Einleitung
Farah Karimi ist aus politischen Gründen aus dem Iran geflohen und wurde 1998, zehn Jahre nachdem sie in die Niederlande gekommen war, für die Grünen (Groen Links) ins niederländische Parlament (die Tweede Kamer) gewählt. Als Studentin hatte sie 1979 an der Islamischen Revolution teilgenommen, aber als die neue Regierung begann, einschneidende religiöse Gesetze zu beschließen, sah sie ihre Hoffnungen auf eine nationale und demokratische Revolution enttäuscht. Frauen wurden von Männern an den Universitäten und in der Öffentlichkeit getrennt. Das Tragen des hijab, des islamischen Kopftuchs, welches die Revolutionäre aus Protest gegen die vom Schah erzwungene Verwestlichung angelegt hatten, wurde verpflichtend. Heute denkt Karimi, dass sie naiv gewesen ist, als sie sich der Studentenbewegung anschloss. "Wir glaubten, dass der Islam gut sei", sagt sie, "weil er aus unserer eigenen Kultur stammte."
Zugleich verzweifelt sie darüber, dass die niederländischen Politiker nicht den Mut aufbringen, der Öffentlichkeit zu erklären, warum es notwendig ist, auch unpopuläre Maßnahmen zu finanzieren. Man benötige öffentlich finanzierte Islamschulen, in denen Imame ausgebildet werden, um zu verhindern, dass aus Ländern wie Saudi-Arabien oder der Türkei Einfluss auf die muslimische Gemeinschaft in den Niederlanden ausgeübt wird. Doch die Bedingungen für eine rationale Debatte haben sich verschlechtert. Karimi hat einen dramatischen Wandel der öffentlichen Einstellungen gegenüber Muslimen beobachtet. Das belegen auch die Erfahrungen ihres 20-jährigen Sohnes: "Für sie bin ich ein Moslem", sagt er, "also muss ich auch einer sein." Karimi glaubt, dass das gegenwärtige politische Klima in den Niederlanden den Extremismus auf beiden Seiten ermutige.
Fatih Alev war zur Zeit meines Interviews Vorsitzender einer muslimischen Studentenorganisation in Kopenhagen. Er diente einer kleinen Gemeinschaft in einem innerstädtischen Kulturzentrum als Imam und bezeichnete sich als "Bindestrich-Däne". Er wurde in Dänemark als Sohn türkischer Arbeitsmigranten geboren und hat die Universität besucht. Er begegnet allen Menschen, Männern und Frauen, in der leichten, egalitären Art, welche bei Dänen so häufig anzutreffen ist. Er predigt auf Dänisch und ist Däne aus voller Überzeugung - mit einer Ausnahme: Alev glaubt, dass die Dänen ihre Spiritualität verloren haben und dass dieser Verlust der Hauptgrund dafür ist, dass sie so intolerant gegenüber Einwanderern geworden sind. "Die dänischen Vorratslager für Glauben und Spiritualität sind leer; stattdessen füllen sie sie mit Furcht vor dem übermächtigen 'Ausländer'." Seine Hoffnung ist es, dass die Anwesenheit von überzeugten Muslimen die Dänen herausfordern werde, ihre Einstellung zur Religion zu überdenken.
Alev verbringt viel Zeit mit dem interreligiösen Dialog, mit Gruppen, die sich mit islamischer Erziehung und theologischer Erneuerung beschäftigen. Er befürwortet eineverschärfte Antidiskriminierungspolitik, denn dadurch würde es Muslimen erleichtert, eine gewisse Gleichstellung mit Christen zu erreichen. Er ist jedoch entrüstet, als ich ihm erkläre, dass neue europäische Gesetze gegen Diskriminierung religiösen Organisationen verbieten könnten, Homosexuelle zu benachteiligen. Er steht dem Vorschlag skeptisch gegenüber, dass Frauen Imame werden können, und verweist darauf, dass der Koran eindeutig bestimme, dass Frauen nur andere Frauen beim Gebet anleiten könnten. Zwei junge Frauen seiner Studentenorganisation widersprechen in seiner Anwesenheit: Natürlich können Frauen Imame sein, sagen sie.
Karimi und Alev, eine linke Parlamentarierin und ein Student und Imam, gehören zur wachsenden neuen muslimischen Elite in Europa. Sie sind gut ausgebildet und talentiert; aufgrund ihres Engagements und ihrer Fähigkeiten sind sie an die Spitze von politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gelangt. Ihr Engagement und ihre gemäßigten Ansichten deuten darauf hin, dass das Schlagwort von der "Islamisierung Europas" unbegründet ist.
Muslime in Europa
Wer bildet Europas neue muslimische Elite? Ich habe in den vergangenen zwei Jahren rund dreihundert muslimische politische oder gesellschaftliche Führer in sechs Ländern interviewt.
Die Erhebung gibt nicht vor, die Ansichten einer repräsentativen Stichprobe der muslimischen Eliten zu reflektieren. Eher schildere ich die Ansichten eines großen Teils europäischer muslimischer Führer. Dabei muss bedacht werden, dass wir die Parameter der hier zu untersuchenden Bevölkerungsgruppe nur schätzen und deshalb auch nicht Repräsentativität im strengen Sinne beanspruchen können. Doch mit ganz wenigen Ausnahmen traf ich alle muslemischen Parlamentarier und Parlamentarierinnen in jenen Ländern. Ich schätze, dass zwischen 1 500 und 2 000 Einzelpersonen in den Ländern, die in der Studie eingeschlossen sind, meiner Definition eines gewählten oder ernannten Führers einer nationalen oder regionalen, gesellschaftlichen oder politischen Organisation entsprechen, die muslimischen Glaubens sind oder diesem nahe stehen. Mein Ziel war es, in offenen Interviews - ergänzt durch Fragebögen - die Spannbreite der Ansichten zu beschreiben und die politischen Präferenzen zu ermitteln.
Der Islam ist die größte Minderheitenreligion in Europa. Es gibt im protestantischen Nordeuropa mittlerweile mehr Muslime als Katholiken, sowie mehr Muslime als Protestanten im katholischen Südeuropa. Die Zahl der europäischen Muslime übersteigt die der europäische Juden bei weitem. Doch während permanent über den Stellenwert "des" Islam diskutiert wird, hat sich hinsichtlich der offiziellen Religionspolitiken der Einzelstaaten nur wenig verändert. Angesichts des Islam reagieren manche Europäer damit, dass sie die Vorrangstellung des Christentums bekräftigen, während andere die Verpflichtung zum Säkularismus bzw. zum Laizismus als grundlegenden Wert Europas ansehen.
Muslime sind in den europäischen Machteliten stark unterrepräsentiert. Derzeit leben ungefähr 15 Millionen Muslime in Europa, aber es gibt weniger als 30 muslimische Mitglieder in den nationalen Parlamenten. Einschränkende Einbürgerungsrichtlinien bewirken, dass der Status als "Ausländer" häufig über Generationen hinweg weitergegeben wird, so dass politische Parteien dazu tendieren, muslimische Wählerinnen und Wähler zu ignorieren, denn Nichtbürger können nicht zur Wahl stehen und auch nicht an Wahlen teilnehmen.
Dänemark und Schweden erlauben es ausländischen Staatsbürgern, die bestimmte Anforderungen hinsichtlich des Wohnortes erfüllen, bei lokalen Wahlen zu wählen. Ungefähr ein Drittel der nichtnationalen, aber im Wählerverzeichnis eingetragenen Personen nehmen daran teil. Dänemark hat 3,5 Millionen Wahlberechtigte, aber es gibt zugleich ungefähr 250 000 langfristig nichtnationale Einwohner (rund sieben Prozent), die nicht an den nationalen Wahlen teilnehmen können. Schätzungsweise nur die Hälfte der dänischen Moslems sind bei den nationalen Wahlen wahlberechtigt, in Italien sind es weniger als zehn Prozent. In Deutschland sind nur rund 500 000 von insgesamt etwa 3,2 Millionen Muslimen wahlberechtigt.
Der Anteil der Muslime, die Staatsbürger sind, schwankt stark zwischen den europäischen Ländern. Das ist vor allem eine Folge der verschiedenen Einbürgerungsgesetze und -bestimmungen. In den meisten Ländern dürfen nur zehn bis 25 Prozent der muslimischen Bevölkerung wählen. Es gibt zwei Ausnahmen: die Niederlande, wo 50 Prozent der Türken und Marokkaner die Staatsbürgerschaft haben, und, wie bereits erwähnt, Großbritannien.
Zur Zeit stammt das einzige muslimische Mitglied der französischen Nationalversammlung aus den Überseeterritorien. Im September 2004 wurden zwei Frauen muslimischer Herkunft, Bariza Khiari von den Sozialisten und Alima Boumediene Thierry von der grünen Partei, in den französischen Senat gewählt. Es gibt zwei muslimische Abgeordnete im britischen Unterhaus, Mohammad Sarwar und Khalid Mahmood. Diese Zahl wird sich vermutlich durch die Unterhauswahl 2005 erhöhen, da die Liberaldemokraten und die Konservativen muslimische Kandidaten aufstellen werden, um muslimische Wähler von Labour abzuwerben. Es gibt sieben muslimische Mitglieder des Oberhauses. Zwei muslimische Frauen sitzen im Deutschen Bundestag, eine von den Grünen und eine von der SPD. Es gibt fünf muslimische Mitglieder des schwedischen Riksdagen, seit der Parlamentswahl vom Februar 2005 drei im dänischen Folketing und sieben Muslime in der niederländischen Tweede Kamer, darunter zwei, welche die Christdemokraten vertreten.
Einige der muslimischen Parlamentarier in Schweden und in den Niederlanden kamen als politische Flüchtlinge nach Europa. Innerhalb einer Dekade erlangten sie die Staatsbürgerschaft und wurden in politische Ämter gewählt. Diese Gruppe schließt einige der begabtesten jungen Mitglieder der beiden Parlamente ein, etwa Farah Karimi und Ayaan Hirsi Ali in der Tweede Kamer und Nyamko Sabuni im Riksdagen. Auch der Katholik Mauricio Rojas und der koptische Christ Rezene Tesfazion im Riksdagen lassen sich dieser Gruppe zurechnen. Karimi und Sabuni beschreiben sich als kulturelle Muslime. Hirsi Ali begreift sich als "ex-muslimisch" und ist berühmt - oder berüchtigt - , weil sie den Propheten als "Perversen" beschimpft hat. Sie gehört der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), der rechtsliberalen Partei der Niederlande, an und erhielt bei der Parlamentswahl 2002 die Rekordzahl von rund 68 000 persönlichen Stimmen (das niederländische Wahlsystem erlaubt es, für eine Partei oder einen Einzelanwärter zu stimmen).
Die Hürden zur Repräsentation sind in den Stadträten häufig niedriger. In Großbritannien ermunterten besonders zwei Faktoren Muslime zur Teilnahme an der Kommunalpolitik: zum einen die Tatsache, dass die örtlichen Parteigliederungen frei sind, zu entscheiden, wen sie zur Wahl aufstellen, zum anderen die Kombination der dezentralisierten lokalen Regierung und des hohen Grads der Segregation der Wohnquartiere, welche die Repräsentation von Einwanderern vereinfacht. Dieselben Faktoren spielen auch in anderen Ländern eine Rolle, und manche Bereiche haben sich als Rekrutierungsbasis für Immigrationspolitiker erwiesen. Doch nur in Großbritannien sind muslimische Wähler als eindeutig zu identifizierender, bedeutender Wählerblock vertreten, vergleichbar etwa mit den Kubanern in den USA. Doch auch in Großbritannien ist die Parteidisziplin stark, und für die Abgeordneten ist es schwer, zumWortführer für spezielle Interessen zu werden. Der Mitarbeiter eines Abgeordnetenerklärte mir: "Die Diskriminierung und die Position der Moslems sind wirklich schwierige Bereiche." Für viele muslimische Politiker sei das Thema Islam und Diskriminierung zu dem geworden, was in den USA als "Third Rail", als Stromschiene der Politik bezeichnet wird: "Du berührst sieund bist tot."
Lässt man das aktive und passive Wahlrecht außer Acht, ist die Staatsbürgerschaft sicherlich keine rechtliche Vorbedingung für politisches Engagement, aber sie macht in der Praxis sehr viel aus. Die nichteingebürgerten Eliten, die zwischen einem Zehntel und einem Viertel der Teilnehmer an der Studie stellten, waren in gesellschaftlichen Vereinigungen und nicht in politischen Parteien aktiv. Dänemark und Deutschland, Länder mit besonders restriktivem Staatsbürgerschaftsrecht, wiesen einen größeren Anteil an nicht-eingebürgerten muslimischen Führern auf.
85 bis 95 Prozent der Befragten wurden im Ausland geboren und kamen als junge Erwachsene nach Europa. Der Anteil der bereits in Europa Geborenen war in Großbritannien und in den Niederlanden höher als anderswo; hier spiegelt sich zweifellos das frühere Einsetzen der Immigration in diese Länder und die koloniale Vergangenheit wider. Der hohe Anteil der gebürtigen Französinnen und Franzosen - über die Hälfte - reflektiert die relative Jugend der französischen Teilnehmer, welche die Fragebögen zurücksandten. Ich zögere, spezifische Schlussfolgerungen aus den französischen Zahlen zu ziehen, aber die Rate der Einbürgerung unter den französischen Teilnehmern ist überraschend niedrig, wenn man ihren hohen Bildungsstand und ihr Durchschnittsalter betrachtet: Es liegt bei 32 Jahren, verglichen mit 40 bis 42 in den anderen Ländern.
Die Politik der "zweiten Generation"
Es wird häufig angenommen, dass erst den Nachkommen der Immigranten die Schritte gelingen, die zur politischen Integration erforderlich sind, aber das trifft auf die neuen muslimischen politischen Eliten in Europa nicht zu. Es handelt sich zwar bei manchen von ihnen um Nachkommen früherer Generationen von Arbeitsimmigranten, die wegen ihrer Akkulturationsleistung in führende Positionen gelangt sind. Aber die Mehrheit der Befragten kam erst als junge Erwachsene nach Europa: um ihr Studium fortzusetzen, oder als erfahrene politische Aktivisten und politische Flüchtlinge.
Ein klar definiertes Generationsmuster unter den neuen muslimischen Eliten in Europa existiert demnach nicht. Die Nachkommen der Immigranten haben meist keinen automatischen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft. Folglich leiden die "zweiten" und "dritten Generationen" unter denselben rechtlichen Zumutungen wie ihre (Groß-)Eltern. Einbürgerung ist zwar möglich, aber der Weg zu ihr ist strikt reguliert, so dass es für die gerade erst angekommenen Flüchtlinge häufig einfacher ist, die Staatsbürgerschaft zuerlangen, als für bereits im Lande geborene Nachkommen von Arbeitsimmigranten. Flüchtlinge, die aus der Mittelschicht ihrer Herkunftsländer kommen, können überdies eher Sprachkompetenzen und eine gute Ausbildung vorweisen, um zu belegen, dass keine Abhängigkeit von sozialen Zuwendungen besteht. Außerdem können sie häufig eher ein "Zugehörigkeitgefühl" zum neuen Land entwickeln.
Viele Angehörige der muslimischen Eliten identifizieren sich mit einer "neuen Linie" in der europäischen Politik gegenüber den hier lebenden Muslimen. Als ich fragte, worin der Unterschied zu vorhergehenden Leitlinien bestehe, wurde sie als Fokus auf nationaler Politik, als neues Hauptgewicht auf einer muslimischen Einheit ungeachtet von ethnischen und religiösen Unterschieden sowie als Professionalismus und als ein "Mit-den-Regeln-des-nationalen-Diskurses-Spielen" beschrieben. Die neuen muslimischen Vereinigungen arbeiten meist in der Landessprache - Dänisch, Holländisch, Deutsch - anstatt in den Sprachen des Ursprungslandes, wie es in den alten Migrantenorganisationen üblich war.
Die theoretischen Konzepte, die in den vergangenen Jahren in den Sozialwissenschaften verwendet wurden, um die soziale und politische Orientierung von Immigranten zu beschreiben, haben sich auf die Erosion der nationsspezifischen Verflechtungen und der Identitätsbildung konzentriert, die mit einem transnationalen ökonomischen und familialen Netz verbunden wird. "Diasporische Gemeinschaften", bricolage und "Hybridität", "postnationale" Staatsbürgerschaft und "transnationaler öffentlicher Raum" sind einige der Konzepte, die von Forschern entwickelt wurden, um zu beschreiben, was sie als neue Wirklichkeit eines einstellungsbedingten Globalismus ansehen.
Muslimische Aktivisten sehen es nicht gerne, wenn ihre Bemühungen, den Islam in Europa zu verankern, als Beispiele "kulturellen Hybridismus" bezeichnet werden. Es ist vielen Muslimen wichtig geworden, die europäischen Bestandteile ihrer Religion zu unterstreichen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Konzepte einer "transnationalen Identitätsbildung" oder "diasporischer Identitäten" sind wenig sinnvoll bei Mitgliedern der nationalen Parteien und der Stadträte, die politischen Mainstream-Organisationen beigetreten sind und beschlossen haben, sich an der Innenpolitik zu beteiligen. Selbst wenn es das Ziel ist, die Außenpolitik zu verändern, z.B. hinsichtlich des Israel-Palästina-Konfliktes, sind die dafür notwendigen Mittel vom nationalen Umfeld abhängig. Nicht zuletzt lädt die an sich fremdenfeindliche Vorstellung, nach der es nicht möglich sei, gleichzeitig europäisch und muslimisch zu sein, geradezu zur Demonstration der Fähigkeit ein, dass es sehr wohl möglich ist, beides zu verbinden. Die integrativen Ziele der muslimischen Parlamentarier, der Stadträte und der nationalen und lokalen bürgerlichen Eliten untergraben nicht nur traditionelle linke Positionen über eine globale Staatsbürgerschaft und transnationale Identitäten. Auch konservative Annahmen darüber, wer Europas muslimische Führer sind und was sie wünschen, werden dadurch entkräftet.
Fouad Ajami (Johns Hopkins University) hat dagegen ein düsteres Bild vom Hervortreten der muslimischen Bevölkerung in Europa gezeichnet. Seiner Ansicht nach sind Europas neue muslimische Gruppen nur Feigenblätter für islamistische Extremisten, die der Muslimbruderschaft oder anderen verbotenen Organisationen angehören. Die Radikalen, die aus der muslimischen Welt ausgestoßen wurden, hätten in Europa wegen einer humanitären Politik eine neue Heimat und Asyl gefunden. Angetrieben durch das Wachstum der muslimischen Bevölkerung haben die islamistischen Radikalen seiner Meinung nach an Macht gewonnen und beeinflussen nun die europäischen Regierungen. Die Anwesenheit einer politisch aktiven muslimischen Bevölkerung in Europa erweitere außerdem den Riss zwischen Europa und den USA in der Nahostpolitik, und für Ajami scheint es so, dass die Radikalen hier den Erfolg ernten, den sie in der arabischen Welt nie hatten.
Auch der britische Historiker Niall Ferguson hat die muslimische Bevölkerungszunahme in Europa als Ursprung der sich vergrößernden Kluft zwischen den USA und Europa gedeutet.
Glaube und politische Ideologie
Fouad Ajami hat sicher Recht: Europas neue muslimische Eliten bilden sich häufig aus Flüchtlingen aus der islamischen Welt. Doch er liegt falsch in der Deutung der politischen Implikationen. Viele dieser Flüchtlinge drücken Meinungen und Werte aus, die durch einen bestimmten politischen Hintergrund geformt wurden. Manchmal handelt es sich tatsächlich um muslimische Radikale; aber die meisten mussten aus ihrer Heimat fliehen, weil sie als Dissidenten an Demokratiebewegungen teilgenommen hatten. Wenn diese Muslime in Europa einen Diskurs über Menschenrechte führen, schöpfen sie aus ihren persönlichen Erfahrungen. Ihre Aktivitäten sind teilweise eine Fortsetzung der vorhergehenden politischen Arbeit. Menschenrechte dienen dabei als primäres politisches Bezugssystem, zum Teil, weil das alte Links-rechtsschema, das Europa über Jahrhunderte politisch strukturiert hat, für Immigranten und ihre Nachkommen kaum anwendbar ist. Ein Mitglied des dänischen Parlaments, das dort eine linke Partei vertritt, urteilte: "Diese Leute denken nicht wie wir über die Geschichten der Parteien und den Wert von Programmen."
Es wird allgemein angenommen, dass aktiv religiöse Menschen eher zu konservativen politischen Ansichten neigen. Für viele Muslime in Europa trifft das nicht zu (vgl. die Tabelle der PDF-Version). Die meisten Befragten gaben an, dass der Islam für ihr persönliches Leben bedeutend sei: Vier von fünf sagten, dass ihnen ihr Glaube "sehr wichtig" oder "wichtig" sei. Über die Hälfte bezeichnete sich als "stark Gläubige". Innerhalb dieser Gruppe sagten etwa ein Drittel der Befragten, dass sie sich politisch eher zur Linken zugehörig fühlten, und zwei Drittel verorteten sich in der Mitte des politischen Spektrums. Innerhalb der muslimischen Elite gab es nur sehr wenige Vertreter, die offen sagten, dass sie eine rechts-konservative Politik unterstützten und stark religiös seien. Die Hälfte der Agnostiker waren auf der linken, die andere Hälfte in der Mitte bzw. auf der rechten Seite des politischen Spektrums zu finden, aber durchschnittlich nur einer von drei Befragten räumte ein, dass ihm der Islam "nicht wichtig" sei.
In manchen Fällen liegt in der Verpflichtung gegenüber dem Islam eine Antwort auf wahrgenommene Vorurteile in den europäischen Gesellschaften, und es lässt sich nachweisen, dass dies sowohl auf unparteiische wie auf Eliten innerhalb der linken politischen Parteien zutrifft. Zwei Frauen türkischen Ursprungs, die wichtige Positionen in der schwedischen und niederländischen sozialdemokratischen Partei innehaben, drückten identische Gefühle wachsender Ungeduld und verspäteter Selbstentdeckung aus: "Wenn ich sie über 'diese Leute' sprechen höre - Muslime sind gemeint -, fühle ich mich, als ob ich aufstehen müsste und sagen sollte ,Hallo, ich bin eine von ihnen'", sagte die eine von beiden. Als ich der anderen mein Gespräch mit einigen linken Feministinnen in ihrer Partei schilderte, die mit der Idee spielten, einen Gesetzentwurf zum Verbot des Kopftuches einzubringen, sah sie mich fragend an und sagte: "Ich habe nie viel über den Islam nachgedacht, er war einfach etwas, was wir praktizierten. Aber meine Mutter trägt das Kopftuch, und ich sehe keinen Grund darin, ihr einzureden, sich schlecht damit zu fühlen."
Wenn wir die ideologische Selbstverortung der muslimischen Eliten mit der überkommenen Links-rechts-Topographie abgleichen, ist der Grad an Nichtübereinstimmung auffällig. Muslime, die christdemokratischen Parteien angehören - eine überraschend hohe Zahl -, beschreiben sich im Allgemeinen als Anhänger der politischen Mitte anstatt, wie, man annehmen könnte, als "rechts". Und einige der Befragten, die sich ebenfalls als Anhänger der Mitte beschrieben, gehörten linken Parteien an, etwa der dänischen und schwedischen sozialdemokratischen Partei, der britischen Labour Party oder den Grünen in Frankreich und Deutschland.
Die wachsende Ablehnung von Immigranten im Allgemeinen und Muslimen im Besonderen in vielen Linksparteien ist eine mögliche Ursache für diesen Widerspruch. Die dänischen Sozialdemokraten und insbesondere die französischen Sozialisten haben den Schutz nationaler Werte und Gewohnheiten gegen eine drohende "islamische Aufweichung" betont. In der Folge sind viele Muslime in Frankreich und Deutschland zu den Grünen abgewandert. In Dänemark sind sie anderen kleinen Parteien in der Mitte oder auf dem linken Flügel beigetreten. In Großbritannien haben die Liberaldemokraten von der Lossagung der Muslime von Labour profitiert. Entsprechend einer Umfrage des Marktforschungsinstituts ICM im Auftrag des "Guardian" im März 2004, ein Jahr nach Beginn des Irakkrieges, fiel der Anteil der Stimmen für Labour bei den muslimischen Wählern um die Hälfte, von 75 Prozent bei der Unterhauswahl 2001 auf nur noch 38 Prozent. Unterdessen hat sich Labours Position offenbar noch weiter verschlechtert.
Parteibindungen sind nicht in Stein gemeißelt. Ein religiöser, konservativer Leiter einer umstrittenen deutschen Vereinigung von Moscheen zögerte, als ich ihn fragte, mit welcher Partei Muslime wie er künftig wohl am besten zusammenarbeiten könnten. "Viele sagen, mit den Grünen", meinte er, "aber ich bin nicht so sicher. Vermutlich sind die Christdemokraten geeigneter." Sein Zögern war verständlich, da er und seine Vereinigung gerade einen weiteren Ausbruch aus den Reihen der Christdemokraten über "abendländische" Wurzeln und "christliche" Werte registriert hatten.
Die religiöseren Eliten neigen dazu, sich als Anhänger der Mitte zu beschreiben, weil viele muslimische Führer, und besonders Einzelpersonen, die mit muslimischen Vereinigungen oder Moscheegruppen verbunden sind, ein Unbehagen gegenüber den großen politischen Parteien empfinden. Das Übergewicht von Anhängern der politischen Mitte kann dabei die strategische Entscheidung von Seiten der nationalen muslimischen Bürgervereinigungen reflektieren, zu verhindern, wie selbstverständlich mit den Sozialdemokraten identifiziert zu werden, die traditionellauf Stimmen von Einwanderern zählen konnten.
Das Vorurteil, dass aktiv Gläubige eher konservativ veranlagt sind, muss hinterfragt werden, denn nur einer von fünf Befragten sagte offen, dass er die politische Rechte unterstütze. Es scheint so, dass Muslime, die eigentlich dazu neigen würden, konservative Parteien zu unterstützen, sich dort nicht willkommen fühlen. Ein junger deutscher muslimischer Christdemokrat erklärte mir, dass er nicht wieder kandidieren werde (er war in ein Regionalparlament gewählt worden), und dass er und seine Freunde innerhalb der CDU davon Abstand nehmen würden, ihre Idee umzusetzen, ein Treffen von muslimischen Mitgliedern aller großen Parteien zu organisieren. "Wo ist der Sinn?", fragte er: "Sie nennen uns Islamisten, wenn wir so etwas tun."
In der europäischen Geschichte hat praktizierter Glaube die Menschen im Allgemeinen auf die politische Rechte gezogen, während die Linke stets entschlossen antiklerikal gewesen ist. Französische Muslime (und nichtmuslimische Akademiker) beklagten sich indes bitter über die Intoleranz der Sozialisten gegenüber dem religiösen Bekenntnis und erwähnten, dass sie "an der heiligen Grundregel des Laizismus" festhalten müssten, um Erfolg in der Partei zu haben.
Religiös, nicht fundamentalistisch
Muslime, die öffentliche Ämter im europäischen politischen System bekleiden, sind keine religiösen Fundamentalisten. Sie bestehen nicht darauf, den Koran wörtlich zu nehmen, und sie wollen auch kein europäisches Kalifat errichten. Die meisten Angehörigen von Europas neuer muslimischer politischer Elite haben mit Theologie wenig im Sinn. "Die meisten von uns sind Ingenieure oder Geschäftsleute", so ein deutscher Muslim, Christdemokrat und Vorsitzender einer interreligiösen Organisation. "Wie kann ich mit einem Pastor oder einem Theologieprofessor über Deutungen des Koran diskutieren?" Er erklärte, wie sich seine Ansichten über den Koran und den Islam geändert hatten, als er an interreligösen Workshops teilnahm, und er wünschte sich, dass es ausgebildete Gelehrte gäbe, die den Islam in solchen Debatten besser vertreten könnten.
Eine Mehrheit der muslimischen Elite betrachtet den Islam als sehr wichtig für ihr persönliches Leben, aber wenn sie ihre politischen Werte beschreiben, heben sie die Menschenrechte hervor und Vorstellungen wie Respekt, Anerkennung und Parität. Diese sind weit von jenem Radikalismus entfernt, der oft mit islamistischen Revolutionären verbunden wird. Auf die Frage, was ihrer Meinung nach getan werden müsste, um den Islam in Europa zu integrieren, antworteten viele der Befragten übereinstimmend, dass die engen Verbindungen zu den islamischen Staaten gekappt und Wege gefunden werden müssten, um Imame an europäischen Universitäten auszubilden und die Rechtslage der Glaubensgemeinschaften entsprechend den nationalen Gesetzen zu normalisieren. Hingegen gibt es widersprüchliche Ansichten darüber, wie weit man die Gleichheit mit den christlichen Kirchen vorantreiben sollte. Viele betonten ihren Widerstand gegenüber einer "Christianisierung" des Islam, wie sie es formulierten, und argumentierten, dass die Regierungen besser "Hilfe zur Selbsthilfe" zur Verfügung stellen sollten. Andere argumentierten geradewegs für die völlige rechtliche und institutionelle Gleichstellung: "Was für den Pastor gilt, gilt auch für den Imam", sagte ein dänischer Stadtrat.
Viele der in dieser Studie Befragten klagen darüber, dass sie sich durch das breite Misstrauen ihren Motiven gegenüber in den europäischen Bevölkerungen beleidigt fühlten und dass sie es leid seien, ständig ihre Bereitwilligkeit zu beteuern, den Islam reformieren zu wollen, damit er mit westlichen demokratischen Werten kompatibel ist. Aus ihrer Sicht haben sich die Medien und die Extremisten gemeinsam gegen den Islam verschworen. Andere beklagen sich darüber, dass die Repräsentanten der nationalen muslimischen Vereinigungen "Fundamentalisten" seien und dass man sich viel entschiedener von den Konservativen absetzen müsse, indem man liberale Versionen des Islam unterstütze.
Der neue politische Aktivismus von Muslimen in Europa leitet sich von zwei unabhängigen, aber aufeinander einwirkenden Faktoren ab: der verspäteten, aber kollektiven Erkenntnis seitens der europäischen Muslime, dass sie "hier sind, um hier zu bleiben", und den gleichermaßen verspäteten Bemühungen seitens der Regierungen, den Muslimen mit politischen Maßnahmen entgegenzukommen. Regierungstätigkeit stimuliert ironischerweise den muslimischen Aktivismus, aber meistens misslingen Versuche seitens der Regierungen, Möglichkeiten für die muslimischeSelbstrepräsentation zur Verfügung zu stellen.