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Die Einbürgerung des Islams – Essay | Muslime in Europa | bpb.de

Muslime in Europa Editorial Die Einbürgerung des Islams – Essay Zwischen Laizismus und Scharia: Muslime in Europa Europas neue muslimische Elite Der Islam in deutschen Medien

Die Einbürgerung des Islams – Essay

Emanuel Richter

/ 12 Minuten zu lesen

Die Nationalstaaten in Europa pflegen die Fiktion einer homogenen nationalen Kultur. Die Migration seit 40 Jahren belehrt sie darüber, dass alle Gesellschaften mit Verschiedenartigkeit umzugehen haben.

Einleitung

Die Nationalstaaten in Europa zehren seit Mitte des 17. Jahrhunderts von der Fiktion, dass sich in ihnen Gesellschaft, Territorium und Staatsgewalt harmonisch und homogen zusammenfügen. Seit dem Westfälischen Frieden hat sich ein beharrliches Selbstbild der westlichen Europäer festgesetzt: Die Bürger sind durch ihre kulturelle Zusammengehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft verbunden, und die Grenzen des Territorialstaats entsprechen den ethnischen Scheidelinien benachbarter Völker. Karl W. Deutsch hat diese Vorstellung einmal ironisch zugespitzt: "Eine Nation ist ein Volk in Besitz eines Staates."

Der Traum von der nationalen Einheit ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Dieses Land hat über lange historische Zeiträume hinweg um seine Konturen als Nationalstaat gerungen und gilt im Vergleich zu europäischen Nachbarländern bis heute als "verspätete Nation" - verspätet übrigens auch in Hinblick auf die demokratische Legitimation ihrer wechselhaften politischen Gestalt. Allen nationalen Sehnsüchten, Mythen und Visionen im westeuropäischen Raum bleibt jedoch nüchtern entgegenzuhalten: Die Gesellschaften, die in den modernen Territorialstaaten in Europa zusammenleben, sind keine homogenen Gebilde. Die Völker waren immer schon vielgliedriger und disparater, als es die Idee der nationalen Einheit suggeriert. Die Bürgerinnen und Bürger der Staaten Europas bleiben in Hinblick auf ihren rechtlichen und sozialen Status, auf ihre politische und kulturelle Identität, auf ihre ethnische und religiöse Zugehörigkeit verschiedenartig. Diesen Befund gilt es, als Einsicht von historischer Tragweite zu akzeptieren - in Europa, und besonders in Deutschland.

Freilich lässt sich eine wechselhafte Dynamik im Hinblick auf den Zusammenhalt der nationalen Gesellschaften erkennen. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts breitet sich eine Welle wachsender sozialer und kultureller Heterogenität in den europäischen Nationalstaaten aus, die in eine weltweite Bewegung eingebettet ist: Das Stichwort lautet Migration. Verursacht von verschärften weltwirtschaftlichen Verteilungskämpfen, aber auch von vielen anderen Faktoren, strömen Arbeitssuchende und Flüchtlinge in die Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre. Es ist gar die Rede von einer "neuen Völkerwanderung". Die eingesessenen Bürgerinnen und Bürger der europäischen Nationalstaaten erleben diese "Völkerwanderung" als kollektive Erschütterung ihres bisherigen Zusammenhalts. Die alten, geschönten Selbstbilder von nationaler Homogenität zerbröckeln, neue tragfähige Identitäten sind nicht in Sicht. Die Aussicht, man könnte ein "Einwanderungsland" werden oder gar schon eines sein, führt zu angstvoller Realitätsverleugnung oder zu panischen Abwehrreaktionen. Die Indizien sind scheinheilige Platitüden über den nationalen Zusammenhalt und plumpe Reflexe einer verschärften Fremdenfeindlichkeit.

Weil Religionen im Allgemeinen und die monotheistischen Glaubenssysteme im Besonderen viel zur gesellschaftlichen Integration beitragen, machen sich die Ressentiments gegenüber der wachsenden Migration vor allem am religiösen Bekenntnis derjenigen fest, die in die vermeintlich fest gefügten nationalen Gesellschaften vordringen. Viele der hinzugekommenen ausländischen Staatsbürger, der Arbeitssuchenden, Asylbewerber oder Flüchtlinge stammen aus muslimisch bestimmten Kulturen. Deshalb wird der Islam zur weltanschaulichen und vor allem kulturellen Herausforderung der christlich geprägten "Nationen" stilisiert - wobei das in Europa noch immer marginalisierte Judentum zwischen alle Fronten gerät und sich einem beschämenden Antisemitismus von beiden Seiten ausgesetzt sieht. Der Antagonismus zwischen Christentum und Islam spült alte Überlieferungen und kollektive Traumata von kriegerisch ausgetragenen Glaubenskämpfen in Europa ins öffentliche Bewusstsein - symbolisiert im historischen Menetekel der "Türken vor Wien".

Der kulturelle Glaubensgegensatz wird angestachelt durch eine Reihe von fatalen Entwicklungen und globalen Verkettungen. Ein islamistischer Fundamentalismus, der den Kulturkampf gegen die dekadente christliche - und kapitalistische - Welt ausgerufen hat, gewinnt in vielen Regionen an Bedeutung; der transnational agierende Terrorismus bauscht die Glaubensgegensätze zu kriegerischen Frontlinien auf; politisch und kulturell motivierte Morde - wie der spektakuläre "Ritualmord" an Theo van Gogh in den Niederlanden im November vergangenen Jahres - bekunden die Bereitschaft zum schrankenlosen religiösen Fanatismus.

Diese fatalen Rahmenbedingungen heizen umgekehrt pauschale Ressentiments gegenüber andersgläubigen Migranten im eigenen Land bis zur offenen Ausgrenzung oder gar zum Ruf nach Vertreibung an. Das Bekenntnis zum Islam wird zum "Ausschlusskriterium" gesellschaftlicher Integration - und spiegelt sich übrigens in den fast unüberwindlichen Hürden für die Türkei wider, den Anschluss an das als "christlich" deklarierte System der supranationalen europäischen Kooperation zu erlangen. Verfolgungswahn breitet sich auf beiden Seiten aus. Ein so harmloses Identitätsmerkmal wie der symbolische Ausdruck, den man einer Kopfbedeckung verleiht, spitzt sich in einem Anfall von Hysterie in vielen europäischen Gesellschaften zum skurrilen Symbol eines erbitterten Glaubensstreits zu. Deutlich zeichnet sich die Tendenz ab: Die Integration von Muslimen in die europäischen Gesellschaften scheint zu misslingen.

"Parallelgesellschaften" und "Leitkultur"

Die europäischen Gesellschaften reagieren auf die kulturellen und politischen Herausforderungen reflexartig mit verschärftem Anpassungsdruck. In Deutschland ist warnend von "Parallelgesellschaften", fordernd von "Leitkultur" die Rede. Die beschworene Bedrohung durch muslimische "Parallelgesellschaften" ist völlig übertrieben, weil der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung in Deutschland gerade drei Prozent beträgt. Die Größenverhältnisse entsprechen in keiner Weise dem suggestiven Bild von gleichrangigen "Parallelen". Um den Erklärungswert der vielfach reklamierten "Leitkultur" steht es nicht besser. In völlig unkritischer Selbstgewissheit wird eine Homogenität kultureller Merkmale veranschlagt, die angeblich inhaltsfeste Integrationsnormen liefern und klare Vorgaben für eine erfolgreiche Assimilation bereithalten.

Diese "Leitkultur" entpuppt sich bei näherem Hinsehen als unglaubwürdige Suggestion eines vorhandenen, ausgefeilten Katalogs an Verhaltensregeln, der einem von der angemessenen, an die Gepflogenheiten des "Gastlandes" angepassten Form der Religionsausübung über die Vorschriften der in der fremden Kultur üblichen Zubereitung von Speisen bis hin zur allgemein verbindlichen Kleiderordnung detaillierte Maßregeln zum Konformismus an die Hand geben soll. Dass es diese "Leitkultur" nicht gibt, ist die eine Einsicht; dass sie dennoch eine wichtige instrumentelle Funktion übernimmt, ist die andere. Das Ziel der Gastgeber scheint die Identitätsverleugnung der Zuwanderer zu sein und der Zwang zu einem derart tiefen Eintauchen in die "Kultur" des Einwanderungslandes, dass man bis zur eigenen Unkenntlichkeit in der fremden Lebensform versinkt - Assimilation ohne Rückstände.

Bedenkliche Übergänge von provokativen tagespolitischen Floskeln zum denunziatorischen Umgang mit Modellen gesellschaftlicher Integration werden dort erkennbar, wo hämisch das Scheitern der "multikulturellen Gesellschaft" verkündet wird. Ein solcher Grabgesang ist nicht mehr nur Ausdruck gereizter politischer Launenhaftigkeit, er ist das Symptom einer pseudowissenschaftlichen Integrationsverweigerung und einer infamen Missdeutung von Identitätskonzepten. Die proklamierte Beendigung des "multikulturellen Experiments" dient der pauschalen Diffamierung jener gesellschaftlichen Modelle und politischen Bewegungen, die sich seit langem an der Realisierung eines friedlichen kulturellen Miteinanders versuchen. Angesichts der angeheizten politischen Stimmungslage wird es nicht gelingen, gegen die polemische Simplifizierung des "Multikulturalismus" anzugehen. Aber man kann an dieser Stelle mit rationalen Argumenten gegen die Verballhornung eines plausiblen Modells von kultureller Koexistenz intervenieren. Ich will mit einigen Hinweisen und Erläuterungen Vorstöße zu einer solchen Richtigstellung unternehmen.

Der Begriff der "Multikulturalität" ist nichtlediglich ein abgeschmacktes politisches Schlagwort. Er verbindet sich vielmehr mit einem durchdachten Konzept von kultureller Identität und politischer Koexistenz. Die meisten Hilfen zu seinem Verständnis erfahren wir von Sozialwissenschaftlern aus jenen Ländern und Regionen, in denen die Einwanderung und die Koexistenz unterschiedlicher Gruppenzusammengehörigkeiten seit langem ein vertrautes Phänomen darstellen. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib hat einige der gängigen Theorien des Multikulturalismus zu einer überzeugenden Synthese zusammengeführt, die den in dieser Hinsicht unerfahrenen Gesellschaften in Westeuropa weiterhelfen kann und das Potenzial hat, einer apodiktischen Disqualifizierung entgegenzuwirken. Das, was wir im Alltagsverständnis unter der "Kultur" einer Gesellschaft zusammenfassen, nämlich Traditionen, Werte, eingespielte Handlungsmuster und Verhaltensnormen, ist keineswegs ein unveränderlicher kollektiver Besitzstand. Insofern ist auch die Eigenart einer Kultur gegenüber einer anderen kein festgefügtes, aller Wandlung enthobenes Merkmal, das bestandsfähige Unterscheidungskriterien an die Hand gibt. Kultur ist vielmehr die Praxis einer kollektiven Einübung von Handlungsmustern und die kontinuierlich revidierte Verständigung über die Kohärenzmerkmale eines Kollektivs - Kultur ist konstruktivistisch. Kollektive Identität wird immer wieder neu geschaffen. Das gilt für kleine ethnische Gruppierungen, für nationale Kulturen, für Glaubensgemeinschaften. Kultur ist der einem ständigen Wandel unterliegende kollektive Umgang mit Traditionen, Bräuchen, Riten, Symbolen und Normen. Kulturelle Konturen bleiben daher weich und wechselhaft.

Republikanisches Ethos

Was die Inklusionsmerkmale der einen Kultur sind und welche Kriterien des Ausschlusses es gegenüber einer anderen geben kann, sollte dementsprechend ein Produkt der Verständigung aller sein, die sich gezielt oder zufällig zu einer kollektiven Lebensform zusammenfinden. Die Verständigung darüber, welches die exklusiven kulturellen Merkmale sein sollen, muss unter dem Dach einer Besinnung auf das republikanische Ethos des Zusammenlebens stattfinden: Wer betreibt mit wem in welchem Rahmen die kollektive Lebensbewältigung?

Aus dieser Selbstvergewisserung geht die Bestimmung jener Gemeinschaft hervor, in der die Individuen kooperieren, in der sie die Räume und Grenzen ihrer Interaktion bestimmen, auf deren Basis sie die Merkmale politischer Kohärenz festlegen und Kriterien für die Zugehörigkeit oder für den Ausschluss formulieren. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat diese Form der kollektiven Selbstfindung auf der Basis von gegenseitigem Respekt als "prozedurale Republik" bezeichnet. Die Kultur erwächst aus einer Praxis der Begegnung, die in der Demokratietheorie "Deliberation" genannt wird: Alle diejenigen, die in eine öffentliche Interaktion miteinander eintreten und von einem gemeinsamen Regelungsbedarf betroffen sind, müssen die größtmöglichen Chancen erhalten, ihre Standpunkte einzubringen, im Austausch untereinander die gegenläufigen Interessen und Überzeugungen abzuwägen und durch die offene und öffentliche Beratung einen politischen Konsens zu erarbeiten. Benhabib zählt drei kulturrelevante Kernbestandteile eines solchen demokratischen Verfahrens auf: die wechselseitige Gleichheit der Beratungspartner, die nicht an den Rang kultureller Identitäten gebunden ist; das Recht der "Selbstzuordnung", das einem die Möglichkeit des völlig freien Umgangs mit den unfreiwillig erworbenen Kulturmerkmalen (z.B. ethnische Herkunft, Religionszugehörigkeit) eröffnet; die individuelle Freiheit der Annahme oder Verweigerung von kulturellen Gruppenbindungen.

Wer diese republikanischen Einsichten ernst nimmt, ist darum bemüht, sich der ständigen Wandlungen von Interaktionskontexten und der Rahmenordnungen des politischen Kollektivs immer wieder neu zu versichern. Für die Kohärenz einer "Kultur" bedeutet das: Alle Individuen und Gruppen, die von außen friedlich und freiwillig mit der bisher als "eigenständiger" Kulturraum verstandenen Interaktionsgemeinschaft in Berührung kommen, sind an diesem Prozess der permanenten kulturellen Selbstfindung zu beteiligen. Das ist nicht nur ein Gebot des partizipativen Gehalts im republikanischen Ethos, sondern auch das sicherste Mittel, die erforderliche Integration zu erreichen. Der integrative Kulturdialog verringert die Gefühle und Ressentiments der Fremdheit auf Seiten der Kulturträger wie der Kulturaspiranten und hilft, aktive wie passive Ausgrenzung zu vermeiden. In diesem Prozess der öffentlichen Konstituierung von kultureller Identität lassen sich auch die Reflexe der Abwehr gegen das Fremde entlarven und ihre Auflösung in die Wege leiten. So lassen sich Sonderbedürfnisse von ethnischen Minderheiten oder Glaubensgemeinschaften kritisch debattieren und im Verfahren der Deliberation daraufhin prüfen, ob ihre Befriedigung gewährt oder verwehrt werden soll und kann. Es lassen sich Regeln für eine pluralistische Koexistenz eigensinniger Gruppierungen unter dem Dach eines nationalen - oder regionalen, vielleicht auch transnationalen - Zusammenhalts erarbeiten.

Wenn der fragwürdige Begriff der "Leitkultur" irgendeinen ernsthaften Sinngehalt haben könnte, dann allenfalls den der allgemeinen "Anleitung" zur kommunikativen und deliberativen Praxis, in der erst die Regeln der kulturellen Koexistenz und die Inklusions- wie Exklusionsmerkmale erarbeitet werden. Eine derartige Leitkultur wäre inhaltsoffen und nur dort beschränkt, wo die Normen des Rechtsstaats missachtet werden - die ja ihrerseits als das Ergebnis einer ideellen oder sogar faktischen "Beratung" der betroffenen Bürgerinnen und Bürger betrachtet werden sollten. In republikanischem Verständnis kann die Selbstfindung einer Kultur also nicht mit der prinzipiellen Verweigerung von Teilnahme einhergehen. Ebenso wenig ergibt die rigide Norm der zwanghaften Anpassungsbereitschaft aller Fremden einen Sinn.

Nur im Lichte dieses republikanischen Ethos entfaltet der Begriff der "Multikulturalität" Plausibilität. Multikulturalität meint nicht die berührungslose Koexistenz von in sich geschlossenen Kulturkreisen, die sich in gegenseitiger Ignoranz tolerieren. Sie bezeichnet vielmehr den Prozess eines Diskurses unter gruppenspezifischen Interaktionspartnern, der zur beständigen Revision und gegebenenfalls zur Neuordnung von kulturellen Gruppenzugehörigkeiten führt. Multikulturalität wird zum veränderlichen Aggregatzustand der öffentlichen Debatte über die Formen und Regeln der kulturellen Koexistenz.

Öffnung zum Kulturdiskurs

Dieses Konzept von Multikulturalität lässt sich produktiv in die gegenwärtigen Konfliktlagen einspeisen. Muslime, die frauenfeindliche Dogmen predigen und für diese geschlechtsspezifische Verwehrung des Kulturdialogs Akzeptanz erwarten, verfehlen den multikulturellen Sinngehalt - und verletzen obendrein Rechtsnormen, die mit gutem Grund als Rahmenordnungen von kultureller Selbstfindung fungieren. Alle europäischen Verfassungen garantieren die freie Religionsausübung, aber eben auch die Wahrung menschlicher Würde unabhängig vom Glaubensbekenntnis - also für Frau und Mann, im Islam wie im Christentum. Doch auch Christen verfehlen die multikulturellen Koexistenzregeln, wenn sie einer Glaubensgemeinschaft wie dem Islam pauschal soviel Eigensinnigkeit und Radikalität unterstellen, dass sie von christlicher Seite aus keine Dialogbereitschaft aufbringen müssen.

Kultur lebt nicht von der Ausgrenzung, sondern von der Öffnung zum Diskurs. Wenn aus dem Vorderen Orient nach Westeuropa eingewanderte Muslime aufgrund ihrer sozialen Stellung oftmals keine Übung im kulturellen Debattieren mitbringen, muss man sie ihnen vermitteln. Artikulationsfähigkeit in der öffentlichen Beratung ist die Voraussetzung seitens der Beteiligten wie seitens der Institutionen, in denen der Kulturdialog stattfinden soll. Die eigene Stimme erlangt man natürlich zunächst durch Sprachkompetenz. Darauf weisen Politiker aller Couleur in allen Sprachgemeinschaften hin. Die Eingewanderten müssen die Landessprache erlernen, um an den Diskursen teilnehmen zu können.

Aber die notwendige Öffnung zum Diskurs reicht viel tiefer. Es geht um eine allgemeine Ermächtigung zur Artikulation seitens der integrierenden Kollektive. Auf dieses Erfordernis zielte die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck, als sie dazu aufrief, "den Islam einzubürgern" und dazu 20 Handlungsvorschläge vorlegte. Es geht ihr konsequent zunächst um einen über die christliche Glaubensgemeinschaft hinweg geöffneten Kulturdiskurs, nämlich um eine "Politik der Anerkennung, die den Islam als gleichberechtigte Religion akzeptiert und Muslime rechtlich und politisch integriert". Muslime müssen als Teilnehmer des kollektiven Lebens in den westeuropäischen Nationalstaaten endlich zu Dialogpartnern eines erweiterten kulturellen Selbstverständnisses aufrücken. Diese nachholende Profilierung des Islams als Element der westeuropäischen Kultur hält Beck keineswegs davon ab, gleichzeitig für ein entschlossenes Vorgehen gegen "islamistische Bestrebungen" zu plädieren, die sich ihrerseits der diskursiven Konturierung von Kultur verweigern. Sie plädiert dafür, die "streitbare Auseinandersetzung mit allen religiös oder kulturell begründeten Vorstellungen von Ungleichheit und Unfreiheit in Teilen der muslimischen Bevölkerung und ihrer Organisationen" zu suchen. Auch die Verfehlung gegenüber dem kulturellen Konstruktivismus kann nur mittels einer deliberativen Auseinandersetzung überzeugend entlarvt und behoben werden. Der kulturelle Konstruktivismus fordert, dass im Rahmen des geltenden Rechts alle Fragen nach den tragenden Elementen des kulturellen Zusammenhalts erhoben werden dürfen, auch die nach bisher sakrosankten Formeln für Gruppenzugehörigkeiten - wie die Inhalte des Glaubens und die kollektive Ausübung des Glaubens.

Die gegenwärtigen öffentlichen Auseinandersetzungen in vielen west- und neuerdings auch osteuropäischen Staaten vermitteln noch nicht den Eindruck, als seien sie von dieser Einsicht in die Prinzipien kollektiver, dialogisch angelegter Selbstfindung geprägt. Man kann sie daher allenfalls vorübergehend als angstvolle Reflexe hinnehmen, die aus eigener Unsicherheit mit Ressentiments gegen Fremde reagieren. Solche Reflexe müssen jedoch unverzüglich durch eine intensive Einbindung in die Debatte über veränderte Werte, über neue Bedingungen von kultureller Koexistenz und über die Rahmenbedingungen von Integration überwunden werden. Die Prophezeiung eines "Kampfes der Kulturen" jedenfalls wendet sich in destruktiver Überzeichnung gegen die prinzipielle Möglichkeit zur diskursiven Konstruktion von Kultur. Sie argumentiert affirmativ mit der unplausiblen Grundannahme, die kollektive Identitätsfindung brauche immer ein feindliches Gegenüber - das antagonistische "Andere".

Kulturelle Selbstfindung in republikanischem Verständnis geht vom genauen Gegenteil dieser Grundannahme aus: Sie lagert die produktive Begegnung mit dem Anderen der kulturellen Grenzziehung vor. Der dramatische Ausblick auf neue, religiös unterfütterte Kulturkämpfe ist daher entweder ein demagogischer Aufruf zur Verweigerung gegenüber diesem diskursiven Kulturverständnis, oder er stellt die phantasielose Unterschätzung jenes Potenzials zur friedfertigen Begegnung dar, das in dem Möglichkeitshorizont von kollektiver Interaktion und kultureller Selbstfindung immer schon angelegt ist - und das es erst noch auszuschöpfen gilt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl W. Deutsch, Nationenbildung - Nationalstaat - Integration, Düsseldorf 1972, S. 204.

  2. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt/M. 1982.

  3. Alf Mintzel, Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Konzepte, Streitfragen, Analysen, Befunde, Passau 1997, S. 95.

  4. Vgl. Mehmet Mihri Özdogan, Das rauschhafte Ende von Multikulti, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, (2005) 2, S. 6.

  5. Vgl. Seyla Benhabib, The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Global Era, Princeton-Oxford 2002. Vgl. auch die durch das Buch ausgelöste Kontroverse: David Peritz, Toward a Deliberative and Democratic Response to Multicultural Politics: Post-Rawlsian Reflections on Benhabib's The Claims of Culture, in: Constellations, 11 (2004) 2, S. 266 - 290; sowie Seyla Benhabib, On Culture, Public Reason, and Deliberation: Response to Pensky and Peritz, ebd., S. 290 - 299.

  6. Vgl. Emanuel Richter, Republikanische Politik. Demokratische Öffentlichkeit und politische Moralität, Reinbek 2004.

  7. Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 41.

  8. Vgl. S. Benhabib, The Claims (Anm. 5), S. 19f.

  9. Marieluise Beck, Den Islam einbürgern, Presseerklärung vom 26.1. 2005.

  10. So etwa Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996, S. 20f.

Dr. phil., geb. 1953; Professor für "Politische Systeme" am Institut für Politische Wissenschaft der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen. Ahornstraße 55, 52074 Aachen.
E-Mail: E-Mail Link: erichter@ipw.rwth-aachen.de