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Europa und der INF-Vertrag: Verdammt zur Zuschauerrolle? | Neues Wettrüsten? | bpb.de

Neues Wettrüsten? Editorial Einstein und die neun Zwerge. Historisches zum INF-Vertrag Rüstung, Bündnissolidarität und Kampf um Frieden. Lernen aus dem Nato-Doppelbeschluss von 1979? Internationale Atomwaffenkontrolle: Stand und Perspektiven Europa und der INF-Vertrag: Verdammt zur Zuschauerrolle? China als Rüstungsakteur. Von Maos Papiertigern zu robusten Regenbögen Zwischen Comeback und Zerrissenheit – hat die Nato Bestand?

Europa und der INF-Vertrag: Verdammt zur Zuschauerrolle?

Wolfgang Richter

/ 16 Minuten zu lesen

Das Interesse, einen Raketenwettlauf zu verhindern, endet nicht an dem Tag, an dem der INF-Vertrag außer Kraft tritt. Die Europäer müssen daher geeint handeln und innerhalb der Nato für Zurückhaltung und Dialog mit Russland eintreten.

Die USA haben am 1. Februar 2019 den Vertrag über das Verbot nuklearfähiger bodengestützter Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) gekündigt. Am 4. März folgte die formelle Kündigung Russlands. Sollte bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 1. August 2019 keine Einigung erzielt werden, wären beide Seiten durch keine internationale Rechtsnorm mehr daran gehindert, neue Systeme dieser Waffenkategorie einzuführen und in Europa oder Asien zu stationieren. Wie kann Europa darauf reagieren? Um diese Frage zu beantworten, soll hier zunächst erörtert werden, welche politischen und militärischen Interessen die Akteure verfolgen und wie sich die Kündigung auf die globale Stabilität und die Sicherheit Europas auswirkt.

Der INF-Vertrag vom Dezember 1987 verpflichtet die USA, Russland und elf weitere Nachfolgestaaten der Sowjetunion, landgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern sowie ihre Startvorrichtungen und Infrastruktur zu zerstören. Er verbietet ihre Wiedereinführung einschließlich Produktion, Flugtests, Stationierung und Depotlagerung. Da durch den Vertrag eine ganze Klasse von Trägersystemen abgeschafft und so die regionale nukleare Bedrohung Europas der 1980er Jahre durch "eurostrategische" Waffen beendet wurde, galt er als Meilenstein auf dem Weg zur Überwindung des Kalten Krieges. Ihm folgten weitere Rüstungskontrollverträge, insbesondere 1990 der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE).

Den Kündigungen vorausgegangen war ein Ultimatum der USA vom 4. Dezember 2018, das Russland aufforderte, seine umstrittenen landmobilen Raketensysteme vom Typ 9M729 (Nato-Bezeichnung SSC‑8) innerhalb von 60 Tagen zu zerstören. Der Vorwurf lautet, dass die SSC‑8 eine Reichweite von bis zu 2600 Kilometern habe und somit den INF-Vertrag verletze. Schon seit 2008 verfolgten die US-Geheimdienste die Entwicklung und Flugtests der SSC‑8 mit Argwohn. Nach dem Beginn des Ukraine-Konflikts 2014 verdächtigte die US-Administration unter Präsident Barack Obama Russland erstmals öffentlich des Vertragsbruchs. Alarmiert durch geheime Informationen der USA meldeten auch die Bündnispartner auf dem Gipfeltreffen der Nato im Juli 2018 Zweifel an der Vertragstreue Russlands an und beklagten dessen Intransparenz. Da Moskau keine glaubwürdigen Erklärungen vorgelegt habe, sei eine Vertragsverletzung die "plausibelste Bewertung". Gleichwohl bekannte sich das Bündnis dazu, den INF-Vertrag zu erhalten, und forderte Moskau zu Transparenz und Vertragstreue auf.

Im Widerspruch dazu hat US-Präsident Donald Trump am 20. Oktober 2018 am Rande eines Wahlkampfauftritts überraschend den Rücktritt der USA vom INF-Vertrag angekündigt, ohne die Bündnispartner vorher zu konsultieren. Er begründete dies nicht nur mit der russischen Vertragsverletzung, sondern auch damit, dass China über ein umfangreiches INF-Potenzial verfüge, das keinen vertraglichen Beschränkungen unterliege. Somit seien die USA in eine strategisch nachteilige Position geraten. China müsse daher in ein künftiges trilaterales Abkommen eingebunden werden. Eine mögliche Bedrohung Europas durch das russische Raketensystem spielte in Trumps Ankündigung jedoch keine Rolle.

Nachdem die USA im Oktober 2018 ihre Verbündeten informiert hatten, Russland habe zwei Verbände mit SSC‑8 östlich des Ural und am Kaspischen Meer stationiert, schlossen sich die Außenminister der Nato-Staaten Anfang Dezember 2018 der Bewertung der USA an, dass Russland den INF-Vertrag verletzt habe. Auf Drängen Deutschlands und Frankreichs bekannten sie sich allerdings auch dazu, eine wirksame Rüstungskontrolle als "Schlüsselelement" der euroatlantischen Sicherheit zu erhalten und den Dialog mit Russland zu suchen. Daraufhin schoben die USA die Kündigung für zwei Monate auf, bestanden aber darauf, dass Russland alle SSC‑8 Systeme zerstören müsse. Bei einem bilateralen Treffen in Genf am 15. Januar 2019 lehnten sie das russische Angebot einer technischen Lösung und gegenseitiger Transparenzmaßnahmen ab. Versuche des deutschen Außenministers, beide Seiten zum Einlenken zu bewegen, hatten keinen Erfolg. Mittlerweile soll Russland vier Verbände mit SSC‑8 stationiert haben.

Moskau weist den Vorwurf der Vertragsverletzung zurück und beklagt, es habe Washington vergeblich vorgeschlagen, das Problem durch technische Konsultationen zu lösen. Russische Delegierte räumen allerdings ein, dass Russland zu lange gezögert habe, die nun angebotene Transparenz zu zeigen. Jedoch erhebt Moskau seit 2014 seinerseits den Vorwurf, die USA hätten den INF-Vertrag mehrfach gebrochen. Erstens hätten sie verbotene Mittelstreckenraketen verwendet, um die Raketenabwehr zu testen. Zweitens hätten sie Überschallkampfdrohnen eingeführt, die über die technischen Eigenschaften von Marschflugkörpern im verbotenen Reichweitenspektrum verfügen. Und drittens verwendeten sie für die landgestützten Raketenabwehrstellungen in Rumänien – und künftig Polen – das gleiche vertikale Startsystem Mk‑41, das auf Aegis-Schiffen für den Start von SM‑3 Abwehrraketen und von Marschflugkörpern des Typs "Tomahawk" mit einer Reichweite von etwa 2500 Kilometern benutzt wird. Dieses könne somit zum Einsatz von Marschflugkörpern gegen Ziele im europäischen Teil Russlands verwendet werden. Washington hält dem entgegen, dass Kampfdrohnen keine Marschflugkörper seien und dass die Testraketen für die Raketenabwehr nicht unter die Verbotsnormen des INF-Vertrags fallen. Die landgestützten Aegis-Systeme (Aegis ashore) seien wegen ihrer modifizierten Software und Verkabelung sowie ihrer spezifischen Feuerleiteinrichtung nur für den Start von Abwehrraketen geeignet. Dies habe man auch im bilateralen Stationierungsvertrag mit Rumänien so vereinbart.

Verifikationslücken und -Optionen

Während es bei den russischen Vorwürfen um Fragen der Vertragsinterpretation geht, unterstellen die USA Russland einen heimlichen Vertragsbruch, dessen geheimdienstliche Erkenntnisgrundlage sich der öffentlichen Nachprüfung entzieht. Die Solidaritätsbekundungen der Verbündeten lassen jedoch darauf schließen, dass diese Informationen überzeugend waren. Gleichwohl wäre eine breitere Erkenntnislage eine wichtige Voraussetzung für weitreichende Folgeentscheidungen der Nato. Am besten ließen sich die Vorwürfe mit den bewährten Mitteln der kooperativen Verifikation prüfen. Sie ist das Kernstück aller Rüstungskontrollabkommen, auf das der Westen traditionell besonderen Wert legt. Da sich beide Seiten gegenseitig beschuldigen, den Vertrag gebrochen zu haben, wäre eine wechselseitige Verifikation in Russland und in den Aegis-ashore-Stellungen auch aus politischen Gründen angezeigt, um die Krise für beide Seiten gesichtswahrend zu beenden.

Das INF-Verifikationsregime sah vor, 13 Jahre lang mit gegenseitigen Vor-Ort-Inspektionen zu überprüfen, ob die im Vertrag gelisteten ballistischen Raketen und Marschflugkörper sowie ihre Starteinrichtungen und Infrastruktur wie vereinbart zerstört wurden. Mit Kameras an den Werktoren wurde zudem überwacht, ob die Produktion beendet wurde. Auch frühere Raketenstellungen in Deutschland wurden regelmäßig inspiziert. Das Verifikationsregime endete 2001. Um Fragen der Vertragsumsetzung im Dialog zu klären, ist eine Special Verification Commission (SVC) eingerichtet worden. Allerdings enthält der Vertrag keine Mechanismen, mit denen sich vermutete Vertragsumgehungen beweisen ließen, etwa kurzfristig angekündigte Inspektionen nicht erklärter Stationierungsorte oder Infrastruktureinrichtungen. Um dies zu ermöglichen, müssten sich die USA und Russland bilateral oder in der SVC darauf verständigen, das INF-Verifikationsregime wiederzubeleben und zu modifizieren.

Wichtig wäre es, zunächst Daten und Fakten auszutauschen, um die Vorwürfe zu konkretisieren und technische Fragen zu klären. Die Möglichkeiten zu einer kooperativen Lösung der Streitfragen sind keineswegs erschöpft. Expertinnen und Experten könnten erörtern, ob technisch bedingte Interpretationsunterschiede durch klarstellende Protokolle aus der Welt geschafft werden können. So hängen die operativen Reichweiten von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern von mehreren Variablen ab, insbesondere von den Massen der Hüllen, der Betriebsstoffmenge und des Gefechtskopfes, der Steuereinrichtungen und Motoren sowie von der Schubkraft und den aerodynamischen Eigenschaften. Im INF-Vertrag ist daher von der Maximalentfernung die Rede, die der Flugkörper in seiner "Standardausführung" zurücklegen kann, bis der Treibstoff völlig verbraucht ist. Für neue Systeme könnte diese Standardausführung, sofern sie vertragskonform ist, in Zusatzprotokollen vereinbart werden.

Klarheit ließe sich am besten durch den Austausch telemetrischer Daten, die Vorführung der fraglichen Systeme vor Ort und Beobachtungen von Flugtests herstellen. Dabei wäre auch festzustellen, ob es sich um Tests von Systemen handelt, die zwar im INF-Reichweitenspektrum liegen, aber dennoch nicht vom Vertrag erfasst werden. Denn er erlaubt es, Flugkörper oder Raketenstufen von festen Starteinrichtungen aus auch über mittlere Reichweiten zu testen, sofern diese Elemente nicht für bodengestützte INF-Systeme verwendet werden. Dies gilt zum Beispiel für seegestützte Marschflugkörper oder Raketenstufen von Interkontinentalraketen. Diese Klärung wäre dringlich, steht doch der amerikanische Vorwurf im Raum, Russland habe das gleiche System SSC‑8 einmal von einer festen Starteinrichtung aus im verbotenen Reichweitenspektrum getestet und anschließend von einem landmobilen Träger aus unterhalb der kritischen 500-Kilometer-Schwelle, um die wahre Reichweite zu verschleiern.

Im Gegenzug sollten die USA in Abstimmung mit Rumänien und künftig auch Polen russische Vor-Ort-Inspektionen in Aegis-ashore-Stellungen zulassen. Moskau könnte sich davon überzeugen, dass die dort verwendeten Mk‑41-Launcher technisch nur für den Start von SM‑3 Abwehrraketen vorgesehen sind und für sie keine Marschflugkörper gelagert werden. Auch diese technische Konfiguration könnte in Zusatzprotokollen vereinbart werden. Dabei sollte die neue Hybridrakete SM‑6 mitbetrachtet werden, die sowohl für die Abwehr als auch für den Angriff auf See- und Bodenziele verwendet werden kann. Ihre Stationierung würde den Charakter von Aegis-ashore als reines Defensivsystem ändern und auch offensive Einsätze zulassen.

Damit die Verifikation langfristig wirksam bleibt, müsste sie wiederholt und nach kurzen Ankündigungsfristen stattfinden. Ihre multilaterale Gestaltung würde die Faktenfeststellung transparenter machen und vorzugsweise die früheren und potenziellen Stationierungsländer von INF-Systemen in Europa einbinden. Politische Folgeentscheidungen der Nato könnten dann auf einer breiteren Informationsbasis getroffen werden.

Strategische Interessen und Folgen für die globale Rüstungskontrolle

Dass die Möglichkeiten der Verifikation nicht ausgeschöpft werden, lässt den Schluss zu, dass der politische Wille nicht mehr besteht, den INF-Vertrag zu erhalten. Aber welches Interesse verfolgt das Weiße Haus mit seiner doppelten Begründung, die sowohl auf Russland als auch auf China verweist?

Der Begründung, Russland habe den Vertrag gebrochen und so seine Wirksamkeit untergraben, sind die Nato-Partner gefolgt. Die Kündigung jedoch zerstört die Verbotsnorm und legitimiert somit eine ungebremste Aufrüstung dieser Waffenkategorie. Um dies zu verhindern, müssten alle Mittel ausgeschöpft werden, um die Verbotsnorm zu bewahren und den Vertragspartner zu bewegen, zur Vertragstreue zurückzukehren. Die Sicherheit Europas erwähnte Präsident Trump bei seiner Ankündigung vom Oktober 2018 jedoch nicht. Ihm zufolge seien vielmehr die USA durch die russische Vertragsverletzung und das chinesische Mittelstreckenpotenzial in eine nachteilige strategische Position geraten. Doch bedrohen INF-Systeme nicht das Kernland der USA, sondern derzeit vor allem Ziele in Ostasien. Offenbar gilt Trumps Hinweis der regionalen Lage im Süd- und Ostchinesischen Meer, das sich in der Reichweite chinesischer Mittelstreckenwaffen befindet.

Gleichwohl ist zu bezweifeln, dass die Trump-Administration den Vorschlag, China müsse einem künftigen trilateralen INF-Vertrag beitreten, ernsthaft verfolgt. Denn bisher haben die USA weder konkrete Vorstellungen geäußert noch China überhaupt konsultiert. Nur die deutsche Bundesregierung hat diese Option gegenüber chinesischen Regierungsvertretern informell zur Sprache gebracht und ist dabei auf unverblümte Zurückweisung gestoßen. Der Grund dafür ist, dass China – ähnlich wie das Vereinigte Königreich und Frankreich – die Multilateralisierung bilateraler Nuklearabkommen schon seit den 1990er Jahren ablehnt, solange die nukleare Dominanz der USA und Russlands fortbesteht. Denn China, Großbritannien und Frankreich verfügen jeweils über knapp 200 bis 300 nukleare Sprengköpfe, die USA und Russland gemeinsam jedoch über mehr als 90 Prozent der weltweiten Bestände von rund 15.000 Nuklearwaffen. Vor diesem Hintergrund haben sich die USA und Russland schon 2007 in den Vereinten Nationen vergeblich darum bemüht, eine Multilateralisierung des INF-Vertrags zu erreichen.

Zudem sind Chinas mehr als 1600 landgestützte ballistische Raketen überwiegend für eine konventionelle Rolle vorgesehen, um im Falle eines Konflikts das Ost- und Südchinesische Meer gegen das Eindringen amerikanischer Flugzeugträgergruppen abzuriegeln. Etwa 90 Prozent davon würden unter die Verbotsnormen des INF-Vertrags fallen, würde China ihm angehören. China müsste also auf dieses Potenzial fast völlig verzichten, wenn es einem INF-Verbotsvertrag beitreten würde. Dagegen müssten die USA nichts aufgeben, da sie für die erweiterte Abschreckung in Ostasien seegestützte (SLCM) und luftgestützte Marschflugkörper (ALCM) verwenden, die den Verbotsnormen des INF-Vertrags nicht unterliegen. Auch das INF-Potenzial Indiens und Pakistans bliebe unberücksichtigt. Die Erwartung, China werde einem INF-Verbotsvertrag beitreten, erscheint daher unrealistisch.

Konzeptionell lassen die beiden konkurrierenden Begründungen Washingtons für die Kündigung des INF-Vertrags kaum einen gangbaren Ausweg. Denn selbst wenn Russland den INF-Vertrag einhalten oder China einem trilateralen Vertrag beitreten sollte, wäre der jeweils andere Kündigungsgrund nicht automatisch behoben. Vielmehr ist zu vermuten, dass langfristige politische Überzeugungen die amerikanische Haltung dominieren. So hat der US-Sicherheitsberater John Bolton sich schon seit zwei Dekaden darum bemüht, bi- und multilaterale "Rüstungskontrollfesseln" abzuschütteln, um den Handlungsspielraum der USA zu erweitern. Nach Washingtons Kündigung des Abkommens über die Begrenzung der strategischen Raketenabwehr (ABM) 2001 und Trumps Rückzug aus dem Iran-Deal von 2016 würde mit dem Kollaps des INF-Vertrags ein weiterer Eckpfeiler der globalen nuklearen Ordnung und der europäischen Sicherheitsordnung wegbrechen. Dies würde auch einen Schatten auf das verbleibende Abkommen über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen (New START) werfen. Wenn es bis 2021 nicht verlängert wird, wären Nuklearwaffen zum ersten Mal seit 1971 keinen vertraglichen Begrenzungen unterworfen. Das internationale Vertrauen in den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) würde weiter erodieren – mit unkalkulierbaren Konsequenzen für die globale Stabilität.

Folgen für die Sicherheit Europas

Militärisch hat der INF-Vertrag heute nicht mehr die gleiche Bedeutung wie 1987, als die Westeuropäer eine Abkopplung von der erweiterten nuklearen Abschreckung der USA befürchteten. Erstens verbietet der Vertrag nicht die luft- und seegestützten Marschflugkörper, die schon seit Jahren eine Reichweite und Präzision erreichen, die den landgestützten Varianten ähnlich sind. Zweitens dominiert heute der konventionelle Einsatz solcher Marschflugkörper, wie die Interventionskriege der USA und westlicher Verbündeter in den vergangenen zwei Dekaden zeigen. Auch Russland hat vom Kaspischen Meer und vom Mittelmeer aus Ziele in Syrien über weite Entfernungen mit SLCM erfolgreich angegriffen. China und westliche Staaten wie Frankreich haben ebenfalls luft- und seegestützte Marschflugkörper entwickelt und in ihre Streitkräfte eingegliedert. Drittens haben seit den 1990er Jahren mehrere südasiatische und arabische Staaten landgestützte ballistische Kurz- und Mittelstreckenraketen getestet und in ihre Arsenale eingeführt, die in das Reichweitenspektrum des INF-Vertrags fallen würden.

Man mag daher einwenden, dass der militärische Mehrwert bodengestützter nuklearfähiger Mittelstreckenraketen gegenüber den aus der Luft oder von See her gestarteten SLCM und ALCM gering ist und die strategische Bedrohungslage Europas qualitativ kaum verändern würde. Auch heute schon könnten russische oder Nato-Kampfflugzeuge weitreichende Abstandswaffen über eigenem Territorium rasch regional verschieben und aus einem geschützten Luftraum abfeuern. Amerikanische Aegis-Schiffe, die in der Ostsee oder im Schwarzen Meer operieren, sind in der Lage, mit ihren "Tomahawk"-Raketen Moskau zu erreichen. Dass russische landmobile Varianten in Feldstellungen außerhalb ihrer Friedensstandorte schwerer zu orten sind, erhöht nicht die Bedrohung, sondern erschwert ihre präventive Zerstörung.

Generell können die tieffliegenden Marschflugkörper durch die Radarsysteme der Flug- und Raketenabwehr nicht flächendeckend und nur sehr spät erfasst werden. Damit wäre auch heute schon die Reaktionszeit gegenüber einem überraschenden Angriff mit Marschflugkörpern sehr gering. Die Abschreckung dagegen beruht nicht auf einem vorbeugenden Angriff oder einem launch on warning, sondern auf der Fähigkeit zum Gegenschlag. Um ihn zu gewährleisten, ist eine Stationierung von landgestützten Systemen in Europa nicht erforderlich.

Im Unterschied zu den universell einsetzbaren SLCM und ALCM würde sich eine regionale Stationierung landgestützter Mittelstreckenwaffen allerdings eindeutig auf europäische (oder ostasiatische) Ziele richten. Sie könnten reaktionsschneller eingesetzt werden und wären weniger aufwändig in der Herstellung und im Einsatz. Für Russland könnten sie dem Zweck dienen, eine künftige erweiterte Raketenabwehrfähigkeit der USA in Europa unter Risiko zu halten, um die eigene Fähigkeit zum strategisch-nuklearen Zweitschlag abzusichern. Zudem könnte ihr Einsatz beabsichtigen, Truppenbewegungen der Nato nach Osten zu unterbrechen. Dazu eignen sich allerdings auch ballistische Raketen und Marschflugkörper kürzerer Reichweite sowie die vorhandenen SLCM und ALCM.

Aber selbst wenn der militärische Mehrwert landgestützter Mittelstreckenraketen gegenüber den see- und luftmobilen Varianten nur gering wäre, so wäre es doch kontraproduktiv, die Verbotsnorm für eine Waffenklasse nur deswegen aufzuheben, weil es auch andere Trägersysteme gibt. Vielmehr käme es auf zusätzliche Rüstungskontrollmaßnahmen an, um die Stabilität zu erhalten. Sollte der Hinweis Trumps auf einen trilateralen Vertrag jedoch nicht auf ein Verbot landgestützter nuklearfähiger Mittelstreckenwaffen abzielen, sondern auf nationale Spielräume für eine regionale Stationierung, so würde dies auch die Einführung russischer Mittelstreckenraketen in Europa legitimieren und so die Sicherheit Europas noch mehr gefährden.

Was kann Europa tun?

Im europäischen Interesse ist es jedoch, einen neuen Stationierungswettlauf in Europa zu verhindern. Am besten wäre es, in der verbleibenden Kündigungsfrist eine kooperative Lösung zu erreichen, um den INF-Vertrag zu erhalten. Daher wäre Europa gut beraten, die Bemühungen des deutschen Außenministers um eine solche Lösung zu unterstützen. Allerdings schwindet die Hoffnung, dass dies bis August 2019 gelingen wird.

Das Interesse, einen Raketenwettlauf zu verhindern, endet jedoch nicht an dem Tag, an dem der INF-Vertrag außer Kraft tritt. Innerhalb der Nordatlantischen Allianz sollten die Europäer daher für Zurückhaltung und Dialog eintreten. Die Nato sollte Russland signalisieren, dass sie keine INF-Systeme in Europa stationieren wird, solange Russland ebenfalls darauf verzichtet. Solange dies der Fall ist, sollten die Europäer keine Zustimmung zur Aufstellung landgestützter INF-Systeme auf ihrem Territorium geben. Die Presidential Nuclear Initiatives der Jahre 1991/92 zeigen, dass eine Politik reziproker Zurückhaltung auch ohne formale Vereinbarung realisiert werden kann. Damals hatten die Präsidenten der USA und Russlands parallele Erklärungen abgegeben, ihre taktischen Nuklearwaffen zurückzuziehen und zu reduzieren.

Vorzuziehen wären formellere Vereinbarungen, wie sie in der Nato-Russland-Grundakte 1997 und in der KSE-Schlussakte 1999 im Kontext der ersten Osterweiterung der Nato niedergelegt wurden. Dort hatte die Allianz erklärt, keine zusätzliche permanente Stationierung substanzieller Kampftruppen vorzunehmen. Russland reagierte mit einer gleichlautenden Erklärung für die Gebiete Kaliningrad und Pskow, die an die baltischen Staaten und Polen grenzen. Eine ähnliche Vereinbarung traf Russland bilateral mit Norwegen, die den ehemaligen Militärbezirk Leningrad an der finnisch-norwegischen Grenze einschloss. Zugleich erklärte die Nato, keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund zu haben, Nuklearwaffen nach Osten zu verschieben. Die Allianz sollte sich erneut zu dieser Verpflichtung in dem Verständnis bekennen, dass auch Russland seine taktischen Nuklearwaffen nicht nach Westen verlegt.

Auch ein informelles Einvernehmen bedarf der Verifikation. Hier könnten sich die Europäer mit ihrer Inspektionsexpertise einbringen. Zudem könnten sie neben der Satellitenbeobachtung den Vertrag über den Offenen Himmel von 1992 nutzen, um eine etwaige INF-Stationierung in Europa kooperativ zu überwachen. Zum anderen könnten sie darauf drängen, Russland ein reziprokes Angebot zu machen, die Stellungen der Nato-Raketenabwehr in Europa zu inspizieren. Denn sie ist ein gemeinsames Bündnisprojekt, auch wenn die Stellungen in Rumänien und künftig in Polen von der US-Navy betrieben werden.

Darüber hinaus kann Europa darauf hinwirken, dass die weltweite ungeregelte Raketenrüstung durch universelle Regelungen eingedämmt wird. Um mehr globale Transparenz für die Einführung und den Test ballistischer Raketen und Marschflugkörper zu erreichen, müsste die Wirksamkeit des Haager Verhaltenskodex gegen die Proliferation ballistischer Raketen erhöht werden. Dazu wäre es nötig, ihn zu universalisieren, seine Definitionen um Marschflugkörper zu erweitern und verbindliche Informationspflichten im Hinblick auf Planungen und Bestände einzuführen. Die Verpflichtung zur Ankündigung bevorstehender Starts sollte gestärkt werden. Auch das Waffenregister der Vereinten Nationen bietet einen Ansatzpunkt, um die Transparenz von Exporten und Beständen ballistischer Raketen und ihrer Startsysteme zu erhöhen. Es bedarf jedoch ebenfalls eindeutiger Definitionen, um Marschflugkörper erfassen, Reichweiten differenzieren und Raketen von Startsystemen unterscheiden zu können.

Um eine solche Politik zu realisieren, müsste Europa allerdings mit einer Stimme sprechen. Angesichts der unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen und des Misstrauens einiger "Frontstaaten" gegen kooperative Lösungen erscheint dies derzeit wenig wahrscheinlich. Vielmehr könnte die Versuchung, die Stationierung landgestützter INF-Systeme bilateral zu vereinbaren, die Nato spalten und Europa destabilisieren. Deutschland, Frankreich und andere europäische Staaten werden nachdrücklich und auf höchster Ebene ihr Gewicht in die Waagschale werfen müssen, um eine gemeinsame europäische Antwort auf die INF-Krise zu formulieren und zu verhindern, dass Europa wieder zum Schauplatz des Wettrüstens zweier nuklearer Supermächte wird.

ist Oberst a.D. und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. E-Mail Link: wolfgang.richter@swp-berlin.org