Einleitung
Die dauerhafte Präsenz von Muslimen in Westeuropa ist ein relativ junges Phänomen. War die erste Generation von Migrantinnen und Migranten vor einigen Jahrzehnten noch im Gefolge des Zusammenbruchs der Kolonialreiche oder als so genannte Gastarbeiter gekommen, so hat sich das Bild heute grundlegend gewandelt. Neben einer wachsenden Zahl von europäischen Neumuslimen sind es vor allem die Nachkommen in der dritten oder gar vierten Generation, die dazu beigetragen haben. Die Vorstellung, der Aufenthalt von Muslimen sei nur temporärer Natur, ist mithin obsolet.
Es ist daher nur konsequent, dass im Zuge dessen in den vergangenen Jahren auch auf Seiten der Muslime eine intensive Debatte über muslimische Identität im Westen in Gang gekommen ist. Dabei handelt es sich um eine Diskussion ohne geschichtliches Vorbild, denn für das klassische islamische Recht stellte sich die Frage nicht. Es war nicht vorgesehen, dass Muslime auf Dauer in einem nichtmuslimischen Land lebten; im Falle einer Eroberung muslimischen Territoriums durch Nichtmuslime hatten die Muslime, jedenfalls nach mehrheitlicher Meinung muslimischer Juristen, in den Herrschaftsbereich des Islams auszuwandern.
Dass eine solche Vorstellung keine Diskussionsgrundlage für das 21. Jahrhundert mehr sein kann, steht außer Frage. Es geht in der Debatte daher auch weniger um die Frage, ob es für Muslime möglich ist, in Europa zu leben. Zwar existieren Splittergruppen und Extremisten, die das - häufig selbst hier lebend - kategorisch verneinen und vollständige Abschottung predigen.
Das Problem wird dadurch zusätzlich kompliziert, dass es in der Hauptsache nicht um christlich-muslimische Beziehungen geht. Religion ist in Europa weitgehend säkularisiert und privatisiert, öffentliche Manifestationen erschöpfen sich zumeist im Symbolischen. Wie also kann eine stärker religiös definierte Weltsicht mit einer säkularen Umgebung in Übereinstimmung gebracht werden? Für zahllose Missverständnisse in der wechselseitigen Wahrnehmung spielt dieser Umstand eine wichtige Rolle. Kontroversen wie die, ob Muslimen das Schächten gestattet werden dürfe oder ob muslimische Lehrerinnen oder Schülerinnen das Kopftuch tragen dürfen, wurden in etlichen europäischen Ländern vor Gericht ausgetragen und sind nach wie vor in der Öffentlichkeit stark umstritten.
Ein Fatwa-Rat für Europa
Unter den Muslimen fehlt es nicht an Wortmeldungen zum Thema, und nicht immer stammen sie von denen, die seit langem in Europa leben. Institutionen und einzelne Gelehrte aus den islamischen Kernländern versuchen, auf die Diskussion Einfluss zu nehmen. Das ist nichts Neues, denn die Islamische Weltliga ist bereits seit ihrer Gründung 1962 auf diesem Gebiet im Westen sehr aktiv.
Der zurzeit vermutlich bekannteste Wortführer auf diesem Gebiet ist Yusuf al-Qaradawi, einer der einflussreichsten Theologen des zeitgenössischen Islams und eine Galionsfigur des modernen Islamismus, der auch im Internet präsent ist. Vor beinahe dreißig Jahren schrieb er ein schmales, aber vielbeachtetes Buch über die Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft.
Auf europäischer Ebene bemüht sich seit einigen Jahren der Europäische Fatwa-Rat (Majlis Uruba li-l-ifta' wa-l-buhuth) um eine institutionalisierte Anwendung dieses Minderheitenrechts. Das 1997 gegründete Gremium, dessen Präsident Qaradawi ist, hat seinen Sitz in Dublin und besteht gemäß seiner Webseite aus 32 Mitgliedern, von denen 20 aus verschiedenen europäischen Ländern kommen.
Auf seiner Webseite widmet der Fatwa-Rat den verstorbenen saudischen Muftis Ibn Baz und Muhammad al-'Uthaimin sowie deren klassischen Vorbildern Ibn Taimiya und Ibn Qayyim al-Jauziya große Aufmerksamkeit. Auch wenn das wahhabitische Regime in Saudi-Arabien offiziell nicht in Erscheinung tritt, zeigt sich darin doch die konservative Grundhaltung dieses Gremiums.
Für einen laizistischen Islam?
Auf der anderen Seite des Spektrums steht der in vielerlei Hinsicht radikalste Versuch seitens eines "offiziellen" Vertreters von Muslimen in Europa, Islam und Säkularismus zusammenzubringen. Er stammt von Soheib Bencheikh, dem Mufti von Marseille. Der 1961 in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda geborene Spross einer algerischen Gelehrtenfamilie studierte an der Azhar-Universität in Kairo und an der Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris und ist mit beiden Gesellschaften vertraut. 1998 publizierte er ein Buch mit dem provokanten Titel "Marianne et le Prophète", in dem er nichts weniger fordert, als laizistisches Denken zum Eckpfeiler nicht nur des europäischen Islams zu machen. Es gehe, so Bencheikh, nicht um blinde Nachahmung westlicher Strukturen oder Lebensformen, sondern um eine Reform des Islams im Lichte der Erfordernisse der französischen Gesellschaft. Sein erklärtes Ziel ist die "harmonische Integration des Islams, und die Suche nach der Vereinbarkeit seiner ursprünglichen Botschaft mit der wohlverstandenen und klar definierten französischen laïcité".
Für Bencheikh ist Laizismus weder der Übergang zu einer rein rationalen und positivistischen Metaphysik noch der Kampf des Staates gegen alles Religiöse. Vielmehr sieht er als das Wesen des Laizismus die positive Neutralität des Staates den Gläubigen gegenüber sowie die juristische Garantie freier Glaubensentfaltung. Eben deshalb müsse dieses Konzept auch Muslimen offenstehen, da es Pluralismus fördere, totalitären Tendenzen entgegenwirke und insofern auch eine Schutzvorrichtung für den Islam darstelle, ihn beispielsweise gegen den saudischen Archaismus schütze.
Nirgends wird sein Bildersturm deutlicher als in der in Frankreich besonders heiklen Frage des Kopftuchs. Zwar sei dieses vom Koran vorgeschrieben, dennoch handle es sich nicht um ein religiöses Symbol, da der Islam jede Symbolik ablehne. Im Falle eines Konflikts zwischen einem Kleidungsstück und den Erfordernissen des Laizismus hätten grundsätzlich die Letzteren zu obsiegen. Schließlich gebe es angemessenere Formen, die moralische Integrität von Frauen zu bewahren: "Heute ist der Schleier der Muslimin in Frankreich die laizistische, freie und obligatorische Schule."
Bencheikhs Anliegen geht über diese unmittelbaren Streitfragen hinaus. Auffallend hart geht er mit dem Erscheinungsbild der islamischen Theologie ins Gericht, die er für dringend reformbedürftig hält.
Bencheikh weiß selbst, dass ein derart elitäres Ansinnen keine Chance hat, verwirklicht zu werden. Vorbehalte existieren nicht nur auf dem Gebiet des christlich-islamischen Dialogs,
Ein umstrittener Enkel
Soheib Bencheikhs Buch wurde nach seiner Veröffentlichung kontrovers diskutiert, scheint aber in der Zwischenzeit, ebenso wie sein Verfasser, in den Hintergrund geraten zu sein. Das wird man von einem anderen, um ein Jahr jüngeren Wortführer des europäischen Islams kaum sagen können: Tariq Ramadan. Die öffentliche Meinung ist tief gespalten über die Frage, ob er, der Enkel Hasan al-Bannas, des Gründers der Muslimbruderschaft in Ägypten, als ehrlicher Makler für die Sache der Muslime anzusehen ist - oder als Wolf im Schafspelz. Im Herbst 2003 sorgte sein Auftritt beim Europäischen Sozialforum in Paris für erhebliches Aufsehen, nachdem er einen Artikel veröffentlicht hatte, in dem er bekannte französische Intellektuelle auf eine Art und Weise kritisierte, die ihm den Vorwurf des Antisemitismus eintrug.
Das Buch, mit dem Ramadan als Wortführer des europäischen Islams von sich reden machte, ist sein 1999 erschienenes "To Be a European Muslim", das mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist. Auf den ersten Blick scheint sich sein Anliegen nicht allzusehr von dem Bencheikhs zu unterscheiden, denn auch Ramadan spricht von einer europäischen Identität des Islams, von einer islamischen Konzeption der Moderne und von der Notwendigkeit, den Islam im Universum der europäischen Kultur zu verankern.
Ramadans Entwurf einer Modernisierung des Islams im europäischen Kontext ist ganz auf das islamische Recht konzentriert - und genau hier werden auch Widersprüche und Brüche in seiner Argumentation sichtbar. Einerseits plädiert er dafür, ein europäisches islamisches Recht und eine islamische Konzeption der Moderne zu entwickeln und einzelne historische Augenblicke nicht mit dem Wesen der Religion gleichzusetzen.
Der Koran und das normative Vorbild des Propheten bilden den verbindlichen Rahmen für jede Handlung eines Muslims. In seinem Bestreben, das islamische Recht als flexibel und anpassungsfähig darzustellen, weist Ramadan wiederholt die dichotomische Einteilung menschlichen Verhaltens in "erlaubt" und "verboten" (halal und haram) zurück. Zugleich lässt er jedoch keinen Zweifel daran aufkommen, dass jedes Handeln eines Muslims am islamischen Recht zu messen sei und den von den klassischen Juristen dafür festgelegten Regeln entsprechen müsse.
Ungeachtet seiner Beteuerung, zum ursprünglichen Islam zurückkehren und den Formalismus späterer Generationen überwinden zu wollen, zieht Ramadan einige dieser traditionellen Dispute nachgeborener Rechtsgelehrter zur Beweisführung heran, so etwa in der Frage nach der Rolle der Frau in der Gesellschaft: Die Interpretation Abu Hanifas, der Frauen den Besuch der Moschee erlaubte und ihre Zustimmung zu ihrer Verheiratung forderte, entspreche heutigen Bedürfnissen mehr als die Schafi'is, Ibn Hanbals oder anderer, deren Sicht dem sozialen Kontext geschuldet gewesen sei.
In der Frage, wie das nichtmuslimische Europa juristisch korrekt zu bezeichnen sei, versucht Ramadan eine Neubestimmung. Die Kategorisierung der Welt in das "Haus des Islams" (dar al-islam) und das "Haus des Krieges" (dar al-harb) im klassischen islamischen Recht sei untauglich geworden, und auch die später erfolgte Definition bestimmter Teile der nichtmuslimischen Welt als "Haus des Vertrags" (dar al-'ahd), mit dem Ziel, die prinzipielle Unmöglichkeit, in einer nichtmuslimischen Umgebung zu leben, zu umgehen, sei im heutigen Europa sinnlos. Stattdessen plädiert er für dar al-da'wa oder dar al-schahada.
An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Ramadan und Bencheikh am deutlichsten. Für Tariq Ramadan steht der Laizismus überhaupt nicht zur Debatte, weshalb das Wort auch kaum je auf den Seiten seines Buches auftaucht. Unter Bezugnahme auf Papst Johannes Paul II. nennt Ramadan den Laizismus einen "Schirm, hinter dem sich in Wirklichkeit Atheismus und Irreligiosität verbergen"
Ein islamisches Grundgesetz?
Die Situation in Frankreich, wo der Staat den Religionsgemeinschaften mit einem nahezu kompromisslosen Laizismus begegnet, mag einzigartig in Europa sein.
Ein Beispiel dafür ist die seit Jahren intensiv geführte Debatte über muslimischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland. Da der Religionsunterricht als einziges Schulfach vom Grundgesetz geregelt wird (Art. 7,3 und 141), hat diese Frage notwendigerweise auch Auswirkungen auf die in Deutschland lebenden Muslime - und auf deren Haltung gegenüber dem in dieser Frage gar nicht so säkularen Staat.
Die Charta entstand erkennbar unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 und sollte nicht zuletzt positiv auf die öffentliche Meinung einwirken. Zugleich jedoch lässt sie, nolens volens und zwischen den Zeilen, einige der Schwierigkeiten erkennen, die dem muslimisch-westlichen Verhältnis innewohnen.
Die Mehrdeutigkeit der Wortwahl setzt sich, jenseits theologischer Spekulation, auch bei Fragen fort, die direkt mit der Integration des Islams in westlichen Gesellschaften zu tun haben. Artikel 13 besagt, dass "zwischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung (...) kein Widerspruch" bestehe - was die Frage nach Rechten aufwirft, die jenseits dieses wie auch immer zu definierenden Kernbestands lägen. Artikel 14 wiederum bejaht den "vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus" - der freilich auf Christen und Juden beschränkt ist, und auch das nur unter bestimmten Voraussetzungen (Koran 9/29). Und schließlich heißt es in Artikel 6 mit Blick auf die Rolle von Mann und Frau, diese hätten "die gleiche Lebensaufgabe", nämlich "Gott zu erkennen, Ihm zu dienen und Seinen Geboten zu folgen" - was nicht notwendigerweise gleiche Rechte einschließt.
Selbst diese moderate Form einer Loyalitätsbekundung ging jedoch einigen Mitgliedern des Zentralrats zu weit. Die deutlichste Kritik kam vom Ahmad von Denffer vom Islamischen Zentrum in München, das ideologisch den Muslimbrüdern nahe steht. Er wandte sich vehement gegen die in der Charta geäußerten Beteuerung, man ziele "nicht auf Herstellung eines klerikalen 'Gottesstaates' ab" (Art. 12). Von Denffer nannte das einen Versuch, die westliche Öffentlichkeit zu täuschen, denn "an der Forderung des Korans, danach zu streben, dass nach Allahs Wort zu entscheiden ist (Koran 5:44 - 50 u.a.), kann kein Zweifel bestehen". Im Endeffekt habe der Zentralrat mit dieser Charta nur "in eigenem Namen" gehandelt und "das Gesamtinteresse der Muslime in Deutschland außer Acht gelassen".
Etablierung von Autorität
An diesen wenigen Beispielen wird deutlich, wie groß die Spannweite der Meinungen europäischer Muslime zum Verhältnis zwischen dem Ideal islamischer Religion und der Lebenswirklichkeit in säkularisierter Umgebung ist. Bencheikhs Plädoyer für eine Übernahme des Laizismus ist sicherlich die Ausnahme - die umso bemerkenswerter ist, als sie aus der Feder eines Muftis stammt. Sehr viel häufiger ist das Bemühen, vermeintliche oder eindeutige Prinzipien des Islams so zu definieren, dass sie mit dem Leben in der säkularen Gesellschaft kompatibel werden. Ramadans Kritik an den Überliefererketten der Musikgegner macht einerseits Musikhören überhaupt möglich. Andererseits vermag er damit an einem Werkzeug traditioneller islamischer Rechtsfindung festzuhalten.
Dahinter scheint aber noch etwas anderes auf. Fast alle Stellungnahmen muslimischer Intellektueller, Gelehrter und Organisationen zum Thema Islam in Europa sind gleichzeitig auch eine Positionierung im Ringen um theologische und juristische Autorität. Das trifft auf den Mufti von Marseille und den Schweizer Intellektuellen ebenso zu wie auf die deutsche Dachorganisation. Der Islam wird oft beschrieben als Religion, bei der der Gläubige ohne Priester oder Kirche unmittelbar vor Gott stehe, und je nach Standpunkt des Betrachters ist das positiv oder negativ gemeint. Eine solche Charakterisierung ist allerdings unscharf, denn ohne Kontrolleure, die die Einhaltung der Normativität überwachen, ist selbstverständlich auch der Islam nicht ausgekommen. Es ist daher wohl zutreffender, von einer Proliferation von Autorität zusprechen.
In den islamischen Kernländern haben sich in einem langen und unabgeschlossenen Prozess Autoritäten herausgebildet, deren Urteile weithin als maßgeblich anerkannt werden. Beispiele dafür sind etwa die sunnitische Azhar-Universität in Kairo oder die schiitischen Religionsgelehrten in Qom (Iran) oder Nadschaf (Irak). In Europa steht diese Entwicklung erst am Anfang. Die Institutionalisierung ist noch nicht weit fortgeschritten, und der Europäische Fatwa-Rat oder der unlängst in London gegründete International Council of Muslim Clerics
Entsprechend groß ist die Konkurrenz, und wenn Tariq Ramadan in seinem jüngsten Buch der Entwicklung eines Minderheitenrechts eine deutliche Absage erteilt und sich dabei sogar vorsichtig von Yusuf al-Qaradawi distanziert,
Hinzu kommt, dass im Internetzeitalter die Gläubigen mehr denn je einer Vielzahl von miteinander konkurrierenden Autoritäten ausgesetzt sind. Elektronische Fatwas sowie Weblogs und Chatrooms werden auf die weitere Entwicklung muslimischer Identität in einer säkularen Umgebung tief greifende und gegenwärtig noch unabsehbare Auswirkungen haben. Im weltweiten "religiösen Supermarkt" ist auch der Islam dabei, sich in Europa (neu) zu definieren.