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Die Green Card: Inszenierung eines Politikwechsels

Holger Kolb

/ 15 Minuten zu lesen

Die deutsche Green Card gilt vielfach als der Wendepunkt zu einer rationalen Einwanderungspolitik. Verortet man die Maßnahme jedoch im Gesamtkontext deutscher Einwanderungspolitik, werden eher Kontinuitäten als Strukturbrüche sichtbar.

Einleitung

In Deutschland galt Migration für die Entwicklung im Herkunftsland der Migrantinnen und Migranten lange Zeit als negativ: Die Schaffung von Möglichkeiten des permanenten Aufenthaltes von hoch qualifizierten Fachkräften vor allem aus Entwicklungsländern wurde als entwicklungspolitisch verwerflich angesehen und sollte daher vermieden werden.

Durch die Anwerbung von hoch Qualifizierten, so die dominierende Annahme, könnten reiche Industrieländer Ausbildungskosten nach außen verlagern und armen Entwicklungsländern die dort dringend benötigten Fachkräfte entziehen, so dass eine aufholende Entwicklung im Sinne der Modernisierungstheorie konterkariert werde. In der Ausgestaltung der deutschen Einwanderungspolitik für hoch Qualifizierte galt folglich lange Zeit auch das Primat entwicklungspolitischer über wirtschaftspolitische Grundsätze. Signifikant wurde dies durch die (bis auf wenige Ausnahmen) restriktiven Regelungen für die Anwerbung hoch Qualifizierter, die erst durch die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes (ZuwG) abgelöst wurden, und im Umgang mit ausländischen Universitätsabsolventen.

Im ersten Fall ermöglichten die Normen der Anwerbestoppausnahmeverordnung (§ 5 Nr. 2 ASAV) ausländischen hoch Qualifizierten nur unter sehr strengen Auflagen und nach einer intensiven Einzelfallprüfung eine Einreise nach Deutschland - bis zum Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005. Dieser Passus knüpft an eine Arbeitserlaubnis für Fachkräfte mit Hochschul-/Fachhochschulausbildung oder vergleichbarer Qualifikation die Bedingung, dass "wegen ihrer besonderen fachlichen Kenntnisse ein öffentliches Interesse besteht". Die vom Verordnungsgeber gewollte Restriktion wurde zwar rechtlich umgesetzt. Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist ein öffentliches Interesse aber selbst dann noch nicht ausreichend begründet, wenn ein privater Arbeitgeber einen ausländischen Arbeitnehmer dringend benötigt: also auch dann nicht, wenn keine arbeitsmarktpolitischen Bedenken bestehen. Die Prüfung des öffentlichen Interesses verlangte in diesem Zusammenhang eine über die Arbeitsmarktprüfung hinausgehende Würdigung öffentlicher Belange und umfasste alle öffentlich-rechtlichen Aspekte. Diese gingen über die bloße Situation am Arbeitsmarkt hinaus und bezogen wirtschaftliche, soziale und sonstige allgemeinpolitische Interessen ein. Sie erforderten eine intensive Einzelprüfung. Dementsprechend wurde von den Regelungen des § 5 Nr. 2 ASAV wenig Gebrauch gemacht.

Aus entwicklungsideologischen Gründen verfolgte man zudem lange Zeit die ökonomisch gesehen fast paradoxe Praxis, ausländische Studierende in Deutschland erst (teuer) auszubilden, sie nach ihrem Studienabschluss aber zu zwingen, das Land zu verlassen. Nach dem Ausländergesetz von 1990 konnte eine Aufenthaltserlaubnis für eine Erwerbstätigkeit frühestens nach Ablauf einer Frist von einem Jahr nach der erzwungenen Ausreise erteilt werden. Diese Härte konnte durch den Ausnahmevermerk des § 28, Abs. 3, S. 2, 2. Halbsatz des Ausländergesetzes (AuslG), der bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses greifen sollte, wegen einer sehr restriktiven Rechtsprechung nur wenig gemindert werden. So urteilte das Bundesverwaltungsgericht, dass das öffentliche Interesse an der Beschäftigung das Interesse der Wahrung des entwicklungspolitischen Grundsatzes überwiegen müsse, was in der Realität kaum nachzuweisen war. Das entwicklungspolitisch notorisch schlechte "deutsche Gewissen" wurde an dieser Stelle also höchstrichterlich bestätigt.

Deutschlands schlechtes Gewissen

Die Green Card ist nicht nur in der wissenschaftlichen Diskussion, sondern auch in politischen Verlautbarungen vorschnell mit positiven wie negativen Superlativen bedacht worden. Innerhalb der Gewerkschaften vertrat der damalige IG-Metall-Chef Klaus Zwickel mit seiner Rede von der "Roten Karte für Arbeitslose" eine Extremposition. Er wurde jedoch vom Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) noch übertroffen, der in der Green Card gar einen "Verrat an den Arbeitnehmern und Arbeitslosen" sehen wollte. Befürworter wie die Bundesausländerbeauftrage Marieluise Beck hingegen begrüßten diese überschwänglich als Beginn einer pragmatischen und ideologiefreien Einwanderungspolitik.

In einer streng entwicklungspolitischen Perspektive lässt sich bei einer Betrachtung der institutionellen Ausgestaltung der Green Card tatsächlich deutlich machen, dass in diesem Bereich die Einschätzung eines Paradigmenwechsels zutreffend ist, da die Maßnahme mit der dominierenden Interpretation von Entwicklungspolitik brach. Dies geschah zunächst mit "angezogener Handbremse" und wurde erst später im Zuwanderungsgesetz zum Abschluss gebracht.

Die Green Card war zunächst nichts anderes als die Kombination einer arbeits- und einer aufenthaltsrechtlichen Verordnung, die es Fachkräften aus dem Nicht-EU-Ausland, die einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss in einem IT-relevanten Studienfach haben oder in dieser Branche ein Gehalt von mindestens 51 130 Euro nachweisen können, ab dem 1. August 2000 ermöglichte, für maximal fünf Jahre in Deutschland zu arbeiten. Deutliche Unterschiede zu den davor relevanten Möglichkeiten für Unternehmen mit Bedarf an IT-Fachkräften bestanden vor allem in der Verfahrensgestaltung: Der bis zu diesem Zeitpunkt obligatorische und mühsame Weg über die Botschaften entfiel. Betroffene IT-Fachkräfte konnten die Zusicherung einer Arbeitserlaubnis und die nötigen Visa direkt über die zuständigen Arbeitsämter erhalten. Daneben entfiel die bisher übliche, mit einer vierwöchigen Mindestdauer verbundene obligatorische Prüfung der Arbeitsmarktlage.

Die Green Card führte somit zu einer Verwaltungsvereinfachung, wodurch die Anwerbung hoch qualifizierter IT-Fachkräfte beschleunigt werden konnte. Die deutliche Lockerung der strengen Anwerbemaßstäbe ist auch ein signifikantes Anzeichen für ein verändertes entwicklungspolitisches Denken: Das Dogma, wonach die Anwerbung hoch Qualifizierter bzw. die Beschäftigung von Studienabsolventen aus Entwicklungsländern mit einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik unvereinbar sei, wurde durch die Green Card erstmals vorsichtig in Frage gestellt. Green-Card-Kritiker hatten postwendend vor allem vermeintlich schädigende Auswirkungen der Maßnahmen auf die Entsendeländer hervorgehoben. Jürgen Rüttgers, der Erfinder der nur mäßig erfolgreichen "Kinder statt Inder"-Kampagne im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2000, griff - trotz Gegenwindes sogar aus der eigenen Partei - auf das Argument angeblicher entwicklungspolitisch kontraproduktiver Wirkungen der Green Card zurück und betonte, dass es "unmoralisch [sei], aus der dritten Welt die Eliten abzuziehen". Als Angst vor der eigenen politischen Courage kann man dann allerdings die Begrenzung der durch die Green Card gewährten Aufenthaltsdauer auf maximal fünf Jahre interpretieren. Ein Motiv für diese wirtschaftspolitisch unsinnige Höchstaufenthaltsdauer war die Immunisierung gegenüber Vorwürfen, mit der Green Card die Ausbeutung des ohnehin schon geringen Humankapitals von Entwicklungsländern zu forcieren oder gar eine "kolonialistische", "anstößige", "moralisch fragwürdige migratorische Bevölkerungspolitik" zu betreiben.

Die Beschränkung auf fünf Jahre führte - wie nicht anders zu erwarten - unter den Green Card-Inhabern in Deutschland zu großer Verunsicherung. Im Vergleich zu den "Konkurrenzprodukten" anderer Länder, wie beispielsweise dem amerikanischen H-1B-Visum, das unter gewissen Bedingungen in einen dauerhaften Aufenthaltstitel umgewandelt werden kann, erschien die deutsche Lösung eher unattraktiv. So verließ der erste Green-Card-Inhaber, Harianto Wijaya, ein Informatik-Absolvent der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, wegen des unsicheren Aufenthaltsstatus bereits vor Ablauf seiner Green Card Deutschland in Richtung Amerika. Diese hauptsächlich entwicklungspolitisch motivierte "angezogene Handbremse" wurde allerdings durch das Zuwanderungsgesetz vollends gelöst. Die dort mögliche Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an "Spezialisten und leitende Angestellte mit besonderer Berufserfahrung" macht auch die Befristung der Green Card unwirksam.

Aus entwicklungspolitischer Perspektive viel bedeutender ist die in der öffentlichen Diskussion weitaus weniger thematisierte Aufenthaltskomponente der Green Card. Die Maßnahme ermöglichte nicht nur eine erleichterte Neueinreise ausländischer IT-Fachkräfte, sondern auch die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an Ausländerinnen und Ausländer, "die sich im Rahmen eines Hoch- oder Fachhochschulstudiums mit Schwerpunkt auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie" in Deutschland aufhielten und nach erfolgreichem Studienabschluss eine Beschäftigung aufnehmen wollten. Die Einschränkung, nach Studienabschluss nicht direkt in Deutschland arbeiten zu dürfen, entfiel damit zunächst für Absolventen eines IT-relevanten Studiengangs. Diese Möglichkeit stellte in einem entwicklungspolitischen Zusammenhang in der Tat eine Art Paradigmenwechsel dar, hatte man in der "Prä-Green-Card-Ära" doch einen direkten Übergang vom Studium ins Berufsleben bei ausländischen Graduierten verhindert, um einen Brain Drain (Abwanderung von hoch Qualifizierten) aus den Entwicklungsländern zu vermeiden. Die Ausbildung der Graduierten aus den Entwicklungsländern sollte demnach einen Beitrag zur Entwicklungshilfe darstellen, der sich vermeintlich nur dann für Entwicklungsländer auszahlte, wenn dieser Personenkreis nach Studienabschluss in das jeweilige Heimatland zurückkehrte. Ein direkter Berufseinstieg dieser Akademiker in Deutschland würde die entwicklungspolitischen Anstrengungen konterkarieren und sei daher nur unter sehr strengen Auflagen vertretbar. Die Green Card markiert hier einen ersten, allerdings sehr zögerlichen Strategiewechsel. Denn der mögliche direkte Übergang vom Studium in den Beruf wurde durch die Green Card exklusiv auf Absolventen in Fächern der Informations- und Kommunikationstechnologie beschränkt. Erst mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes wurde die "Bremse" endgültig gelöst. Denn nun gilt, dass ausländische Absolventen aller Studiengänge, statt ausreisen zu müssen, zunächst eine einjährige Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche erhalten und nach dem Durchlaufen einer individuellen Vorrangprüfung direkt nach dem Studium in Deutschland arbeiten können.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass gerade unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten die Green Card durchaus eine Art Kristallisationspunkt eines Strategiewechsels der deutschen Einwanderungspolitik darstellte. Mit ihr wurde von der "Politik des schlechten Gewissens" Abschied genommen, der zufolge jeder in Deutschland arbeitende hoch qualifizierte Ausländer aus einem Entwicklungsland die Entwicklungsfähigkeit dieses Landes untergrub.

Green Card als erfolgreiche Inszenierung

Die Green Card gilt nicht nur in entwicklungspolitischer Hinsicht als eine Art "kopernikanischer Wendepunkt", der die - gerade für die hoch Qualifizierten - unzeitgemäße Migrationspolitik in eine rationale und pragmatische Politik überführt habe. Die mediengerechte, als Überraschung konzipierte Inszenierung dieser Maßnahme auf der Computermesse Cebit sollte diesen Eindruck verstärken.

Strategisch hatte die Green Card für die rot-grüne Bundesregierung zwei Aufgaben zu erfüllen: Sie sollte zum einen das Image der Regierung und besonders des Bundeskanzlers als wirtschaftsfreundlicher und pragmatischer "Macher" befördern. Aus dieser Intention lässt sich auch die Einführung des falsche Tatsachen vorspiegelnden Labels "Green Card" erklären: Das begriffliche Original aus den USA verleiht Einwanderern einen dauerhaften Aufenthaltsstatus inklusive Einbürgerungsmöglichkeit. Insbesondere Innenminister Otto Schily hatte aus diesen Gründen Einwände gegen die Bezeichnung Green Card erhoben, die Bundeskanzler Gerhard Schröder allerdings mit dem Verweis auf das für die Politikvermittlung bestehende Erfordernis eines "simplen Etiketts" zurückwies.

Abgesehen vom Überraschungseffekt und von der Suggerierung von Modernität und Pragmatismus wurde mit der Green Card noch ein weiteres politisches Ziel verfolgt: Neben dem anderen einwanderungspolitischen Großprojekt der rot-grünen Regierung - einer grundlegenden Reform der Einbürgerungspolitik - sollte sie gegenüber der zum Zeitpunkt ihrer Einführung noch nicht lange abgewählten Vorgängerregierung in einwanderungspolitischen Fragen ein Zeichen von Diskontinuität und Differenz setzen. Die anfängliche öffentliche euphorische Interpretation der Green Card als Durchbruch zu einer rationalen und pragmatischen Einwanderungspolitik bildete zugleich den Hintergrund für ihre spätere Einschätzung als "Fehlschlag" oder als "unattraktiv". Die empirische Grundlage für den parteiübergreifenden Konsens hinsichtlich dieser Einschätzung bildete der schlichte Vergleich der im Vorfeld der Maßnahme im Wesentlichen von Verbandsvertretern vorgenommenen Schätzungen eines Fachkräftemangels mit der Zahl der schließlich tatsächlich auf der rechtlichen Basis der Green Card zugesicherten Arbeitserlaubnisse. Allerdings waren im Rahmen dieser Spontandiagnosen weder die sich gerade in der adressierten IT-Branche rapide ändernde konjunkturelle Situation noch eine genauere Betrachtung der internen Branchenstrukturen zum Thema gemacht worden.

Nicht intendierte Mittelstandsförderung

Für eine angemessene Einschätzung der Green Card als einwanderungspolitische Maßnahme sind vor allem die Branchenstrukturen von entscheidender Bedeutung. In ersten Publikationen wurde meist etwas verwundert auf die einseitige Verteilung der zugesicherten Arbeitserlaubnisse auf kleine und mittelständische Unternehmen hingewiesen. Anfängliche Befürchtungen, dass sich einzelne Großunternehmen aufgrund ihres bekannten Namens den "Löwenanteil" des Green-Card-Kontingentes zu Lasten der eher unbekannten Mittelständler und Start-ups sichern würden, wurden somit entkräftet; auch der eher oligopolistischen Branchenstruktur widersprachen diese Beobachtungen. In der IT-Branche als Hauptzielgruppe der Maßnahme vereinen die 20 größten Unternehmen etwa 70 Prozent des Gesamtbranchenumsatzes auf sich, die Top 30 erwirtschaften gar 86 Prozent. Nachfragen bei den marktdominanten Großunternehmen der Branche hinsichtlich deren Green-Card-Nutzung bestätigten das zunächst merkwürdig erscheinende Gefälle zwischen Unternehmensgröße und Green-Card-Inanspruchnahme.

Dies ließ sich durch eine isolierte Betrachtung der Green Card als mögliches Rekrutierungsinstrument auch nicht erklären. Eine umfangreichere Analyse aller im Rahmen des bis Ende 2004 gültigen Ausländergesetzes verfügbaren Rekrutierungsmöglichkeiten machte dabei jedoch deutlich, dass gerade die Großunternehmen Alternativregelungen nutzen können und somit auf die Green Card als Zusatzinstrument nur als zweite Option zurückgreifen mussten. Die angesprochenen, in der öffentlichen Diskussion weitgehend unbekannten Alternativen zur Green Card für Großunternehmen waren die Möglichkeiten des unternehmensinternen Arbeitskräftetransfers. Damit stand den Unternehmen der IT-Branche mit ausreichend etablierten, länderübergreifenden unternehmensinternen Arbeitsmärkten bereits vor der Einführung der Green Card ein flexibles Verfahren zur Personalallokation zur Verfügung. Für eine strukturell bedeutende Gruppe des IT-Sektors war die Green Card also als Rekrutierungsinstrument nur "zweite Wahl" und auch nicht unmittelbar notwendig, zumal in der betrieblichen Personalpolitik interne Stellenbesetzungsverfahren als wichtiges Instrument der Personalentwicklung zunehmend an Bedeutung gewannen.

Vielen Evaluationen der deutschen Green Card mangelte es an dieser Einbeziehung möglicher Alternativen. Berücksichtigt man diese, wird auch deutlich, warum weder die hinsichtlich der Green Card dominante Enttäuschungssemantik noch die Einstufung der Green Card als Neuanfang in der Einwanderungspolitik für hoch Qualifizierte gerechtfertigt ist. In einer primär wirtschaftspolitischen Perspektive entwickelte sich die Green Card nämlich zu einer Art von nichtintendierter Mittelstandsförderung. Kleine und mittelständische Unternehmen in der IT-Branche hatten dadurch im Wettbewerb um hoch qualifizierte Fachkräfte wieder ähnliche Wettbewerbsbedingungen wie Großunternehmen, die auf unternehmensinterne Arbeitsmärkte zurückgreifen konnten. Die Green Card wurde damit für kleinere Unternehmen und den Mittelstand, die vor deren Einführung nur die umständliche und zeitraubende Möglichkeit des § 5 Nr. 2 ASAV mit seiner Prüfung des öffentlichen Interesses hatten, zu einem funktionalen Äquivalent zu den unternehmensinternen, länderübergreifenden Arbeitsmärkten der international operierenden Unternehmen.

Die gängigen Einschätzungen der Green Card als "Fehlschlag" sind also nicht zutreffend: nicht nur wegen der Nichtberücksichtigung der veränderten konjunkturellen Situation, sondern auch wegen einer nicht zulässigen Verallgemeinerung der Green Card als Rekrutierungsinstrument für die gesamte IT-Branche. Ihre Bedeutung gewann die Green Card als Instrument der betrieblichen Personalpolitik nur für kleine und mittelständische Unternehmen. Bezieht man die Zahl der zugesicherten Arbeitserlaubnisse auf diese, zeigt sich, dass die Green Card von Unternehmen dieser Größenordnung trotz der konjunkturell angespannten Situation in hohem Maße in Anspruch genommen wurde. So sind im Zeitverlauf konstant etwa drei Viertel aller Green Cards kleinen und mittelständischen Unternehmen mit bis zu 500 Mitarbeitern zugesichert worden. Dies ist umso beachtlicher, wenn man berücksichtigt, dass Unternehmen dieser Größenordnung gegenüber den "global players" der Branche nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Einwanderungspolitik im "unerklärten" Einwanderungsland

Durch eine differenzierte Betrachtung der Green Card mit sorgfältiger Analyse der konjunkturellen und brancheninternen Strukturbedingungen wie auch der rechtlichen Alternativmöglichkeiten wird auch die zweite Extremposition, nämlich eine zu euphorische Einschätzung der Green Card als "Initialzündung zu einer rationalen und pragmatischen Einwanderungspolitik", zumindest relativiert. So lässt sie sich zwar in einer entwicklungspolitischen Perspektive durchaus als ein vorsichtiger Absetzversuch vom dominierenden Paradigma des "schlechten politischen Gewissens" verstehen. Interessiert man sich aber für die Modi der einwanderungspolitischen Praxis in Deutschland, so wird deutlich, dass es sich bei der Green Card weniger um eine bahnbrechende Neuerung als um eine Art Vollzug eines bereits begonnenen Prozesses handelt.

In einer nachholenden Entwicklung wurde das weltweit beobachtbare und auch in Deutschland bereits begonnene einwanderungspolitische Projekt der Gewährleistung flexibler und pragmatischer Regelungen für die Anwerbung von hoch Qualifizierten - zunächst auf eine Branche begrenzt - auch auf kleine und mittelständische Unternehmen ausgeweitet. Damit lässt sich auch für die Green Card als eine der jüngsten einwanderungspolitischen Maßnahmen im "unerklärten Einwanderungsland" Deutschland ein Politikmodus feststellen, der sich weniger durch spektakuläre Strukturbrüche als durch ein hohes Maß an administrativer Routine bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer - je nach politischer Orientierung positiv oder negativ konnotierten - sich restriktiv gebenden Schließungssemantik kennzeichnen lässt.

Klaus Bade und Michael Bommes führen in diesem Zusammenhang das Begriffspaar "pragmatische Integration" und "appellative Verweigerung" ein, um die Kontinuitäten im modus operandi deutscher Einwanderungspolitik zu beschreiben. Auch die Green Card passt demnach in dieses Muster. Als pars pro toto einer neuen Politik gegenüber hoch Qualifizierten entwickelt, haftete ihr lange Zeit das Stigma des Fehlschlags an, der exemplarisch die Rückständigkeit der deutschen Einwanderungspolitik verdeutliche. Dabei lässt sich zeigen, dass die Green Card eher als vorläufiger Abschluss eines Prozesses der Neuausrichtung von Arbeitsmigrationsbestimmungen auch an wirtschaftspolitischen Interessen zu interpretieren ist denn als völliger Neubeginn. Der entwicklungspolitische Fokus auf die Green Card verstellt also in gewisser Hinsicht den richtigen Blickwinkel für eine adäquate Gesamteinschätzung dieser Maßnahme.

So ist zweifelsohne die Green Card in einer entwicklungspolitischen Perspektive als wichtiger Vorbote des Endes der "Politik des schlechten Gewissens" zu interpretieren. Sie markiert damit für Deutschland insofern einen Paradigmenwechsel, als die aktive Rekrutierung von hoch Qualifizierten und die Beschäftigung von hier ausgebildeten Studierenden aus Entwicklungsländern nun zumindest institutionell nicht mehr unter dem Generalverdacht eines "demographischen Kolonialismus" steht. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Implementation der Green Card samt vorgelagerten Alternativregelungen sich durchaus in den dominierenden Modus des einwanderungspolitischen policy-making in Deutschland einordnen lässt. Die Green Card war demnach lediglich Gegenstand des auf der politischen Hauptbühne zum Besten gegebenen Stücks "Deutschland ist kein Einwanderungsland", während auf der spärlicher ausgeleuchteten Hinterbühne materiell relevantere Prozesse abliefen, die durch die Einführung der Green Card lediglich abgeschlossen wurden. Seit Beginn des Jahres 2005 ist die Maßnahme ohnehin nur noch Historie, abgelöst durch die weitergehenden Regelungen des neuen Zuwanderungsgesetzes. Die erste, am 1. August 2000 erteilte Green Card wird bereits im Bonner Haus der Geschichte ausgestellt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Baidyanath N. Ghosh, Economics of Brain Migration, New Delhi 1982.

  2. Vgl. für viele Wilfred J. Ethier, International Trade Theory and International Migration, in: Oded Stark (Hrsg.), Migration, Human Capital and Development, London 1986.

  3. Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Entscheidung vom 4.11. 1991. I B 132.91, Entscheidungssammlung zum Ausländer- und Asylrecht. 25. N.2, S. 2.

  4. Vgl. Dirk Meyer, Green Card - Eine ökonomische Analyse, in: Sozialer Fortschritt, 49 (2000) 5, S. 118 - 120.

  5. Vgl. Bundesverwaltungsgericht (Anm. 3).

  6. Für einen Überblick vgl. Holger Kolb, Einwanderung zwischen wohlverstandenem Eigeninteresse und symbolischer Politik. Das Beispiel der deutschen "Green Card", Münster 2004.

  7. Vgl. Wilhelm Moll/Michael E. Reichel, "Green Card" - Verfahren, Voraussetzungen und arbeitsrechtliche Fragen, in: Recht der Arbeit, (2001) 5, S. 309 - 310.

  8. So etwa der Vorwurf von Herwig Birg, Migrationsdiskurse in Deutschland zwischen Politik, Propaganda und Wissenschaft. Eröffnungsreferat zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Demographie, Wiesbaden 2003. Die Tatsache, dass die meisten der auf der Basis der Green Card sich in Deutschland aufhaltenden ausländischen Fachkräfte nach Ablauf der fünfjährigen Höchstaufenthaltsdauer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in ihre Heimatländer zurückgekehrt, sondern in Länder mit Einreise- und Aufenthaltsregelungen für hoch Qualifizierte wie etwa die USA weitergereist wären, spielte dabei keine Rolle.

  9. Vgl. Susan F. Martin/Lindsay B. Lowell, Einwanderungspolitik für Hochqualifizierte in den USA, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2002, Fakten - Analysen - Perspektiven, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 134.

  10. Vgl. den Beitrag von Dietrich Thränhardt in dieser Ausgabe. Nachdem das Zuwanderungsgesetz nach langwierigen Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition schließlich endgültig inklusive der Möglichkeit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis verabschiedet worden war, entschied sich Harianto Wijaya allerdings, wieder nach Deutschland zurückzukehren.

  11. Vgl. H. Kolb (Anm. 6), S. 21 f.

  12. Die deutsche Green Card ähnelt dementsprechend eher dem amerikanischen H-1B-Visum.

  13. Vgl. Blindflug in die Zukunft, in: Die Zeit vom 2. März 2000, S.19.

  14. Vgl. Heike Hagedorn, Wer darf Mitglied werden? Einbürgerung in Deutschland und Frankreich im Vergleich, Opladen 2001.

  15. Vgl. Klaus J. Bade/Michael Bommes, Migration und politische Kultur im "Nicht-Einwanderungsland", in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2000. Fakten-Analysen-Perspektiven, Frankfurt/M.-New York 2000, S. 199.

  16. Vgl. H. Kolb (Anm. 6), S 38.

  17. So z.B. Rolf Jordan/Klaus F. Geiger, Hoch qualifizierte Arbeitsmigration in Deutschland. Zur Entwicklung des "Green Card"-Verfahrens in der Bundesrepublik, Universität/GH Kassel. Fachbereich 5, Working Paper Nr. 12, 2002.

  18. Vgl. H. Kolb, (Anm. 6), S. 46.

  19. Vgl. ebd., S. 50 - 52.

  20. § 4 Abs. 7 ASAV ermöglicht die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an Fachkräfte eines international tätigen Unternehmens für eine Beschäftigung im inländischen Unternehmensteil, wenn die Tätigkeit im Rahmen des Personalaustausches unabdingbar erforderlich ist und der Arbeitnehmer eine Hochschul- oder Fachhochschulausbildung oder eine vergleichbare Qualifikation besitzt. § 4 Abs. 8 ASAV ermöglicht eine Arbeitserlaubnis für diese Gruppe zur Vorbereitung von Auslandsprojekten. Schließlich existiert mit § 9 Nr. 2 der Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV) die Möglichkeit, bestimmte Zuwanderergruppen gänzlich arbeitsgenehmigungsfrei über unternehmensinterne Arbeitsmärkte nach Deutschland zu bringen. Diese Möglichkeit betrifft leitende Angestellte auf Vorstands-, Direktions- und Geschäftsleitungsebene oder in sonstiger leitender Position.

  21. Vgl. exemplarisch Andres Edström/Jay R. Galbraith, Transfer of Managers as a Coordination and Control Strategy in Multinational Organizations, in: Administrative Science Quarterly, 22 (1979) 2, S. 248 - 263; Josef Fidelis Senn u.a., Arbeitsmarktpolitische Instrumente auf dem betriebsinternen Arbeitsmarkt, in: Hartmut Klein-Schneider (Hrsg.), Interner Arbeitsmarkt. Beschäftigung und Personalentwicklung in Unternehmen und Verwaltungen, Frankfurt/M. 2003, S. 108 - 123.

  22. Für einen Überblick vgl. Gail McLaughlan/John Salt, Migration Policies Towards Highly Skilled Foreign Workers. Report to the Home Office, London 2002.

  23. Vgl. Dietrich Thränhardt, Germany: An Undeclared Immigration Country, in: New Community, 21 (1995) 1, S. 19 - 36.

  24. Vgl. Peter Katzenstein, Policy and Politics in West Germany. The Growth of a Semisovereign State, Philadelphia 1987.

  25. K.J. Bade/M. Bommes (Anm. 15), S. 163 - 168.

  26. H. Birg (Anm. 8), S. 16.

  27. Vgl. K.J. Bade/M. Bommes (Anm. 15), S. 176.

  28. Hier in der Variante, dass Deutschland eben kein Einwanderungsland sei, weil es "zu unattraktiv" sei.

Dr. phil., geb. 1977; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Neuer Graben 19/21, 49069 Osnabrück.
E-Mail: E-Mail Link: hkolb@uni-osnabrueck.de
Internet: Externer Link: www.imis.uni-osnabrueck.de