sich einen vergleichbaren Grund-Satz nicht auf die Fahnen schreiben. Die "Einheit", die sie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren verspürten, war nicht positiv, sondern negativ begründet. Auch in den Westzonen machten die Besatzungsmächte unmissverständlich klar, dass Deutschland besiegt und besetzt sei, nicht aber befreit.
In Österreich (ab 1945) und in der DDR (ab Ende der vierziger Jahre) wurden die "Täter" externalisiert und sogar exterritorialisiert ("Nicht wir, sondern 'die Deutschen'" respektive ",die Spalter und Faschisten in Westdeutschland' sind schuld"). Im selben Atemzug wurde die Bevölkerung exkulpiert - was Räume für Integration und "Einheit" schuf: So gab sich die SED bereits 1946/47 als "großer Freund der kleinen Nazis".
Ausprägungen eines Selbstverständnisses als "Opfer": Infolge der drückenden Last des Nachkriegsalltags ohne Nahrung und Hausbrand fühlte sich mancher auch in Westdeutschland als "Opfer". Frauen und Kinder schlugen sich mehr schlecht als recht durch, die Männer waren gefallen oder aber in Kriegsgefangenschaft. Man habe genug gesühnt, war die Meinung vieler in den harten Nachkriegswintern. Das Überleben in der Rationen-Gesellschaft stilisierte man zwar zuweilen zur abenteuerlichen Erzählung, aber dieses Selbstverständnis schuf noch keinen Mythos des Anfangs. Unterstützt wurde eine solche sozialpsychische Opferdisposition durch einen Opferdiskurs, der mit dem "Untergang" der 6. Armee in Zusammenhang gebracht wurde. "Stalingrad" stand für den "Opfergang" deutscher Soldaten, für den die nationalsozialistische Führung die Verantwortung zu tragen habe.
Integration durch Abgrenzung: "Schuld" konnten demzufolge nur diejenigen sein, die die kleinen Leute verführt hatten. Im Zuge dieser Argumentation gebar sich auch in Westdeutschland eine Gruppe selbst als "erste Opfer Hitlers": die einstigen, gläubigen NS-Volksgenossen. Sie sahen sich im Nachhinein "auf dämonische Weise verführt, unterjocht und mißbraucht"
Das stärkste integrierende Propagem war der Antikommunismus. Demnach war der Krieg gerechtfertigt gewesen, um der "asiatischen" Bedrohung durch die Sowjetunion Einhalt zu gebieten. Mit dem Ende des Krieges stand "der Russe" nun in der Mitte Deutschlands: Umso dringender erschien es, dass sich die Bundesrepublik in den seit der Oktoberrevolution von 1917 bestehenden globalen ideologischen Widerstreit zwischen Kapitalismus und Marxismus-Leninismus einfügen konnte. Schon frühzeitig bildete sich im Westen ein polares Selbstverständnis aus, das die Integration in die ideologische Gemeinschaft "des Westens" der Einheit "der Nation" vorzog.
Die Bundesrepublik Deutschland verstand sich wie die DDR als Kernstaat und überdies als Rechtsnachfolger des "Dritten Reiches".
Die westdeutsche Selbstvergewisserung entfaltete sich erst allmählich und kumulativ zunächst unterhalb der Ebene von "Meistererzählungen" - was keineswegs heißen soll, dass es keine Mythen des Anfangs gab.
Die erste Erfahrung, die zu einem fundamentalen Baustein des westdeutschen Mythos ausgebaut wurde, war die Währungsreform. Unzählige Geschichten beschrieben später die Einführung des neuen Geldes als dramatisches Wendeereignis: Bis zu diesem sagenhaften 20. Juni 1948 wird eine Zeit des Stillstandes, des Darbens und Hungerns, der Waren- und Wertlosigkeit erinnert, dann geschah in den Augen vieler "über Nacht" das Wunder einer überbordenden Warenfülle. Die prall gefüllten Läden wurden zu Vorzeichen des Wirtschaftswunders, das "Kopfgeld" versprach "Wohlstand für alle". Die Wirklichkeit sah anders aus: Ob die neue Währung tatsächlich Zukunft garantieren würde, war imFrühsommer 1948 keineswegs abzusehen.
Das Jahr 1954 lieferte den Anlass, um die Erzählung vom Warenparadies fortzuspinnen und sie zu einer ersten integrierenden Sentenz auszuformulieren.
Das akute Mythendefizit Westdeutschlands diagnostizierten zu Beginn der fünfziger Jahre auch führende Unternehmer: Seit Ende der vierziger Jahre hatten zahlreiche altbekannte Markenprodukte mit dem Slogan "Wir sind wieder da - in bester Friedensqualität!" auf sich aufmerksam gemacht und die Geburt des Weststaates unterfüttert. Eine gemeinschaftsstiftende Propaganda, welche die wirtschaftlichen Erfolge politisch in Dienst stellte, fehlte jedoch. Daher gründeten potente Wirtschaftler eine politische Public-Relations-Organisation namens "Die Waage. Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs" und initiierten Kampagnen für die "Soziale Marktwirtschaft".
Österreich und die DDR profitierten nach dem Zweiten Weltkrieg propagandistisch von ihrer territorialen Begrenztheit und bedienten sich unter unterschiedlichen ideologischen Prämissen des Kindchenschemas