Einleitung
Wiederholt sind den Vereinten Nationen (VN) und ihren Friedenseinsätzen der Abstieg in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit prophezeit worden. Die schweren Rückschläge in Somalia, auf dem Balkan und der Völkermord in Ruanda 1994 sind unvergessen. Nach dem schnellen militärischen Sieg der USA über das Saddam-Regime, ein Krieg ohne die Zustimmung der VN, erreichte die Kritik ihren Höhepunkt.
Ein Blick zurück auf die tatsächliche Entwicklung der VN-Friedenseinsätze der letzten zwei Jahre zeigt jedoch etwas anderes. Die Einsätze erfuhren eine eindrucksvolle Bestätigung. Mit der Zustimmung der USA wurde das Sekretariat der Weltorganisation in New York mit der Planung und Durchführung einer Reihe von Einsätzen beauftragt: Liberia, Haiti, Burundi, Elfenbeinküste und kürzlich der Sudan. Insgesamt ist die Zahl der Einsätze damit auf 18 angestiegen - mit einer Zahl von knapp 80 000 Blauhelmen und mehreren Tausend internationalen Polizisten und zivilen Experten, wenn der Einsatz im Sudan seine volle Stärke erreicht hat.
Die USA dagegen mussten im Irak einsehen, dass erfolgreiche Kriegsführung mit massiver technischer Überlegenheit das Eine - die erfolgreiche Wiederherstellung des Friedens jedoch etwas Anderes ist. Und überraschenderweise kam kürzlich auch die "RAND Corporation" in zwei umfangreichen Studien zu dem Ergebnis, dass die VN mit ihren Friedenseinsätzen in acht untersuchten Fällen eindeutig erfolgreicher gewesen seien als die USA mit einer vergleichbaren Zahl.
Erfolg ungewiss - die laufenden Einsätze
Beide Studien können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die VN und ihre Friedenseinsätze gegenwärtig in großen Schwierigkeiten stecken. Im Kosovo zum Beispiel wurden die NATO und die VN seinerzeit mit Begeisterung empfangen. Inzwischen ist die Stimmung in offene Ablehnung umgeschlagen. Die Unruhen im März des letzten Jahres haben den Stimmungsumschwung schlagartig ans Tageslicht gebracht. Ein Grund ist der ungelöste politische Status des Gebiets. Die VN-Mission muss weiter auf der Basis eines Mandats operieren, das von über 90 Prozent der Bevölkerung in seiner Grundausrichtung nicht akzeptiert wird, obwohl die Lektion anderer Friedenseinsätze ist, dass Mandate, die von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mitgetragen werden, wenig Aussicht auf erfolgreiche Umsetzung haben. Das gilt zumal dann, wenn sich die wirtschaftlichen Perspektiven nicht verbessern, gerade was die Jugendlichen betrifft. Sie waren bei den Märzunruhen im Kosovo des letzten Jahres an vorderster Front.
In der Demokratischen Republik (DR) Kongo, dem früheren Zaire, stehen die Dinge noch schlechter. Das Land ist so groß wie Westeuropa, jedoch ohne funktionierende staatliche Strukturen. Sie erodierten unter der jahrzehntelangen Diktatur Mobutus. Warum die Mitglieder des Sicherheitsrates (SR) dennoch glaubten, dass ein Friedenseinsatz mit erst nur knapp 3 000 und inzwischen ca. 17 000 Blauhelmen erfolgreich sein könnte, bleibt unerklärlich. Kofi Annan hat sich gegen diesen viel zu kleinen Einsatz vehement gewehrt.
Die Liste der Einsätze, bei denen ein längerfristiger Erfolg der VN gegenwärtig nur schwer zu sehen ist, ist lang. Afghanistan ist weit entfernt von einer demokratischen, rechtsstaatlichen Stabilisierung. Ähnlich unsicher sind die Perspektiven in Haiti und Liberia. In beiden Ländern interveniert die internationale Gemeinschaft mit Hilfe der VN innerhalb von zehn Jahren bereits zum zweiten Mal in großem Maßstab. Auch in der Elfenbeinküste ist der Friedensprozess weiter sehr fragil. Verhandlungen in Südafrika haben jedoch kürzlich die Chance eröffnet, dass sich die Konfliktparteien doch noch auf Wahlen im Oktober dieses Jahres verständigen könnten. Der Westsahara-Konflikt dagegen bleibt weiterhin ungelöst, und in dem von vier Jahrzehnten Bürgerkrieg zerrütteten Sudan geht die VN-Mission einem ähnlich ungewissen Abenteuer entgegen wie im Kongo. Lediglich gut 10 000 Blauhelme, Polizisten und zivile Experten sollen in dem riesigen Land eingesetzt werden, unter ihnen deutsche Militärbeobachter und zivile Experten.
Gegenüber der Liste dieser Schwierigkeiten nehmen sich die zwei gegenwärtig in der Abschlussphase befindlichen Einsätze in Ost-Timor und Sierra Leone wie Ausnahmen von der Regel aus. Sie verlaufen erfolgreich. Auch in dem kleinen zentralafrikanischen Staat Burundi haben sich die Dinge nach der erfolgreichen Abhaltung eines Referendums Ende Februar ins Positive gewendet.
Zerfallende Staaten, Kriminalität und Völkermord
Die gegenwärtigen Schwierigkeiten der VN-Friedenseinsätze werden verständlich, wenn man die Ausgangslage betrachtet: Der Zerfall von Staaten und die Ausweitung sozio-ethnischer, bürgerkriegsähnlicher Konflikte sind nach dem Ende des Kalten Krieges zu einer fundamentalen Bedrohung des globalen Friedens und der Sicherheit in der Welt geworden. "Complex emergencies" oder "war-torn societies", wie diese Konflikte im angelsächsischen Raum treffend genannt werden, stürzen ganze Regionen in Chaos und Verderben. Der Balkan Anfang der neunziger Jahre mit dem zerfallenden Jugoslawien sowie Zentralafrika mit dem Völkermord in Ruanda und dem anschließenden Zusammenbruch des Kongo sind dafür ebenso dramatische Beispiele wie die Konflikte in Westafrika. Ob Teile des Mittleren Ostens und Zentralasiens einen ähnlichen Weg gehen werden, falls die Stabilisierung Afghanistans und des Iraks nicht gelingen sollten, bleibt abzuwarten.
Die "Flächenbrände" in den verschiedenen Regionen sind verbunden mit humanitären Katastrophen größten Ausmaßes. Die Dynamik der Gewalt der durch Staatszerfall bedingten Konflikte ist eine völlig andere als die bei zwischenstaatlichen Kriegen. In Somalia, Ruanda und Burundi, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Afghanistan, dem Sudan, der DR Kongo, Sierra Leone, Liberia, Haiti etc. haben Millionen von Menschen ihr Leben verloren. Eine noch größere Zahl wurde vertrieben oder musste flüchten. Es scheint, dass - zumindest quantitativ gesehen - nicht mehr die Verletzung der Menschenrechte durch diktatorische Staatsorgane im Vordergrund steht, sondern Gewalt und Willkür aufgrund des Zusammenbruchs des staatlichen Gewaltmonopols im Zuge des Staatsversagens. Völkermord ist wieder ein Faktum der internationalen Politik. Zugleich sind zerfallende Staaten zu einem Nährboden für organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus geworden.
Die Entwicklung des UN-Peacekeeping
Die internationale Gemeinschaft tat und tut sich schwer, dem Problem des Staatszerfalls und den daraus resultierenden regionalen Problemen Herr zu werden. Im ersten Schritt, ab Anfang der neunziger Jahre, versuchte sie es mit einem in den Zeiten des Kalten Krieges entstandenen Instrument, nämlich den Blauhelmen. Ihnen war schon 1988 kollektiv der Friedensnobelpreis verliehen worden. Die darauf folgenden erfolgreichen Einsätze erst in Namibia und Mittelamerika und dann in Kambodscha und Mosambik weckten größte Hoffnungen hinsichtlich der zukünftigen Rolle des Peacekeeping bei der Prävention und Lösung der "neuen" Konflikte. Diese Hoffnung war trügerisch. Die Rückschläge in Angola (1992), Somalia (1993) und in Ruanda (1994) sowie Bosnien-Herzegowina leiteten eine grundlegende Ernüchterung ein. Die VN und das Peacekeeping gerieten in Misskredit, obwohl weniger sie selbst als häufig der mangelnde politische Wille der internationalen Führungsmächte und der internationalen Gemeinschaft für die Fehlschläge verantwortlich war.
Das Scheitern der VN war zugleich aber auch Ausdruck grundlegender konzeptioneller Probleme. Das traditionelle Peacekeeping war vor allem für Kriege zwischen Staaten beziehungsweise zwischen klar definierbaren Konfliktparteien wie in Namibia entwickelt worden, nicht aber für im Zerfall befindliche Staaten und Gesellschaften. Bei innerstaatlichen Konflikten stellen sich die Fragen der Anwendung von militärischer Gewalt, von Konsens und Unparteilichkeit ebenso wie die Frage des Wiederaufbaus in einer völlig veränderten und weit komplizierteren Weise als bei zwischenstaatlichen Kriegen.
Die VN ebenso wie die internationale Friedens- und Konfliktforschung brauchten dennoch lange, um diese Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen. Zentrale Aufgabe der ersten Generation von Friedenseinsätzen war die Überwachung von Waffenstillständen bei zwischenstaatlichen Kriegen. Hierzu zählten beispielsweise die Einsätze im Sinai, in Zypern oder auf den Golanhöhen. Einverständnis der Konfliktparteien, Unparteilichkeit und Anwendung von Gewalt ausschließlich zur Selbstverteidigung waren und sind die grundlegenden Prinzipien dieser ersten Generation. Ihr Personal bestand fast ausschließlich aus Militär.
Ende der achtziger Jahre, parallel zum Ende des Ost-West-Konflikts, entwickelte sich eine zweite, durch Multidimensionalität der Aufgabenfelder gekennzeichnete Generation von Friedenseinsätzen. Im Gegensatz zur ersten Generation beschränkten sie sich nun nicht mehr nur auf das bloße Überwachen von Waffenstillständen. Beendigung der Konflikte durch Mechanismen der politischen, sozialen und ökonomischen Konfliktlösung kam als strategische Aufgabe hinzu. Die Einsätze wurden wesentlich dynamischer in ihrer Konfliktlösungsfähigkeit. Die Mehrheit der Einsätze der ersten Generation dauert bis heute an, während verschiedene der zweiten wie in Namibia, Zentralamerika, Kambodscha und Mosambik relativ schnell abgeschlossen werden konnten. Polizei (CIVPOL) und ziviles Personal wurden dabei wichtige Partner des Militärs. Zugleich wurden die Einsätze jedoch viel komplexer. Die Koordination der Vielzahl von Akteuren ist ein bis heute nicht gelöstes Problem.
Die Realität des gewaltsamen Staatsversagens oder Staatszerfalls brachte dann jedoch eine bittere Einsicht. In Somalia, dem früheren Jugoslawien, Liberia, Haiti, Ruanda und anderen Ländern bedeutete die feierliche Unterzeichnung von Friedens- oder Waffenstillstandsvereinbarungen keineswegs ein Ende der Gewalt. Hunderte von ihnen wurden gebrochen. Nationale, regionale und lokale Führer, Warlords und bewaffnete Gruppen sind in diese Gewalt verstrickt und schaffen eine Lage, die für die traditionellen, auf die persönliche Selbstverteidigung beschränkten Blauhelme nicht mehr zu bewältigen ist.
Die alte Doktrin der strikten Nichtanwendung von Gewalt außer im Falle der persönlichen Selbstverteidigung ließ sich nicht länger aufrechterhalten. In Somalia sah sich der VN-Sicherheitsrat gezwungen, die Friedenstruppen mit einem "robusten", auf Kapitel VII der VN-Charta basierenden Mandat auszustatten, das die begrenzte Anwendung von Gewalt erlaubt. Die dritte Generation der Friedenseinsätze, das sogenannte Robuste Peacekeeping war geboren. Zahlreiche weitere Mandate dieses Typs folgten.
Robuste, multidimensionale Friedenseinsätze sind zu definieren als Einsätze, in denen die traditionellen Prinzipien des Peacekeeping weiter gelten, bei dem darüber hinaus aber die Möglichkeit besteht, Gewalt im Sinne militärischer Zwangsmaßnahmen in begrenztem Umfang zur Verteidigung und Durchsetzung des Mandats gemäß der Charta anzuwenden. Wichtigste Aufgabe des Militärs ist es, für die nichtmilitärischen Akteure und ihre zivile Wiederaufbauarbeit ein sicheres Umfeld zu schaffen. Denn der Satz, dass Konflikte in der Regel nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden können, ist zwar richtig. Er bedarf aber der Ergänzung durch einen zweiten: Ohne ein sicheres Umfeld können die nichtmilitärischen Mittel, also das sogenannte Peacebuilding, nicht wirksam werden. Letzteres braucht zudem die volle Unterstützung der Konfliktparteien und der Bevölkerung. Konsens und Unparteilichkeit bleiben deswegen Schlüsselprinzipien. Die rechte Balance zwischen diesen beiden Prinzipien und einem gegebenenfalls robusten Vorgehen ist im Einzelfall äußerst schwierig und stellt höchste Ansprüche an das Führungs- und Einsatzpersonal. Zwischen den Risiken des Nichthandelns und der Gefahr einer unkontrollierten Eskalation ist abzuwägen.
Das robuste Peacekeeping hat sich inzwischen als die dominante Einsatzform moderner Friedenseinsätze durchgesetzt. Die Entwicklung der Friedenseinsätze ist jedoch nicht bei der dritten Generation stehen geblieben. Inzwischen kann man sogar von einer vierten Generation von Einsätzen sprechen, auch wenn diese Bezeichnung noch nicht in den Sprachgebrauch der VN eingegangen ist. Denn einige Einsätze der dritten Generation sind nicht nur robust und multidimensional, sondern wurden auch hinsichtlich der Übernahme politischer und administrativer Verantwortung um ein qualitativ völlig neues Element ergänzt, nämlich die ausdrückliche, interimistische Übernahme von "exekutiven" Aufgaben, also von Regierungsgewalt. In Ansätzen geschah das schon Anfang der neunziger Jahre in Kambodscha, umfassend dann später im Kosovo und in Ost-Timor sowie - hier allerdings nur mit Einschränkungen - in Bosnien und Herzegowina.
Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Ausweitung der internationalen Befugnisse nicht nur Rechte und Handlungsmöglichkeiten, sondern auch eine umfassende Verantwortungsübernahme für das betreffende Land bedeutet. Das zieht zwangsläufig einen wesentlich größeren Mitteleinsatz als bei nicht-exekutiven Einsätzen nach sich. Es ist deswegen kein Zufall, dass "exekutive Mandate" vom Sicherheitsrat bisher nur bei Ländern autorisiert wurden, die zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie sind vergleichsweise klein und liegen in für Groß- oder Mittelmächte strategisch wichtigen Regionen. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, wie im Kongo, in Sierra Leone und Liberia oder auch in Afghanistan, dann autorisiert der Sicherheitsrat keine exekutiven Mandate, auch wenn das von der Sache her - dem Ausmaß des Staatsversagens - durchaus geboten sein könnte.
Insgesamt lassen sich die robusten Friedenseinsätze, seien sie exekutiver oder nicht exekutiver Art, als eine Art militarisierte, den Gewaltbedingungen in zerfallenden Staaten gerecht werdende internationale Polizeieinsätze charakterisieren. Diese Charakterisierung steht im Einklang mit der Erkenntnis, dass im Zentrum der Problematik von zerfallenden oder fehlgeschlagenen Staaten ein extremer Verlust von öffentlicher Sicherheit und Ordnung steht. Diese müssen zumindest ansatzweise wiederhergestellt werden, bevor die zweite strategische Aufgabe moderner Friedenseinsätze in Angriff genommen werden kann - das Peacebuilding.
Peacebuilding
Das Konzept des "Post-Conflict Peacebuilding" nahm erstmals in der Agenda für den Frieden, die Generalsekretär Boutros Ghali 1992 veröffentlichte, einen prominenten Platz ein. Es wurde dann 1995 von Kofi Annan weiterentwickelt und von den VN in einer Reihe von Resolutionen in seiner grundlegenden Bedeutung ausdrücklich unterstützt. Erste Ziele des Peacebuilding sind die Verhinderung des Wiederauflebens der gewaltsamen Auseinandersetzungen und der Aufbau von Strukturen, die es einer Gesellschaft ermöglichen, Konflikte künftig ohne die Anwendung von Gewalt zu lösen. Trotz dieses konfliktpräventiven Elements sind die Ausgangspunkte von Konfliktprävention und Peacebuilding grundverschieden. Letzteres setzt im Unterschied zu Ersterem in Situationen an, in denen Krieg und Gewalt bereits stattgefunden haben, wo Traumata zu heilen, Minenfelder zu räumen, ehemalige Kämpfer zu entwaffnen und Tausende oder gar Millionen von Flüchtlingen zu reintegrieren sind.
Obwohl das Peacebuilding zweifellos ein strategisches Element gegenwärtiger Friedenseinsätze ist, gibt es dennoch bis jetzt keine operativ-praktisch verwendbare Definition, also eine alle Akteure verbindende Grundlage für eine wirklichkeitsnahe Planung und Durchführung. Die den VN nahe stehende International Peace Academy (IPA) in New York stellt kritisch fest: "Peacebuilding has become a catch concept ... It is indiscriminately used to refer to preventive diplomacy, preventive development, conflict prevention, conflict resolution and post-conflict reconstruction."
Aus der Schwierigkeit, eine allgemein verbindliche und für die praktische Arbeit ausreichend konkrete Definition des Peacebuilding zu finden, wird nur schwer ein Ausweg zu finden sein. Ein pragmatisches Vorgehen dürfte der einzige Ausweg sein, das heißt eine Operationalisierung des Begriffs anhand der Aufgabenfelder, die sich in der Praxis konkret als die wichtigsten Bereiche des Peacebuilding herauskristallisiert haben. Neben der kurzfristigen Nothilfe und dem längerfristigen wirtschaftlichen Wiederaufbau sind das vor allem die Rückführung und Reintegration von Flüchtlingen, Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der Kombattanten und anderer bewaffneter Gruppen, Aufbau ziviler Verwaltungs-, Regierungs- und Justizstrukturen auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit, Beachtung der Menschenrechte sowie Durchführung von Wahlen und weitere, für die längerfristige Demokratisierung, Stabilität und Aussöhnung wichtige Maßnahmen.
Kooperation und Kohärenz
Institutionell waren die VN auf den Umgang mit dem Peacebuilding schlecht eingerichtet. Dem Geiste der VN-Charta folgend hatte sich zwischen dem Sicherheitsrat und der Generalversammlung hinsichtlich der Friedenseinsätze eine relativ strikte Arbeitsteilung eingebürgert. Der Sicherheitsrat befasste sich in seinen Mandaten vor allem mit ihrem militärischen Teil, während das Peacebuilding im Wesentlichen Sache der Generalversammlung war. Entsprechend hatte sich auch die Arbeitsteilung im Sekretariat der VN entwickelt: Das militärische Peacekeeping fällt vor allem in die Zuständigkeit des Department for Peacekeeping Operations (DPKO), das Peacebuilding jedoch in die des Department for Political Affairs (DPA) und anderer Einrichtungen der VN.
Es liegt auf der Hand, dass diese Art der Aufgabenverteilung nicht förderlich für ein kohärentes Planen und Durchführen der Einsätze ist. Schrittweise wuchs im Sicherheitsrat daher die Bereitschaft, den veränderten Anforderungen Rechnung zu tragen. Strategische Elemente des Peacebuilding wurden in seine Mandate einbezogen. Schwerer dagegen tun sich nach wie vor das DPKO und das DPA in der Abgrenzung und Koordination ihrer Aufgaben. Die Zusammenlegung der beiden Abteilungen zugunsten einer stringenten Planung der Friedenseinsätze erschiene durchaus sinnvoll. Sie stößt jedoch unter anderem bei ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates auf wenig Gegenliebe. Die Leitung des DPKO ist zu einem "Erbhof" Frankreichs und die DPA zu einem Großbritanniens geworden. Basis der Bemühungen um eine kohärente Planung der Friedenseinsätze der VN müssen deswegen vorerst die schon im Brahimi Report vorgeschlagenen Integrated Mission Task Forces des UN-Sekretariats bleiben.
Local Ownership
In den Mandaten des Sicherheitsrates wird, quasi rituell, die Bedeutung von "local ownership" und "civil society" als oberste Gebote des Peacebuilding postuliert. In der Praxis stößt ihre Umsetzung jedoch auf größte Schwierigkeiten. Wer beansprucht "local ownership" und "civil society" in von Staatszerfall und Gewalt zerrütteten Gesellschaften? Sind es die nach westlichem Vorbild funktionierenden NROs, die dieses Ownership vertreten, obwohl sie in der Bevölkerung in der Regel keine signifikante Machtbasis haben? Sind es die traditionellen Führer, die durch Kolonialismus, jahrzehntelange Diktatur und Einparteienherrschaft und schließlich Bürgerkrieg häufig korrumpiert und vor allem um ihr eigenes Wohl besorgt sind? Oder sind es die Warlords und ihre Milizen, die sich zugleich als politische Bewegungen oder Rebellen gerieren und auf der Basis ihrer Waffen keinen Zweifel an ihrem Anspruch auf Ownership lassen?
Alle, die auf dem Balkan, in Afghanistan, in Westafrika oder dem Kongo als Militär, Polizist oder ziviler Experte eingesetzt waren, wissen, wie schwierig es ist, eine tragfähige und konkrete Antwort auf diese Frage zu geben. Die Zivilgesellschaft, die in den akademischen Studien, den Deklarationen der internationalen Akteure und vieler Politiker eine so zentrale Rolle spielt, ist vor Ort im Sinne eines handlungsfähigen Partners schwer auszumachen. Das ist, bei einigem Nachdenken, auch nicht verwunderlich. Denn tatsächlich befinden sich alle diese Länder und ihre Bevölkerung, sei es in Zentralasien, Afrika oder auf dem Balkan, in einem grundlegenden und äußerst konflikthaften Umwälzungsprozess. Der Begriff des "Staatsversagens" greift jedoch zu kurz. Mehr oder weniger alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind betroffen: Staat, Wirtschaft, Kultur, Religion und Familie.
Es ist nachvollziehbar, dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit von lokalen und internationalen Akteuren schwer zu organisieren ist. Dennoch ist sie von strategischer Bedeutung für den Erfolg von Friedenseinsätzen. Denn ohne diese Zusammenarbeit und die schrittweise, eigenverantwortliche Übernahme aller für ein demokratisches und friedliches Zusammenleben notwendigen staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben durch die lokale Bevölkerung kann dieser Erfolg nicht eintreten. Genau damit haben gegenwärtig jedoch die Einsätze auf dem Balkan, in Zentralasien, Haiti oder in Afrika große Schwierigkeiten. Zwangsläufig dehnt sich ihre Verweildauer immer mehr aus. Der anfangs erhoffte baldige Rückzug in ein, zwei oder drei Jahren verschiebt sich auf zehn, fünfzehn oder mehr Jahre. Gegenwärtig ist völlig ungewiss, wann die internationale Präsenz in den genannten Ländern und Regionen beendet werden kann.
Realistische Konzepte
Die Frage der verbesserten Zusammenarbeit mit den lokalen Akteuren und der Langfristigkeit der Einsätze verbindet sich mit einem dritten, ungelösten Problem: Sind die den Peacebuildern in den Mandaten vorgegebenen Konzepte realistisch? Rechtsstaatlichkeit, Good Governance, Gerechtigkeit und Versöhnung sowie die Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration aller bewaffneten Einheiten und Milizen sind zweifellos wichtige und zwischenzeitlich auch universal anerkannte Prinzipien. Ihr Inhalt orientiert sich jedoch weitgehend an der Wirklichkeit etablierter Demokratien in den Industriegesellschaften. Dort funktionieren sie nur aufgrund einer soliden wirtschaftlichen, institutionellen und bildungspolitischen Infuntertitelruktur.
Genau diese Bedingungen sind jedoch in den von Krieg und Staatszerfall zerrütteten Ländern mit zumeist noch sehr autoritär-traditionellen Clan- und Gemeinschaftsstrukturen nicht vorhanden. Entsprechend hilflos sind die internationalen Akteure bei der Umsetzung der in den Mandaten vorgeschriebenen hochfliegenden Konzepte. Einige der lokalen Akteure verstehen sich unter dem Stichwort organisierte Kriminalität bestens darauf, von der internationalen Präsenz zu profitieren. Sie wissen die traditionellen Clan- und Gemeinschaftsstrukturen ebenso wie die Fluidität globaler Markt- und Wirtschaftsstrukturen geschickt zu ihrem Vorteil zu nutzen - und finden dabei reichlich internationale Partner. Die organisierte Kriminalität ist inzwischen zu einem Haupthindernis für ein erfolgreiches Peacebuilding geworden.
Es ist also dringend geboten, die oben genannten Konzepte im Rahmen des Peacebuilding konzeptionell auf ein realistisches Maß zu reduzieren. Insbesondere müssen für die verschiedenen Bereiche sehr viel klarere, individuelle Phasenmodelle der Umsetzung im Hinblick auf eine genuine Beteiligung und Verantwortungsübernahme durch die lokalen Akteure erarbeitet werden. Die Einsätze in Ost-Timor und in Sierra Leone ebenso wie die internationale Präsenz in Bosnien und Herzegowina dürften insoweit interessantes Lehrmaterial bereithalten. Denn alle drei befinden sich in der Abbau- beziehungsweise Reduzierungsphase.
Regionalorganisationen an die Front?
Die VN sind heute ganz offensichtlich nicht mehr der einzige Akteur auf dem Gebiet der Friedenseinsätze. Der Kreis multilateraler Akteure hat sich erweitert. Das ist für die Zukunft der Friedenseinsätze eine wichtige Tatsache. Nur wenigen ist bekannt, dass es bereits seit der Gründung der Vereinten Nationen einen Abschnitt in ihrer Charta gibt, der sich mit der Rolle der regionalen Einrichtungen bei der Friedenssicherung befasst. Dieser Abschnitt, das sogenannte Kap. VIII, geriet in der Zeit des Kalten Krieges weitgehend in Vergessenheit, obwohl in ihm unter anderem gefordert wird, dass die UN-Mitgliedstaaten in erster Linie ihre regionalen Einrichtungen zur friedlichen Beilegung "örtlich begrenzter Streitigkeiten" nutzen sollen (Art. 52ff.).
In der Zeit des Kalten Krieges waren die regionalen Organisationen in Europa und Afrika mehr oder weniger paralysiert, in Asien praktisch nicht existent. Lediglich die OAS (Organisation der Amerikanischen Staaten) wurde vereinzelt aktiv. Diese Situation hat sich jedoch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gerade in Europa und Afrika grundlegend geändert. In Europa übernahm die OSZE eine wichtige Rolle bei der friedlichen und demokratischen Transformation der baltischen und osteuropäischen Staaten sowie auf dem Balkan und später im Kaukasus bis hin nach Zentralasien. Zahlreiche Kurz- und Langzeitmissionen wurden eingerichtet, die dem Typ nach allerdings sehr anders sind als die Einsätze der VN. Dynamik entwickelte dann die EU durch den Aufbau der ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik). Schneller als erwartet ersetzte sie erst die VN-Polizeimission in Bosnien und Herzegowina und dann die SFOR (Stabilisation Force) durch die "Operation Althea". In Mazedonien hat die ESVP sich ebenfalls erfolgreich engagiert, ebenso wie kurzfristig im Ost-Kongo mit der von Frankreich angeführten "Operation Artemis". Der nächste große Schritt wird die Übernahme der VN-Polizeimission und wohl auch der SFOR im Kosovo sein, geplant für 2006 oder 2007, nach einer besseren Klärung des politischen Status' des Kosovo. Und ganz aktuell wird in der EU auch über die Entsendung einer ca. 200 Kopf starken Friedenstruppe in die indonesische Krisenprovinz Aceh nachgedacht.
Erfolgt diese Übernahme, dann haben die VN - zumindest vorerst - ihre unmittelbare Rolle bei der Organisation und Durchführung von Friedenseinsätzen in Europa abgegeben. Ähnliches gilt dann mit Einschränkungen für die NATO, die in Bosnien und im Kosovo an zwei friedenssichernden Großeinsätzen in Europa beteiligt ist. Sie wird zunehmend frei für die Übernahme außereuropäischer, im Hinblick auf den Grad der Robustheit, Beweglichkeit und logistischen Absicherung besonders schwieriger Friedenseinsätze. Der Irak und Palästina könnten die nächsten Einsatzgebiete sein. In beiden Fällen wird wahrscheinlich ein Modell zur Anwendung kommen, das zuerst im Kosovo und dann in Afghanistan praktiziert wurde, nämlich ein paralleles Agieren der NATO im militärischen und der VN im Peacebuilding-Bereich.
In Afrika hat eine mit Europa durchaus vergleichbare dynamische Entwicklung regionaler Organisationen stattgefunden. Ähnlich wie bei der EU war es eine ursprünglich für die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Integration gegründete Einrichtung, ECOWAS (Economic Community of West African States), die einen enormen Sprung nach vorne gemacht hat. Getrieben von der Gefahr eines regionalen "Flächenbrandes" in Westafrika durch den Bürgerkrieg in Liberia Anfang der neunziger Jahre, verständigten sich die Staatsoberhäupter der Region nicht nur sehr schnell auf eine gemeinsame Friedenstruppe, sondern Ende der neunziger Jahre auch auf einen Mechanismus zur Prävention und Beendigung regionaler Konflikte. Er sucht weltweit seinesgleichen. Insbesondere wurde ein "Mediation and Security Council" eingerichtet. In diesen werden jeweils zehn der 15 Mitgliedstaaten gewählt, die wiederum - auf der Ebene der Regierungschefs - mit einer Zweidrittelmehrheit verbindlich das Vorgehen (einschließlich einer direkten militärischen Intervention) bei zwischenstaatlichen und internen Konflikten beschließen können. Das ist bereits in verschiedenen Fällen wie in Sierra Leone und der Elfenbeinküste erfolgt. Anders als der Sicherheitsrat der VN ist das ECOWAS-Gremium nicht durch ein Vetorecht behindert. Das macht es handlungsfähig. Die Europäer, deren regionale Einrichtungen natürlich über weit bessere Ressourcen als ECOWAS verfügen, können nur davon träumen, dass sich ihre Staatsoberhäupter für die ESVP auf ein ähnlich effektives Modell einigen.
Große Fortschritte haben schließlich zwei weitere afrikanische Einrichtungen gemacht. Zum einen wurde eine bis dahin weitgehend irrelevante Organisation, IGAD (Intergouvermental Authority for Development), zu einem wichtigen legitimatorischen Rahmen für die langwierigen Friedensverhandlungen in Somalia und im Sudan. Sie hat bisher jedoch, anders als ECOWAS, keine eigenen Friedenstruppen. Zum anderen hat sich die Afrikanische Union (AU) einen ECOWAS ähnlichen, wenn auch in seinen Entscheidungsbefugnissen nicht so weitgehenden "Peace and Security Council" zugelegt. In Burundi hat die AU unter der Führung Südafrikas bereits einen größeren Friedenseinsatz durchaus zufrieden stellend durchgeführt und im letzten Jahr an die VN übergeben. In Dafur im Sudan sah sich die AU dann gezwungen, mit dem Schutz der dortigen Bevölkerung eine Aufgabe zu übernehmen, die weit über ihre organisatorischen, logistischen und militärischen Kräfte hinausgeht. Den Afrikanern blieb jedoch keine andere Wahl. Die internationale Gemeinschaft und ihre Führungsmächte waren zu einem Eingreifen nicht bereit und ließen die Bevölkerung im Stich.
Abschließend kann festgestellt werden, dass das verstärkte Engagement der Regionalorganisationen bei den Friedenseinsätzen ermutigend ist. Es ändert bisher jedoch nichts daran, dass die VN in Afrika und in anderen Teilen der Welt weiterhin die dominante Einrichtung sind und für absehbare Zeit bleiben werden. Die Notwendigkeit, sie zu einer besseren Durchführung dieser Einsätze zu befähigen, bleibt deswegen ein weltpolitisches Anliegen. Der Ende 2004 veröffentlichte Bericht des sogenannten "High Level Panel on Threats, Challenges and Change" und die anschließenden Ausführungen Kofi Annans zu diesem Bericht haben keinen Zweifel daran gelassen, dass die Reform der VN ein unverändert wichtiges Thema ist.
Von den Empfehlungen des Panels sind zwei für die Fortentwicklung der Krisenprävention und der Friedenseinsätze besonders wichtig: Die Einrichtung einer mit echter Autorität und Handlungskompetenz ausgestatteten Peacebuilding Commission sowie die Reform des Sicherheitsrates. Das schließt seine Erweiterung ein. Denn ohne diesen Schritt wird der Weltöffentlichkeit nach mehr als einem Jahrzehnt der Reformdiskussion nicht mehr überzeugend der notwendige Wandel der VN von einer Organisation der Nachkriegsära zu einer, die den Risiken und Herausforderungen der globalisierten Welt gewachsen ist, vermittelt werden können. Denn es ist nicht in erster Linie die Glaubwürdigkeit der VN-Einrichtungen, die in den letzten Jahren erodiert ist, sondern die des Sicherheitsrates selbst. Und die Frage eines ständigen deutschen Sitzes ist dabei zwar wichtig, nicht aber die alles entscheidende.