Die Nato hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Wurde der Bündnisverteidigung nach 1990 gut zwei Jahrzehnte lang kaum Bedeutung beigemessen, ist die Frage der kollektiven Verteidigung seit Beginn des Krieges in der Ukraine 2014 und der Neubewertung der Rolle Russlands wieder auf der Agenda und hat zu weitreichenden und noch nicht abgeschlossenen Veränderungen geführt. Zudem bleibt die Nato, die am 4. April 2019 ihren 70. Jahrestag begangen hat, im Bereich des militärischen Krisenmanagements aktiv und widmet sich außerdem neueren Themen wie Cyberkrieg, hybride Kriegsführung, Kontrolle der Migration über das Mittelmeer oder Stabilisierung von Partnern im Süden (etwa im Rahmen von Partnerschafts- oder Ausbildungsprogrammen wie in Afghanistan, Irak oder Jordanien). Gleichzeitig positionieren sich die USA unter Präsident Donald Trump neu und fordern von den Europäern nach wie vor einen wesentlich größeren Beitrag in der Nato ein – wobei bisweilen zweifelhaft ist, ob die Trump-Administration formalisierten Allianzen wie der Nato überhaupt noch einen hohen Stellenwert einräumt.
Die Bedeutung der Nato in der internationalen Sicherheitspolitik unterliegt damit einem erheblichen Wandel, und die transatlantische Sicherheitspartnerschaft wird derzeit unter heftigen Spannungen neu austariert. Die Allianz ist mithin nicht so sakrosankt, wie dies jahrzehntelang empfunden wurde. Daraus resultieren grundsätzliche Fragen für den Bestand der Nato.
In internationaler (Un-)Ordnung
Eine Analyse der unterschiedlichen Entwicklungsetappen der Nato von 1949 bis 2019 zeigt, dass die Allianz in den sieben Jahrzehnten ihres Bestehens stets eine erhebliche Wandlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat. Inzwischen gleicht sie einer lockeren Plattform für eine breite Palette an sicherheitspolitischen Themen und ist nicht (mehr) nur ein eher eindimensionales Militärbündnis zur Abwehr konkreter sicherheitspolitischer Bedrohungen. Die Nato hat sich mithin zu einer "Sowohl-als-auch-Allianz" entwickelt.
Sie muss diese Veränderungen in einem überaus dynamischen internationalen Umfeld vollziehen. Sie ist nicht nur die zentrale vertragliche Grundlage zwischen den Partnern auf den beiden Seiten des Atlantiks, sondern bildet trotz aller Unterschiede der Mitgliedstaaten auch weiterhin eine Wertegemeinschaft, selbst wenn innenpolitische Entwicklungen, etwa in der Türkei, in Ungarn und auch in den USA, diesem Fundament durchaus Schaden zufügen können. Die Nato ist zudem einer der wenigen handlungsfähigen sicherheitspolitischen Akteure, die zu komplexen militärischen Operationen im gesamten Aufgabenspektrum – von der Bündnisverteidigung bis zur vollen Bandbreite von Einsätzen im internationalen Krisenmanagement – in der Lage sind. Zugleich wirkt sie über den gemeinsamen militärischen Planungsprozess und die integrierte Militärstruktur einer Renationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik entgegen.
Allerdings hat der "Trump-Schock" – die Abkehr der USA vom Multilateralismus in den vergangenen zwei Jahren – allen Staaten nochmals vor Augen geführt, dass in der Sicherheitspolitik auch eine gewisse Rückbesinnung auf die eigene nationale Handlungsfähigkeit geboten ist und Bündnisse in aller Regel nur Zweckbündnisse auf Zeit und niemals unantastbar sind. Die USA können ihre Interessen und Ziele in (fast) jedem Fall auch unilateral verfolgen, und für die kleineren Bündnispartner scheidet rein nationales militärisches Handeln als Alternativoption aus. Aber für die größeren Mitgliedstaaten – Deutschland, Türkei, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Polen – sieht das schon anders aus. Auch wenn in allen genannten Fällen der transatlantische oder zumindest der europäische Verbund das Handlungspotenzial vervielfältigt (oder bei Lichte betrachtet: erst schafft) und es deshalb in ihrem Interesse bleibt, diese Dimension zu stärken, kann erwartet werden, dass notfalls über die Bündnisbelange hinaus – und möglicherweise künftig sogar verstärkt – auch national gedacht und agiert wird.
Strukturprobleme der Allianz
Für die Nordatlantische Allianz ergeben sich mehrere militärische und politische Funktionen, die über das hinausgehen, was sie in der Zeit des Ost-West-Konflikts an Aufgaben zu erfüllen hatte. Doch trotz der neuen Aufgaben und der ungebrochenen Attraktivität für alte wie neue Mitglieder
An erster Stelle steht die Frage, ob es noch eine gemeinsame oder zumindest eine vorherrschende Bedrohungswahrnehmung in der Allianz gibt. Divergierende Einschätzungen bei zentralen Themen wie Gewichtung der unterschiedlichen Aufgaben, Blick nach Osten versus Blick nach Süden, Zuständigkeit für neue sicherheitspolitische Fragen wie Terrorismusbekämpfung, Cyber- und Energiesicherheit und andere mehr lassen es fraglich erscheinen, ob alle Partner noch das gleiche Verständnis von Sicherheit und der daraus ableitbaren Prioritäten der Bündnisaufgaben haben. Beides ist jedoch entscheidend für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Generell lässt sich sagen, dass zwischen den Mitgliedstaaten nicht nur unterschiedliche Auffassungen darüber herrschen, was eine Bedrohung ist – ob also eine Bedrohung vorliegt oder nicht –, sondern auch die Wahl der Mittel höchst unterschiedlich beurteilt wird. Hinzu kommt die Frage, welche Lehren die Allianz aus ihren zahlreichen Einsätzen nach 1990 ziehen soll. Aus den Nato-Operationen von Afghanistan bis Libyen ergibt sich eine große Zurückhaltung, was neue Verpflichtungen im Rahmen des internationalen Krisenmanagements angeht – unabhängig davon, ob diese durch ein UN-Mandat legitimiert sind oder nicht. Denn Erfolg und Dauer des Engagements sind fraglich, die Mittel sind knapp, und die Konzentration darauf führt rasch zu Fähigkeitsdefiziten bei der Vorsorge zur Bündnisverteidigung im engeren Sinne.
Ein zweites, mit dem ersten Punkt eng verbundenes Strukturproblem der Allianz zielt auf die Frage, was die Mitgliedstaaten der Nato gemeinsam machen können beziehungsweise wollen und was sie entsprechend finanzieren möchten. Insbesondere wird vielfach die Forderung erhoben, allen Mitgliedern verstärkt die Möglichkeit einer flexiblen Teilnahme an Nato-Missionen einzuräumen. Diese ist zwar faktisch schon heute gegeben, denn die Beistandspflicht gilt nur bei Artikel 5 des Nato-Vertrags (Bündnisfall) – und liegt in seiner praktischen Ausgestaltung auch dann im Ermessen jeder Regierung. Sollte die Möglichkeit zur flexiblen Teilnahme aber die generelle Entwicklung der Nato widerspiegeln, würde es auf eine deutliche Änderung der Bündnisgrundlagen hinauslaufen: Das Konsensprinzip könnte aufgegeben und die integrierte Militärstruktur modifiziert werden; zugleich würden Nichtmitglieder stärker am Entscheidungsprozess der Allianz beteiligt. Aus solchen Ad-hoc-Koalitionen, die die Nato-Ressourcen nutzen möchten, würden aber – so notwendig sie im Einzelfall sein mögen – unerwünschte Konsequenzen entstehen, denn der casus foederis wäre damit unscharf.
Daraus resultierte, dass die "kollektive Rationalität" von Bündnisentscheidungen kein stabilisierendes Element der internationalen Ordnung mehr bliebe, sondern vielmehr das Sicherheitsdilemma verschärft würde. Denn allein die gegenwärtige Art der Entscheidungsfindung in der Nato sichert ein hohes Maß einer solchen kollektiven Rationalität und lässt hegemonialen Missbrauch (trotz einer im Inneren quasi hegemonialen Struktur) kaum zu. Wenn aber Ad-hoc-Handeln nicht nur im Einzelfall denkbar, sondern bereits konzeptionell eingeplant ist, resultiert daraus bei anderen Akteuren auch außerhalb des Bündnisses Misstrauen mit der Folge möglicherweise neuer Konfliktformationen.
Bis zu einem gewissen Grad dürfte eine Flexibilisierung des Entscheidungsprozesses unumgänglich sein, wenn aber eine Entwicklung hin zu einem "Werkzeugkasten für Ad-hoc-Koalitionen" erfolgen würde, wäre der Zusammenhalt des Bündnisses extrem gefährdet. Denn ein Entscheidungsprozess, an dem alle Mitglieder – zumindest im Grundsatz – mitwirken können, ist die Voraussetzung dafür, dass sich Staaten an dem Bündnis beteiligen und ihre Politik an ihm ausrichten. Sinnvoll wäre es, die Bedingungen für das Handeln in wechselnden "Koalitionen der Willigen" genauer zu definieren und damit einen verbindlichen Handlungsrahmen zu schaffen. So wäre es denkbar, über die bereits bestehenden und ja auch bereits praktizierten Möglichkeiten
Drei Themen für die grundsätzliche Ausrichtung
Für die Rolle der Nato in der internationalen Sicherheitspolitik und in der internationalen (Un-)Ordnung ist eine Reihe von Themen zu beachten, die nicht immer gleichermaßen in gebührender Weise im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen, die aber bei einer umfassenden Bestandsaufnahme berücksichtigt werden sollten. Hierzu gehören insbesondere die drei folgenden Themen: der Umgang mit einem zunehmend revisionistischen Russland, die ungeklärte Rolle der EU beziehungsweise Europas in der Nato sowie die Erwartungsverlässlichkeit des Bündnisses.
Russland
Spätestens seit 2014 steht die Nato vor einem Spagat: einerseits Russland – das zunehmend machtbewusst in der internationalen Politik auftritt – durch eine Neubewertung des Themas Bündnisverteidigung von (weiterem) militärischem "Abenteurertum" abzuschrecken, ohne damit die Chancen auf eine Rückkehr zu einem konstruktiveren Verhältnis zu untergraben, und andererseits die grundsätzliche Fähigkeit zum internationalen Krisenmanagement auch out of area aufrechtzuerhalten oder gar auszubauen. Den Verbündeten wird in dieser Situation viel abverlangt. Die Bedrohungsanalyse mit Blick auf Russland ist der bestimmende Faktor der Nato-Ausrichtung, entweder in Richtung Entspannung und Öffnung (etwa nach Ende des Ost-West-Konflikts bis zur Georgien-Krise 2008) oder in Richtung Verschärfung und Fokussierung (während des Ost-West-Konflikts in unterschiedlicher Ausprägung und spätestens wieder seit 2014). Die Nato definiert sich also de facto wesentlich durch ihr Verhältnis gegenüber Russland. Es lässt sich sogar mit einigem Recht argumentieren, dass die Ausweitung auf neue Aufgaben jenseits der kollektiven Verteidigung immer nur dann trägt, wenn die Lage als hochkomplex und vergleichsweise ungewiss eingeschätzt wird. Sobald aber konkrete Bedrohungen (wieder) auftauchen, wird diese Aufgabenausweitung zugunsten eines eher "bedrohungsorientierten Ansatzes" im Sinne klarer Prioritäten aufgegeben.
Das politische Ziel mit Blick auf Russland war und ist richtig: die Gegnerschaft überwinden und Russland zur Kooperation ermutigen. Das ist jedoch einstweilen gescheitert. Unbeantwortet bleibt insbesondere die Frage nach den Grenzen des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum: Sollten "russische Einflusszonen" akzeptiert und etwa Staaten wie Georgien oder der Ukraine eine Nato-Beitrittsperspektive abgesprochen werden, weil Russland dadurch einen Einflussverlust befürchtet? Anders und allgemeiner gewendet: Wie viel destruktive Politik Russlands kann und soll akzeptiert werden, ohne dass dies Konsequenzen für die Beziehungen zueinander hätte? Die ab 2014 in Reaktion auf die russische Annektierung der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine eingeleitete moderate, aber dennoch ohne Zweifel ernst gemeinte Rückversicherungspolitik der Nato ist insofern ein richtiger Ansatz. Gleichwohl wird im Rückblick möglicherweise deutlicher, von wie vielen Fehlannahmen die Beziehungen zwischen der Nato und Russland geleitet wurden. "Die Ukraine-Krise ist schlicht die Rechnung dafür, dass wir unser Klassenziel bei der Anbindung Russlands an den Westen und das westliche Bündnis nicht erreicht haben",
Realistische Theoretiker warnten schon früh, dass die Nato mehr auf russische Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen hätte, und brachten vielfach Verständnis für vermeintliche Einkreisungsängste durch eine Ausdehnung des Westens unter der Führung der USA auf. Tatsächlich hat sich das Nato-Territorium seit 1999 um etwa 1000 Kilometer in Richtung russische Grenze ausgedehnt. So argumentierte der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer, dass der Dreischritt des Westens aus Nato- und EU-Erweiterung sowie Demokratieförderung Nahrung für ein Feuer gewesen sei, das nur noch entzündet werden musste.
Natürlich ist an der Analyse der Realisten – wie stets – etwas dran; Russland hat frühzeitig klargemacht, dass es die westliche Politik als massive Verletzung seiner Interessen versteht. Und ebenso natürlich muss der Westen selbstkritisch sein und prüfen, ob er bei seiner Strategie seit 1990 von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. Wie ein Ausgleich dieser Interessen zu erreichen ist, bleibt indes eine offene Frage. Es spricht wenig dafür, dass dies auf dem Wege eines Entgegenkommens gegenüber den selbst definierten russischen Sicherheitsinteressen gehen könnte. Denn das würde bedeuten, dass das mit militärischer Gewalt geschaffene Denken in Einflusszonen akzeptiert und auf die 1990 in der Charta von Paris festgehaltenen Prinzipien – unter anderem freie Bündniswahl und Beachtung der territorialen Integrität der Staaten – verzichtet würde. Insbesondere das Prinzip der territorialen Integrität ist dabei von strategischer Bedeutung für die Stabilität in Europa. Russland ist insofern auf dem Irrweg und wird das eines Tages auch erkennen (müssen). Die Nato kann dabei auf Basis der eigenen Stärke beziehungsweise gesicherter Abschreckungsfähigkeit handeln, denn ihre militärischen Fähigkeiten und auch ihre absoluten Ausgaben für Rüstung sind trotz mancher Defizite um ein Vielfaches höher als die russischen.
Nicht zuletzt aber zwingen die zunehmenden Fähigkeiten Russlands im Bereich der (auch nuklearen) Raketentechnik die Nato-Mitgliedstaaten dazu, sich systematischer damit auseinanderzusetzen, welche Rolle Kernwaffen in der künftigen Strategie der Nato einnehmen sollen.
Europa in der Nato
Der ungeklärte gemeinsame Status der EU-Staaten im Bündnis und die absehbar erodierende Rolle der USA für europäische Sicherheit haben einen Selbstfindungsprozess Europas in Sicherheitsfragen ausgelöst – mit offenen Konsequenzen für die Allianz.
Die Beziehungen zwischen Nato und EU dürften also auch in Zukunft nicht einfach oder konfliktfrei sein. Allerdings wäre es angesichts der weitgehenden Mitgliederkongruenz beider Organisationen, der Tatsache des single set of forces (das heißt, trotz vermehrter Aufgaben stehen nur einmal vorhandene Mittel und Streitkräfte zur Verfügung) wie auch der anspruchsvollen internationalen sicherheitspolitischen Problemagenda völlig unangemessen, wenn sich beide in Selbstbeschäftigung übten, statt wirksame Impulse zur Stabilisierung des internationalen Systems wie auch effektive Beiträge zur Lösung sicherheitspolitischer Probleme zu leisten. Eine konstruktive "Zwei-Pfeiler-Allianz" wird sich aber nicht einfach so ergeben, sondern es hängt in erster Linie vom europäischen Gestaltungswillen ab, wie relevant die Nato bleiben wird. Ohne eine annähernd hälftige Verteilung der Lasten und Risiken zwischen Europa und den USA wird die Allianz wohl keinen Bestand haben.
Angesichts dessen, dass der Anteil der Verteidigungsausgaben bei etwa 70 (USA) zu 30 (Europa) liegt
Erwartungsverlässlichkeit
Die Nato hat sich über ihren ursprünglichen Zweck der Abwehr einer Bedrohung hinaus zu einer Institution entwickelt, die allgemeine Risiken bewältigt und trotzdem weiterhin ihre ursprüngliche Aufgabe zu erfüllen hat – ein notwendiger Prozess, allerdings mit Nebenwirkungen. Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation hat sich auch das Profil von Allianzen verändert. Schon bei ihrer Gründung benutzte die Nato den Begriff "kollektive Selbstverteidigung" unter Berufung auf die UN-Charta. Damit rückte auch die internationale Sicherheit – und nicht nur die Sicherheit des Bündnisgebiets – in den Fokus ihres Interesses. Die Konsequenzen aus den nicht immer konfliktfreien Beziehungen zwischen Nato und Vereinten Nationen sollten auch unter dem Aspekt der Erwartungsverlässlichkeit mit großer Sensibilität diskutiert werden.
Das Dilemma ist gleichwohl, dass es durchaus Fälle geben kann, in denen militärisches Handeln nicht auf Grundlage eines klaren Mandats des UN-Sicherheitsrats erfolgt. Davon abgesehen, dass es immer klüger ist, auf der Grundlage eines solchen Mandats zu agieren, kann es Situationen geben, in denen der Sicherheitsrat durch Vetodrohungen oder tatsächliche Vetos gelähmt ist – und trotzdem die Bewertung einer Krise unabweislichen Handlungsbedarf signalisiert. Anders formuliert: Im Spannungsfeld zwischen realpolitisch begründetem Handeln im Nato-Rahmen und strikter Befolgung der völkerrechtlichen Spielregeln der UN-Charta muss sich die Nato auch künftig (wie im Fall Kosovo 1999 geschehen) die Option für Ersteres offenhalten. Dies kann sich natürlich immer nur auf einen eng definierten Ausnahmefall beziehen und bedarf neben intensiven Diskussionen in allen Mitgliedstaaten eines transparenten öffentlichen Diskurses. Aber nur in einer völkerrechtlichen Idealwelt bietet die UN-Charta einen stets funktionsfähigen Rechtsrahmen.
Hinzu kommt, dass die Entscheidungsprozesse in der Allianz bei "hybriden Bedrohungen", die naturgemäß ein nicht eindeutiges Lagebild implizieren, unter besonderem Druck stehen. Ziel der Diskussionen und Entscheidungen in der Nato sollte es daher sein, die Voraussetzungen für eine systematische gemeinsame Lagebeurteilung und darauf basierende transparente Entscheidungsprozesse in der Allianz – und zwar für Mitglieder wie für Nichtmitglieder – zu stärken und dabei nach Möglichkeit auch Indikatoren und Parameter für eine Entscheidung über eine angemessene Reaktion zu entwickeln. Nur so wäre im Falle einer sich abzeichnenden hybriden Bedrohung rasch ein breiter allianzinterner Konsens bis hin zur möglichen Aktivierung von Artikel 5 des Nato-Vertrags zu erzielen. Die Folge wäre eine bessere Vorhersehbarkeit des Handelns der Allianz, die zu mehr internationaler Stabilität beitragen könnte. All dies erfordert eine intensivere politische und militärische Kooperation im Bündnis. Ebenso denkbar ist jedoch, dass sich daraus der Trend zu jeweils wechselnden "Koalitionen der Willigen" innerhalb oder außerhalb der Nato verstärkt, mit der internationale Stabilität und Erwartungsverlässlichkeit unterminiert werden könnten.
Zukunft der Nato
Das alles sind komplexe Baustellen. Die weitere Entwicklung der Nato hängt neben der Entwicklung des Sicherheitsumfeldes sowie der genannten Strukturprobleme und Problembereiche wesentlich von der Interessenlage ihrer Mitglieder ab, insbesondere von Schlüsselstaaten wie den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Polen, aber auch der Türkei, die in einer der brisantesten Krisenzonen der Gegenwart liegt. All dies zusammengenommen bedeutet, dass der Rollenfindungsprozess der Nato in dem neuen sicherheitspolitischen Umfeld zwar vorangeschritten, aber alles andere als abgeschlossen ist.
Da ist es wohl symptomatisch, dass der Jubiläumsgipfel zum 70. Geburtstag der Nato Anfang April 2019 in Washington eher unfestlich ausfiel und ohne die Beteiligung der meisten Staats- und Regierungschefs auskam. Diese werden routinemäßig wieder im Dezember 2019 in London zusammenkommen. Die Nato bleibt dennoch eines der wenigen ordnenden Elemente in der internationalen Un-Ordnung – selbstverständlich kein hinreichendes, aber doch im militärpolitischen Bereich ein von der überwiegenden Mehrzahl der relevanten Akteure als notwendig erachtetes. Ihre grundsätzliche Befähigung zur Konfliktregulierung nach innen, zur Verteidigung des Bündnisgebietes wie auch ihre Handlungsmöglichkeiten im militärischen Krisenmanagement nach außen machen sie für ihre Mitglieder wie für die internationale Stabilität gleichermaßen wichtig.
Wie immer gilt in der Politik, dass strukturprägende Ereignisse letztlich nicht vorhersehbar sind. Aber die Erfahrungen aus sieben Jahrzehnten Nordatlantischer Vertragsorganisation sprechen letztlich dafür, dass die Allianz keine schlechte Chance hat, auch weiterhin relevant zu bleiben, und ihr das Schicksal einer Reihe von Bündnissen und politischen Organisationen erspart bleibt: der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Allerdings sollte der Lehrsatz aller Außenpolitiker in den Strategiedebatten der Allianz stärker Berücksichtigung finden: "Außenpolitik bedeutet immer, mit den Augen der anderen zu sehen".