"Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil", bemerkte Albert Einstein mit Blick auf den Kalten Krieg im Allgemeinen und den Unwillen zur Abrüstung nuklearer Superwaffen im Besonderen. Bis zum Abschluss des INF-Vertrages im Dezember 1987 gab es keinen Anlass zur Relativierung dieses Satzes. Selbst in den Jahren der Entspannungspolitik nicht, als man sich allenfalls auf kosmetische Korrekturen, auf Obergrenzen bei dem einen oder anderen Waffensystem, nicht aber auf nachhaltige Einschnitte hatte verständigen können. Erst der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und der US-Präsident Ronald Reagan wagten das schier Unmögliche und vereinbarten die vollständige Verschrottung einer jahrelang für unverzichtbar deklarierten Generation von Massenvernichtungswaffen – der in Europa stationierten Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.
Die Rekonstruktion dieser unwahrscheinlichen Geschichte hat viel zum Verständnis der Spätphase des Kalten Krieges beigetragen. Eine Frage indes kommt immer noch zu kurz: Warum ließ der Durchbruch gut 40 Jahre auf sich warten? Einfache Antworten wird es nicht geben, aber eine Beobachtung drängt sich allemal auf: dass die Beziehungen der Atommächte jahrzehntelang durch Misstrauen an der Wurzel vergiftet waren, und dass Abrüstung ohne Vertrauen nicht zu haben ist.
Doch woher das Misstrauen rührte und weshalb es sich schier unverwüstlich behaupten konnte, daran scheiden sich die Geister. Feindbilder? Fehlwahrnehmungen? Erfahrungen mit Krieg und Gewalt? Unvereinbare Interessen? Konkurrenz um Macht und Einfluss? Zweifellos spielten derlei Faktoren eine eminente Rolle, einzeln und in mannigfacher Überlappung erst recht. Dennoch fehlt Entscheidendes in dieser Aufzählung – der Katalysator nämlich, der aus diversen Zutaten ein toxisches Gebräu macht. Seit dem 6. August 1945, als Hiroshima buchstäblich mit einem Schlag ausradiert wurde, ist ein markanter Brandbeschleuniger aus der Geschichte der internationalen Beziehungen nicht mehr wegzudenken: Gemeint sind Nuklearwaffen in allen Größen, Variationen und Stückzahlen, verteilt auf Lafetten, Flugzeuge, Raketen und alsbald vermutlich auch auf Raumstationen.
Waffen werden entwickelt und gehortet, weil man einander nicht traut, also muss zuerst das Misstrauen aus der Welt, wenden sogenannte Realisten gegen den vermeintlich idealistischen Appell zu umfassender Abrüstung ein. Ihre These lässt sich mit Fug und Recht umdrehen: Sobald Waffenarsenale, die nuklearen zumal, abgerüstet werden, versiegt eine Urquelle des Misstrauens. Oder: Wer die materielle Substanz nicht anrührt, wird auf Dauer auch kein Vertrauen stiften können. Nichts illustriert diese These besser als ein Blick auf die Dynamik des Wettrüstens vor 1987.
Waffentechnologie
Die Kernspaltung ging mit einer beispiellosen Beschleunigung waffentechnologischer Innovation einher. Seither brauchte es für revolutionäre Umwälzungen nicht mehr Jahrzehnte, sondern nur noch wenige Jahre. Kaum war die Atombombe in der Welt, wurde auch schon die ungleich wuchtigere Wasserstoffbombe in Dienst gestellt, bei den Trägersystemen verdrängten Raketen mit interkontinentaler Reichweite alsbald die Langstreckenbomber, Satelliten übernahmen wesentliche Teile militärischer Kommunikation und Koordination. Und fortan hatte jede Seite die jeweils andere im Verdacht, kurz vor weiteren Durchbrüchen zu stehen und sich entscheidende Vorteile verschaffen zu wollen.
Vor allem aber gehörte die Unterscheidung zwischen offensiven und defensiven Waffen nun endgültig der Vergangenheit an. Praktisch alle konnten für jeden Zweck eingesetzt werden, und je mehr Gelder in Forschung und Entwicklung flossen, desto uferloser wurde das allseitige Misstrauen. Entsprechend atemlos war man darauf bedacht, nicht ins Hintertreffen zu geraten – könnte die Gegenseite doch versucht sein, einen Vorsprung für Entwaffnungsschläge zu nutzen, solange die technologische Lücke offen und das Gleichgewicht gestört blieb. Davon handelten die Phantasien über Präventivkriege, vorbeugende Attacken im Verdachtsfall oder "chirurgische Angriffe" gegen Waffenkammern. Zu beobachten war eine schrittweise Entwertung politischen Denkens durch die suggestive Kraft der Technologie.
Überlegene Technik könnte zum Angriff verleiten, Arglose könnten wehrlos sein, verschlagene Feinde könnten sich Hintertüren offenhalten: Die Sophistik im ewigen Konjunktiv nährte Generationen von Experten in Denkfabriken, Universitäten oder Militärbürokratien. Stets war der schlimmstmögliche Fall ihr Bezugspunkt, die Negation politischen Vertrauens und die Pflege von Feindbildern ihr Geschäft. Dafür steht die ununterbrochene Karriere der "Ein-Prozent-Theorie": Seit den 1950er Jahren in Umlauf, postuliert diese Doktrin eine "proaktive" Sicherheitspolitik und mit ihr den Willen, Schaden abzuwehren, bevor er eingetreten ist. Demnach muss man davon ausgehen, dass minimale Gefährdungen sich jederzeit zu maximalen Gefahren auswachsen können – und das zu einem Prozent Mögliche für das zu einhundert Prozent Wahrscheinliche halten. Wer auf diese Weise den Ausnahmezustand zum Normalfall erklärt, ist auch um ein Gegenmittel nicht verlegen: permanent preparedness – ständige Bereitschaft zum Krieg aus dem Stand – lautete die in den USA geprägte und von der Sowjetunion im Handumdrehen adaptierte Formel. In der Praxis wurde daraus eine Handreichung für militärische Überlegenheit als optimale Rückversicherung für den Fall der Fälle – womit der Kreis geschlossen und ein politischer Katechismus des Misstrauens fixiert war.
Gemeinhin wird an dieser Stelle darauf verwiesen, dass trotz alledem Atomwaffen eine Art "negatives Vertrauen" stiften – die Zuversicht nämlich, dass selbst bösartige Rivalen sich im Zweifel vom Interesse an ihrer Selbsterhaltung leiten lassen und vor selbstmörderischen Aktionen zurückschrecken. Tatsächlich ist ein "nukleares Tabu" in die Geschichte des Kalten Krieges eingeschrieben. Der US-Präsident Dwight D. Eisenhower und der britische Premierminister Winston Churchill warnten in den 1950er Jahren vor einem "Selbstmord der menschlichen Rasse", auch der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow relativierte im Nachhinein seine habituellen Drohgebärden mit unmissverständlichen Worten: "Unsere mutmaßlichen Feinde hatten vor uns die gleiche Angst wie wir vor ihnen. (…) Fast alle wussten, dass Krieg unannehmbar und Koexistenz grundlegend war."
Andererseits hebelten alle Beteiligten ihre Rationalitätserwartungen hinterrücks wieder aus. Weil das Worst-Case-Denken die Oberhand behielt, wurde in Ost wie West unablässig über das angeblich Undenkbare nachgedacht – in Büchern, Aufsätzen und Reden für die Öffentlichkeit und streng geheimen Generalstabsplanungen für den internen Gebrauch. Operative Details blieben selbstverständlich unter Verschluss; dennoch sollte die Gegenseite keinen Zweifel an der eigenen Fähigkeit und Entschlossenheit hegen, zur Not auch einen Atomkrieg zu riskieren. Mit dem stummen Drohpotenzial der gebunkerten Waffen war es also nicht getan, ein lautstarkes Einschüchtern und imposante Kulissen waren nicht minder gefragt. Dies führte zu dem Ergebnis, dass Heerscharen von Exegeten sich über die einschlägigen Publikationen hermachten und nach Indikatoren für Kriegsbereitschaft oder Kriegswillen suchten. "Defense Intellectuals" lautete die Selbstbeschreibung dieser Experten, als solche wollten sie anerkannt werden – zu Unrecht, denn von kühl abwägender Distanz zu ihrem Thema war nichts zu spüren. Stattdessen gefielen sie sich in der Rolle dauerhaft aufgeregter Gewährsleute des Misstrauens.
Nuklearstrategien
Die in Ost und West ständig hin- und her gewälzten Fragen sprechen für sich. War es im Ernstfall möglich, die Gegenseite weitgehend oder gar komplett zu entwaffnen? Oder wäre man zumindest in der Lage, die Schäden eines Gegenschlages soweit einzudämmen, dass die Regenerationsfähigkeit der eigenen Gesellschaft gewahrt blieb? Egal, welche Szenarien durchgespielt wurden, in einem Punkt waren sich amerikanische und sowjetische Strategen einig: In einem Atomkrieg blieb nur die Wahl zwischen Offensive oder sofortiger Niederlage. Deshalb zirkulierten seit den 1950er Jahren im Pentagon Modelle eines "Blitzkrieges", der binnen Stunden die UdSSR in eine radioaktive Ruine verwandelt hätte, und man behielt sich weitere 20 Jahre lang vor, der Sowjetunion im Krisenfall mit einem Erstschlag zuvorzukommen. Dass die Verantwortlichen in Moskau unter umgekehrten Vorzeichen dasselbe dachten und umso mehr auf Offensive setzten, je weniger sie sich eine Abwehr amerikanischer Hightechwaffen zutrauten, war ebenfalls bekannt und heizte die Nervosität in den USA zusätzlich an.
Der Rest ist eine Geschichte mit Variationen, in Gang gehalten durch Trägersysteme und Sprengköpfe mit ständig optimierter Zielpräzision. Seit den späten 1970er Jahren fabulierte man in den USA darüber, die Entscheidungs- und Kommandozentralen des Gegners durch punktgenaue Treffer ausschalten zu können. In der UdSSR wurde im Gegenzug ein System in Auftrag gegeben, das im Falle einer "Enthauptung" der politisch-militärischen Führung einen vollautomatisierten Gegenschlag auslösen sollte – eine Weltuntergangsmaschine im Geiste von Dr. Strangelove aus Stanley Kubricks gleichnamigem Film. Selbst in diesem skurrilen Szenario lebte die Idee der Schadensbegrenzung und des Neuanfangs nach Armageddon weiter.
Zu beobachten war ein Denken im ewigen Modus der Verneinung: als ob man im Kriegsfall dem unabwendbaren Totalschaden auf wundersame Weise entrinnen könnte, als ob sich die Waffentechnologie mit ihren eigenen Mitteln schlagen ließe, und als ob der Krieg als Mittel der Politik doch noch zu retten wäre. Tatsächlich wurde in den USA das "Undenkbare" wiederholt wie eine politisch akzeptable, mithin beherrschbare Option gehandelt – in den 1950er Jahren während der Kriege in Korea und Vietnam sowie im Streit um die chinesischen Quemoy- und Matsu-Inseln, während der Berlin-Krise 1961, nach der Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba 1962 und angesichts des chinesischen Nuklearprogramms in den 1960er Jahren.
Hinter derlei Bramarbasieren steckt unverkennbar der politische Zweck von Nuklearstrategien. Wer auf der großen Bühne der Weltpolitik mitmischen wollte, so die Annahme der Taktgeber in Ost und West, musste seine faktische Ohnmacht in den Nebel einer inszenierten Allmacht tauchen. Die endlosen Appelle an Glaubwürdigkeit, Prestige und Status klangen deshalb nicht nur obsessiv, sie waren es auch. Es ging um das symbolische Schärfen einer im Grunde nutzlosen Waffe, einer klassischen Maxime von Großmachtpolitik folgend: Auf die Androhung von Gewalt zu verzichten, ist gleichbedeutend mit einem Abstieg in untere Gewichtsklassen; mit Einschüchterung und Drohgebärden zu agieren, verheißt Zugewinn. Vertrauen hatte an diesem Horizont keinen Ort, nicht als normative Orientierung und schon gar nicht als politische Praxis.
"Atomare Diplomatie"
Das Spiel mit Unwägbarkeit, Verunsicherung und Angst, auch "atomare Diplomatie" genannt, beherrschten verschiedene Großmeister. Nikita Chruschtschow drohte wegen der Suezkrise 1956 gleich drei Großstädten – London, Paris und Tel Aviv – mit Raketenangriffen, kurz darauf setzte er in Berlin die Daumenschrauben an, zu guter Letzt glaubte er gar, die USA mit der Stationierung von Atomraketen auf Kuba vor aller Welt als zahnlose Großmacht blamieren zu können. Kriegerische Absichten hegte er nirgendwo. Aber den Weltmachtstatus der UdSSR im Stil eines Erpressers zu beglaubigen, war ihm eine unwiderstehliche Versuchung. US-Präsident Richard Nixon dachte ähnlich und erklärte Unberechenbarkeit zur hohen Kunst der Diplomatie. Menschen und Mächte, die sich gerieren, als hätten sie teilweise den Verstand verloren, können sich offenbar besonders gut durchsetzen – dieser "Madman-Theorie" folgte Nixon nicht nur, um in Vietnam optimale Bedingungen für einen Friedensschluss herauszuschlagen. Durch die Suggestion eigener Unberechenbarkeit – und damit Gefährlichkeit – wollte er der UdSSR auch im Nahen Osten die Grenzen ihrer Macht aufzeigen. Die sowjetische Führung durchschaute das Spiel jedoch und ließ ihn ins Leere laufen. Andererseits dienten ihr Nixons Auftritte als willkommene Legitimation eigener Hochrüstung, sollte doch alle Welt einsehen, dass sich Moskau nicht erpressen ließ, erst recht nicht von Verrückten.
Den letzten Akt "atomarer Diplomatie" im Kalten Krieg läutete Ronald Reagan unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1981 ein. Nicht genug damit, dass Außenminister Alexander Haig über "wichtigere Dinge als Frieden" und Verteidigungsminister Caspar Weinberger über führ- und gewinnbare Atomkriege schwadronierten.
Vor diesem Hintergrund geriet selbst ein Routinemanöver wie die Nato-Gefechtsstandübung "Able Archer" vom November 1983 zum Politikum. Dass die Militärbündnisse in Ost und West in regelmäßigen Abständen alle möglichen Szenarien der Eskalation vom konventionellen zum nuklearen Krieg durchspielten, war gewiss nichts Neues. In diesem Fall aber wertete der Kreml eine nicht angekündigte Neucodierung nuklearer Einsatzbefehle als bewusste Provokation. Was genau man den USA unterstellte und wer in der sowjetischen Befehlskette für die Gegenmaßnahmen verantwortlich zeichnete, ist unklar. In jedem Fall standen atomwaffenbestückte Kampfflugzeuge mit laufenden Triebwerken auf Startbahnen in der DDR, wurden Infanterie in Osteuropa in Kampfbereitschaft und ein Teil der Interkontinentalraketen in erhöhten Alarmzustand versetzt. Eindruck zu schinden, stand wieder einmal obenan, ungeachtet der Tatsache, dass unkalkulierbare Risiken in derlei Pokerspiele eingepreist waren.
INF-Vertrag: Muster ohne Wert?
Der Kreml wusste sehr wohl, dass die Regierung Reagan keinen Atomkrieg vom Zaun brechen wollte.
Dass trotz alledem mit dem INF-Vertrag 1987 eine Wende gelang, überraschte die Zeitgenossen und gibt Historikern noch heute Rätsel auf. Vermutlich fügte sich Unerwartetes zur rechten Zeit: einerseits die Erschöpfung tradierten Machtgehabes, ablesbar an eindrucksvollen Protestaktionen gegen Nachrüstung und imperiale Rhetorik, und andererseits das Insistieren von Michail Gorbatschow auf einem "Neuen Denken". In jedem Fall folgte der sicherheitspolitische Diskurs einer neuen Grammatik. Mit militärischer Abgrenzung ist keiner Seite gedient, wohl aber profitieren alle von einem Wandel durch politische Annäherung – darum ging es. Sodann: Vertrauen entsteht nicht im spannungsgeladenen Nebeneinander von diplomatischer Entspannung und militärischer Abschreckung, sondern erst, wenn Sicherheit als gemeinsames Gut verstanden wird. Nicht wie ehedem als Trennendes, das man auf Kosten anderer erwirbt, sondern als Verbindendes, das man mit anderen bewirtschaftet und teilt.
Der schwedische Ministerpräsident Olof Palme, die österreichischen und deutschen Bundeskanzler Bruno Kreisky und Willy Brandt sowie dessen Minister Egon Bahr hatten das Modell "Gemeinsamer Sicherheit" seit den 1970er Jahren vorgedacht, Gorbatschow griff es auf und scheute auch vor der Konsequenz nicht zurück: dass man sich auf ein Experiment mit ungewissem Ausgang einlassen muss, dass Vertrauensbildung den Mut zum Risiko und die Bereitschaft zum Scheitern voraussetzt. Indem er die amerikanische Weltraumrüstung vom Streit um Mittelstreckenraketen in Europa entkoppelte, ging der sowjetische Parteichef sogar das Wagnis einseitiger Vorleistungen ein.
Warum das Konzept "Gemeinsame Sicherheit" in den vergangenen 20 Jahren unter die Räder gekommen ist, sei dahingestellt. Zeitgemäß ist es freilich noch immer, gerade in einer Welt, die sich mit ungewohnten Herausforderungen konfrontiert sieht. Und weil seit Jahr und Tag nicht mehr ernsthaft über politische Sicherheitsarchitekturen als Alternative zu militärisch definierter Sicherheit gestritten wird, ist auch Einsteins Wort von der "tristen Epoche" nichts hinzuzufügen. Außer dem Hinweis, dass mittlerweile neun Staaten Atomwaffen besitzen