Einleitung
Die Nationalstaaten in Europa zehren seit Mitte des 17. Jahrhunderts von der Fiktion, dass sich in ihnen Gesellschaft, Territorium und Staatsgewalt harmonisch und homogen zusammenfügen. Seit dem Westfälischen Frieden hat sich ein beharrliches Selbstbild der westlichen Europäer festgesetzt: Die Bürger sind durch ihre kulturelle Zusammengehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft verbunden, und die Grenzen des Territorialstaats entsprechen den ethnischen Scheidelinien benachbarter Völker. Karl W. Deutsch hat diese Vorstellung einmal ironisch zugespitzt: "Eine Nation ist ein Volk in Besitz eines Staates."
Der Traum von der nationalen Einheit ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Dieses Land hat über lange historische Zeiträume hinweg um seine Konturen als Nationalstaat gerungen und gilt im Vergleich zu europäischen Nachbarländern bis heute als "verspätete Nation" - verspätet übrigens auch in Hinblick auf die demokratische Legitimation ihrer wechselhaften politischen Gestalt.
Freilich lässt sich eine wechselhafte Dynamik im Hinblick auf den Zusammenhalt der nationalen Gesellschaften erkennen. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts breitet sich eine Welle wachsender sozialer und kultureller Heterogenität in den europäischen Nationalstaaten aus, die in eine weltweite Bewegung eingebettet ist: Das Stichwort lautet Migration. Verursacht von verschärften weltwirtschaftlichen Verteilungskämpfen, aber auch von vielen anderen Faktoren, strömen Arbeitssuchende und Flüchtlinge in die Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre. Es ist gar die Rede von einer "neuen Völkerwanderung"
Weil Religionen im Allgemeinen und die monotheistischen Glaubenssysteme im Besonderen viel zur gesellschaftlichen Integration beitragen, machen sich die Ressentiments gegenüber der wachsenden Migration vor allem am religiösen Bekenntnis derjenigen fest, die in die vermeintlich fest gefügten nationalen Gesellschaften vordringen. Viele der hinzugekommenen ausländischen Staatsbürger, der Arbeitssuchenden, Asylbewerber oder Flüchtlinge stammen aus muslimisch bestimmten Kulturen. Deshalb wird der Islam zur weltanschaulichen und vor allem kulturellen Herausforderung der christlich geprägten "Nationen" stilisiert - wobei das in Europa noch immer marginalisierte Judentum zwischen alle Fronten gerät und sich einem beschämenden Antisemitismus von beiden Seiten ausgesetzt sieht. Der Antagonismus zwischen Christentum und Islam spült alte Überlieferungen und kollektive Traumata von kriegerisch ausgetragenen Glaubenskämpfen in Europa ins öffentliche Bewusstsein - symbolisiert im historischen Menetekel der "Türken vor Wien".
Der kulturelle Glaubensgegensatz wird angestachelt durch eine Reihe von fatalen Entwicklungen und globalen Verkettungen. Ein islamistischer Fundamentalismus, der den Kulturkampf gegen die dekadente christliche - und kapitalistische - Welt ausgerufen hat, gewinnt in vielen Regionen an Bedeutung; der transnational agierende Terrorismus bauscht die Glaubensgegensätze zu kriegerischen Frontlinien auf; politisch und kulturell motivierte Morde - wie der spektakuläre "Ritualmord" an Theo van Gogh in den Niederlanden im November vergangenen Jahres - bekunden die Bereitschaft zum schrankenlosen religiösen Fanatismus.
Diese fatalen Rahmenbedingungen heizen umgekehrt pauschale Ressentiments gegenüber andersgläubigen Migranten im eigenen Land bis zur offenen Ausgrenzung oder gar zum Ruf nach Vertreibung an.
"Parallelgesellschaften" und "Leitkultur"
Die europäischen Gesellschaften reagieren auf die kulturellen und politischen Herausforderungen reflexartig mit verschärftem Anpassungsdruck. In Deutschland ist warnend von "Parallelgesellschaften", fordernd von "Leitkultur" die Rede. Die beschworene Bedrohung durch muslimische "Parallelgesellschaften" ist völlig übertrieben, weil der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung in Deutschland gerade drei Prozent beträgt. Die Größenverhältnisse entsprechen in keiner Weise dem suggestiven Bild von gleichrangigen "Parallelen". Um den Erklärungswert der vielfach reklamierten "Leitkultur" steht es nicht besser. In völlig unkritischer Selbstgewissheit wird eine Homogenität kultureller Merkmale veranschlagt, die angeblich inhaltsfeste Integrationsnormen liefern und klare Vorgaben für eine erfolgreiche Assimilation bereithalten.
Diese "Leitkultur" entpuppt sich bei näherem Hinsehen als unglaubwürdige Suggestion eines vorhandenen, ausgefeilten Katalogs an Verhaltensregeln, der einem von der angemessenen, an die Gepflogenheiten des "Gastlandes" angepassten Form der Religionsausübung über die Vorschriften der in der fremden Kultur üblichen Zubereitung von Speisen bis hin zur allgemein verbindlichen Kleiderordnung detaillierte Maßregeln zum Konformismus an die Hand geben soll. Dass es diese "Leitkultur" nicht gibt, ist die eine Einsicht; dass sie dennoch eine wichtige instrumentelle Funktion übernimmt, ist die andere. Das Ziel der Gastgeber scheint die Identitätsverleugnung der Zuwanderer zu sein und der Zwang zu einem derart tiefen Eintauchen in die "Kultur" des Einwanderungslandes, dass man bis zur eigenen Unkenntlichkeit in der fremden Lebensform versinkt - Assimilation ohne Rückstände.
Bedenkliche Übergänge von provokativen tagespolitischen Floskeln zum denunziatorischen Umgang mit Modellen gesellschaftlicher Integration werden dort erkennbar, wo hämisch das Scheitern der "multikulturellen Gesellschaft" verkündet wird. Ein solcher Grabgesang ist nicht mehr nur Ausdruck gereizter politischer Launenhaftigkeit, er ist das Symptom einer pseudowissenschaftlichen Integrationsverweigerung und einer infamen Missdeutung von Identitätskonzepten. Die proklamierte Beendigung des "multikulturellen Experiments" dient der pauschalen Diffamierung jener gesellschaftlichen Modelle und politischen Bewegungen, die sich seit langem an der Realisierung eines friedlichen kulturellen Miteinanders versuchen. Angesichts der angeheizten politischen Stimmungslage wird es nicht gelingen, gegen die polemische Simplifizierung des "Multikulturalismus" anzugehen. Aber man kann an dieser Stelle mit rationalen Argumenten gegen die Verballhornung eines plausiblen Modells von kultureller Koexistenz intervenieren. Ich will mit einigen Hinweisen und Erläuterungen Vorstöße zu einer solchen Richtigstellung unternehmen.
Der Begriff der "Multikulturalität" ist nichtlediglich ein abgeschmacktes politisches Schlagwort. Er verbindet sich vielmehr mit einem durchdachten Konzept von kultureller Identität und politischer Koexistenz. Die meisten Hilfen zu seinem Verständnis erfahren wir von Sozialwissenschaftlern aus jenen Ländern und Regionen, in denen die Einwanderung und die Koexistenz unterschiedlicher Gruppenzusammengehörigkeiten seit langem ein vertrautes Phänomen darstellen. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib hat einige der gängigen Theorien des Multikulturalismus zu einer überzeugenden Synthese zusammengeführt, die den in dieser Hinsicht unerfahrenen Gesellschaften in Westeuropa weiterhelfen kann und das Potenzial hat, einer apodiktischen Disqualifizierung entgegenzuwirken.
Republikanisches Ethos
Was die Inklusionsmerkmale der einen Kultur sind und welche Kriterien des Ausschlusses es gegenüber einer anderen geben kann, sollte dementsprechend ein Produkt der Verständigung aller sein, die sich gezielt oder zufällig zu einer kollektiven Lebensform zusammenfinden. Die Verständigung darüber, welches die exklusiven kulturellen Merkmale sein sollen, muss unter dem Dach einer Besinnung auf das republikanische Ethos des Zusammenlebens stattfinden: Wer betreibt mit wem in welchem Rahmen die kollektive Lebensbewältigung?
Aus dieser Selbstvergewisserung geht die Bestimmung jener Gemeinschaft hervor, in der die Individuen kooperieren, in der sie die Räume und Grenzen ihrer Interaktion bestimmen, auf deren Basis sie die Merkmale politischer Kohärenz festlegen und Kriterien für die Zugehörigkeit oder für den Ausschluss formulieren.
Wer diese republikanischen Einsichten ernst nimmt, ist darum bemüht, sich der ständigen Wandlungen von Interaktionskontexten und der Rahmenordnungen des politischen Kollektivs immer wieder neu zu versichern. Für die Kohärenz einer "Kultur" bedeutet das: Alle Individuen und Gruppen, die von außen friedlich und freiwillig mit der bisher als "eigenständiger" Kulturraum verstandenen Interaktionsgemeinschaft in Berührung kommen, sind an diesem Prozess der permanenten kulturellen Selbstfindung zu beteiligen. Das ist nicht nur ein Gebot des partizipativen Gehalts im republikanischen Ethos, sondern auch das sicherste Mittel, die erforderliche Integration zu erreichen. Der integrative Kulturdialog verringert die Gefühle und Ressentiments der Fremdheit auf Seiten der Kulturträger wie der Kulturaspiranten und hilft, aktive wie passive Ausgrenzung zu vermeiden. In diesem Prozess der öffentlichen Konstituierung von kultureller Identität lassen sich auch die Reflexe der Abwehr gegen das Fremde entlarven und ihre Auflösung in die Wege leiten. So lassen sich Sonderbedürfnisse von ethnischen Minderheiten oder Glaubensgemeinschaften kritisch debattieren und im Verfahren der Deliberation daraufhin prüfen, ob ihre Befriedigung gewährt oder verwehrt werden soll und kann. Es lassen sich Regeln für eine pluralistische Koexistenz eigensinniger Gruppierungen unter dem Dach eines nationalen - oder regionalen, vielleicht auch transnationalen - Zusammenhalts erarbeiten.
Wenn der fragwürdige Begriff der "Leitkultur" irgendeinen ernsthaften Sinngehalt haben könnte, dann allenfalls den der allgemeinen "Anleitung" zur kommunikativen und deliberativen Praxis, in der erst die Regeln der kulturellen Koexistenz und die Inklusions- wie Exklusionsmerkmale erarbeitet werden. Eine derartige Leitkultur wäre inhaltsoffen und nur dort beschränkt, wo die Normen des Rechtsstaats missachtet werden - die ja ihrerseits als das Ergebnis einer ideellen oder sogar faktischen "Beratung" der betroffenen Bürgerinnen und Bürger betrachtet werden sollten. In republikanischem Verständnis kann die Selbstfindung einer Kultur also nicht mit der prinzipiellen Verweigerung von Teilnahme einhergehen. Ebenso wenig ergibt die rigide Norm der zwanghaften Anpassungsbereitschaft aller Fremden einen Sinn.
Nur im Lichte dieses republikanischen Ethos entfaltet der Begriff der "Multikulturalität" Plausibilität. Multikulturalität meint nicht die berührungslose Koexistenz von in sich geschlossenen Kulturkreisen, die sich in gegenseitiger Ignoranz tolerieren. Sie bezeichnet vielmehr den Prozess eines Diskurses unter gruppenspezifischen Interaktionspartnern, der zur beständigen Revision und gegebenenfalls zur Neuordnung von kulturellen Gruppenzugehörigkeiten führt. Multikulturalität wird zum veränderlichen Aggregatzustand der öffentlichen Debatte über die Formen und Regeln der kulturellen Koexistenz.
Öffnung zum Kulturdiskurs
Dieses Konzept von Multikulturalität lässt sich produktiv in die gegenwärtigen Konfliktlagen einspeisen. Muslime, die frauenfeindliche Dogmen predigen und für diese geschlechtsspezifische Verwehrung des Kulturdialogs Akzeptanz erwarten, verfehlen den multikulturellen Sinngehalt - und verletzen obendrein Rechtsnormen, die mit gutem Grund als Rahmenordnungen von kultureller Selbstfindung fungieren. Alle europäischen Verfassungen garantieren die freie Religionsausübung, aber eben auch die Wahrung menschlicher Würde unabhängig vom Glaubensbekenntnis - also für Frau und Mann, im Islam wie im Christentum. Doch auch Christen verfehlen die multikulturellen Koexistenzregeln, wenn sie einer Glaubensgemeinschaft wie dem Islam pauschal soviel Eigensinnigkeit und Radikalität unterstellen, dass sie von christlicher Seite aus keine Dialogbereitschaft aufbringen müssen.
Kultur lebt nicht von der Ausgrenzung, sondern von der Öffnung zum Diskurs. Wenn aus dem Vorderen Orient nach Westeuropa eingewanderte Muslime aufgrund ihrer sozialen Stellung oftmals keine Übung im kulturellen Debattieren mitbringen, muss man sie ihnen vermitteln. Artikulationsfähigkeit in der öffentlichen Beratung ist die Voraussetzung seitens der Beteiligten wie seitens der Institutionen, in denen der Kulturdialog stattfinden soll. Die eigene Stimme erlangt man natürlich zunächst durch Sprachkompetenz. Darauf weisen Politiker aller Couleur in allen Sprachgemeinschaften hin. Die Eingewanderten müssen die Landessprache erlernen, um an den Diskursen teilnehmen zu können.
Aber die notwendige Öffnung zum Diskurs reicht viel tiefer. Es geht um eine allgemeine Ermächtigung zur Artikulation seitens der integrierenden Kollektive. Auf dieses Erfordernis zielte die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck, als sie dazu aufrief, "den Islam einzubürgern" und dazu 20 Handlungsvorschläge vorlegte.
Die gegenwärtigen öffentlichen Auseinandersetzungen in vielen west- und neuerdings auch osteuropäischen Staaten vermitteln noch nicht den Eindruck, als seien sie von dieser Einsicht in die Prinzipien kollektiver, dialogisch angelegter Selbstfindung geprägt. Man kann sie daher allenfalls vorübergehend als angstvolle Reflexe hinnehmen, die aus eigener Unsicherheit mit Ressentiments gegen Fremde reagieren. Solche Reflexe müssen jedoch unverzüglich durch eine intensive Einbindung in die Debatte über veränderte Werte, über neue Bedingungen von kultureller Koexistenz und über die Rahmenbedingungen von Integration überwunden werden. Die Prophezeiung eines "Kampfes der Kulturen" jedenfalls wendet sich in destruktiver Überzeichnung gegen die prinzipielle Möglichkeit zur diskursiven Konstruktion von Kultur. Sie argumentiert affirmativ mit der unplausiblen Grundannahme, die kollektive Identitätsfindung brauche immer ein feindliches Gegenüber - das antagonistische "Andere".
Kulturelle Selbstfindung in republikanischem Verständnis geht vom genauen Gegenteil dieser Grundannahme aus: Sie lagert die produktive Begegnung mit dem Anderen der kulturellen Grenzziehung vor. Der dramatische Ausblick auf neue, religiös unterfütterte Kulturkämpfe ist daher entweder ein demagogischer Aufruf zur Verweigerung gegenüber diesem diskursiven Kulturverständnis, oder er stellt die phantasielose Unterschätzung jenes Potenzials zur friedfertigen Begegnung dar, das in dem Möglichkeitshorizont von kollektiver Interaktion und kultureller Selbstfindung immer schon angelegt ist - und das es erst noch auszuschöpfen gilt.