Einleitung
In Deutschland galt Migration für die Entwicklung im Herkunftsland der Migrantinnen und Migranten lange Zeit als negativ: Die Schaffung von Möglichkeiten des permanenten Aufenthaltes von hoch qualifizierten Fachkräften vor allem aus Entwicklungsländern wurde als entwicklungspolitisch verwerflich angesehen und sollte daher vermieden werden.
Durch die Anwerbung von hoch Qualifizierten, so die dominierende Annahme, könnten reiche Industrieländer Ausbildungskosten nach außen verlagern und armen Entwicklungsländern die dort dringend benötigten Fachkräfte entziehen,
Im ersten Fall ermöglichten die Normen der Anwerbestoppausnahmeverordnung (§ 5 Nr. 2 ASAV) ausländischen hoch Qualifizierten nur unter sehr strengen Auflagen und nach einer intensiven Einzelfallprüfung eine Einreise nach Deutschland - bis zum Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005. Dieser Passus knüpft an eine Arbeitserlaubnis für Fachkräfte mit Hochschul-/Fachhochschulausbildung oder vergleichbarer Qualifikation die Bedingung, dass "wegen ihrer besonderen fachlichen Kenntnisse ein öffentliches Interesse besteht". Die vom Verordnungsgeber gewollte Restriktion wurde zwar rechtlich umgesetzt. Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist ein öffentliches Interesse aber selbst dann noch nicht ausreichend begründet, wenn ein privater Arbeitgeber einen ausländischen Arbeitnehmer dringend benötigt: also auch dann nicht, wenn keine arbeitsmarktpolitischen Bedenken bestehen. Die Prüfung des öffentlichen Interesses verlangte in diesem Zusammenhang eine über die Arbeitsmarktprüfung hinausgehende Würdigung öffentlicher Belange und umfasste alle öffentlich-rechtlichen Aspekte. Diese gingen über die bloße Situation am Arbeitsmarkt hinaus und bezogen wirtschaftliche, soziale und sonstige allgemeinpolitische Interessen ein.
Aus entwicklungsideologischen Gründen verfolgte man zudem lange Zeit die ökonomisch gesehen fast paradoxe Praxis, ausländische Studierende in Deutschland erst (teuer) auszubilden, sie nach ihrem Studienabschluss aber zu zwingen, das Land zu verlassen. Nach dem Ausländergesetz von 1990 konnte eine Aufenthaltserlaubnis für eine Erwerbstätigkeit frühestens nach Ablauf einer Frist von einem Jahr nach der erzwungenen Ausreise erteilt werden. Diese Härte konnte durch den Ausnahmevermerk des § 28, Abs. 3, S. 2, 2. Halbsatz des Ausländergesetzes (AuslG), der bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses greifen sollte, wegen einer sehr restriktiven Rechtsprechung nur wenig gemindert werden. So urteilte das Bundesverwaltungsgericht, dass das öffentliche Interesse an der Beschäftigung das Interesse der Wahrung des entwicklungspolitischen Grundsatzes überwiegen müsse,
Deutschlands schlechtes Gewissen
Die Green Card ist nicht nur in der wissenschaftlichen Diskussion, sondern auch in politischen Verlautbarungen vorschnell mit positiven wie negativen Superlativen bedacht worden.
In einer streng entwicklungspolitischen Perspektive lässt sich bei einer Betrachtung der institutionellen Ausgestaltung der Green Card tatsächlich deutlich machen, dass in diesem Bereich die Einschätzung eines Paradigmenwechsels zutreffend ist, da die Maßnahme mit der dominierenden Interpretation von Entwicklungspolitik brach. Dies geschah zunächst mit "angezogener Handbremse" und wurde erst später im Zuwanderungsgesetz zum Abschluss gebracht.
Die Green Card war zunächst nichts anderes als die Kombination einer arbeits- und einer aufenthaltsrechtlichen Verordnung, die es Fachkräften aus dem Nicht-EU-Ausland, die einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss in einem IT-relevanten Studienfach haben oder in dieser Branche ein Gehalt von mindestens 51 130 Euro nachweisen können, ab dem 1. August 2000 ermöglichte, für maximal fünf Jahre in Deutschland zu arbeiten.
Die Green Card führte somit zu einer Verwaltungsvereinfachung, wodurch die Anwerbung hoch qualifizierter IT-Fachkräfte beschleunigt werden konnte. Die deutliche Lockerung der strengen Anwerbemaßstäbe ist auch ein signifikantes Anzeichen für ein verändertes entwicklungspolitisches Denken: Das Dogma, wonach die Anwerbung hoch Qualifizierter bzw. die Beschäftigung von Studienabsolventen aus Entwicklungsländern mit einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik unvereinbar sei, wurde durch die Green Card erstmals vorsichtig in Frage gestellt. Green-Card-Kritiker hatten postwendend vor allem vermeintlich schädigende Auswirkungen der Maßnahmen auf die Entsendeländer hervorgehoben. Jürgen Rüttgers, der Erfinder der nur mäßig erfolgreichen "Kinder statt Inder"-Kampagne im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2000, griff - trotz Gegenwindes sogar aus der eigenen Partei - auf das Argument angeblicher entwicklungspolitisch kontraproduktiver Wirkungen der Green Card zurück und betonte, dass es "unmoralisch [sei], aus der dritten Welt die Eliten abzuziehen". Als Angst vor der eigenen politischen Courage kann man dann allerdings die Begrenzung der durch die Green Card gewährten Aufenthaltsdauer auf maximal fünf Jahre interpretieren. Ein Motiv für diese wirtschaftspolitisch unsinnige Höchstaufenthaltsdauer war die Immunisierung gegenüber Vorwürfen, mit der Green Card die Ausbeutung des ohnehin schon geringen Humankapitals von Entwicklungsländern zu forcieren oder gar eine "kolonialistische", "anstößige", "moralisch fragwürdige migratorische Bevölkerungspolitik" zu betreiben.
Die Beschränkung auf fünf Jahre führte - wie nicht anders zu erwarten - unter den Green Card-Inhabern in Deutschland zu großer Verunsicherung. Im Vergleich zu den "Konkurrenzprodukten" anderer Länder, wie beispielsweise dem amerikanischen H-1B-Visum, das unter gewissen Bedingungen in einen dauerhaften Aufenthaltstitel umgewandelt werden kann,
Aus entwicklungspolitischer Perspektive viel bedeutender ist die in der öffentlichen Diskussion weitaus weniger thematisierte Aufenthaltskomponente der Green Card. Die Maßnahme ermöglichte nicht nur eine erleichterte Neueinreise ausländischer IT-Fachkräfte, sondern auch die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an Ausländerinnen und Ausländer, "die sich im Rahmen eines Hoch- oder Fachhochschulstudiums mit Schwerpunkt auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie" in Deutschland aufhielten und nach erfolgreichem Studienabschluss eine Beschäftigung aufnehmen wollten. Die Einschränkung, nach Studienabschluss nicht direkt in Deutschland arbeiten zu dürfen, entfiel damit zunächst für Absolventen eines IT-relevanten Studiengangs. Diese Möglichkeit stellte in einem entwicklungspolitischen Zusammenhang in der Tat eine Art Paradigmenwechsel dar, hatte man in der "Prä-Green-Card-Ära" doch einen direkten Übergang vom Studium ins Berufsleben bei ausländischen Graduierten verhindert, um einen Brain Drain (Abwanderung von hoch Qualifizierten) aus den Entwicklungsländern zu vermeiden. Die Ausbildung der Graduierten aus den Entwicklungsländern sollte demnach einen Beitrag zur Entwicklungshilfe darstellen, der sich vermeintlich nur dann für Entwicklungsländer auszahlte, wenn dieser Personenkreis nach Studienabschluss in das jeweilige Heimatland zurückkehrte. Ein direkter Berufseinstieg dieser Akademiker in Deutschland würde die entwicklungspolitischen Anstrengungen konterkarieren und sei daher nur unter sehr strengen Auflagen vertretbar. Die Green Card markiert hier einen ersten, allerdings sehr zögerlichen Strategiewechsel. Denn der mögliche direkte Übergang vom Studium in den Beruf wurde durch die Green Card exklusiv auf Absolventen in Fächern der Informations- und Kommunikationstechnologie beschränkt. Erst mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes wurde die "Bremse" endgültig gelöst. Denn nun gilt, dass ausländische Absolventen aller Studiengänge, statt ausreisen zu müssen, zunächst eine einjährige Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche erhalten und nach dem Durchlaufen einer individuellen Vorrangprüfung direkt nach dem Studium in Deutschland arbeiten können.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass gerade unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten die Green Card durchaus eine Art Kristallisationspunkt eines Strategiewechsels der deutschen Einwanderungspolitik darstellte. Mit ihr wurde von der "Politik des schlechten Gewissens" Abschied genommen, der zufolge jeder in Deutschland arbeitende hoch qualifizierte Ausländer aus einem Entwicklungsland die Entwicklungsfähigkeit dieses Landes untergrub.
Green Card als erfolgreiche Inszenierung
Die Green Card gilt nicht nur in entwicklungspolitischer Hinsicht als eine Art "kopernikanischer Wendepunkt", der die - gerade für die hoch Qualifizierten - unzeitgemäße Migrationspolitik in eine rationale und pragmatische Politik überführt habe. Die mediengerechte, als Überraschung konzipierte Inszenierung dieser Maßnahme auf der Computermesse Cebit sollte diesen Eindruck verstärken.
Strategisch hatte die Green Card für die rot-grüne Bundesregierung zwei Aufgaben zu erfüllen: Sie sollte zum einen das Image der Regierung und besonders des Bundeskanzlers als wirtschaftsfreundlicher und pragmatischer "Macher" befördern. Aus dieser Intention lässt sich auch die Einführung des falsche Tatsachen vorspiegelnden Labels "Green Card" erklären: Das begriffliche Original aus den USA verleiht Einwanderern einen dauerhaften Aufenthaltsstatus inklusive Einbürgerungsmöglichkeit.
Abgesehen vom Überraschungseffekt und von der Suggerierung von Modernität und Pragmatismus wurde mit der Green Card noch ein weiteres politisches Ziel verfolgt: Neben dem anderen einwanderungspolitischen Großprojekt der rot-grünen Regierung - einer grundlegenden Reform der Einbürgerungspolitik
Nicht intendierte Mittelstandsförderung
Für eine angemessene Einschätzung der Green Card als einwanderungspolitische Maßnahme sind vor allem die Branchenstrukturen von entscheidender Bedeutung. In ersten Publikationen wurde meist etwas verwundert auf die einseitige Verteilung der zugesicherten Arbeitserlaubnisse auf kleine und mittelständische Unternehmen hingewiesen.
Dies ließ sich durch eine isolierte Betrachtung der Green Card als mögliches Rekrutierungsinstrument auch nicht erklären. Eine umfangreichere Analyse aller im Rahmen des bis Ende 2004 gültigen Ausländergesetzes verfügbaren Rekrutierungsmöglichkeiten machte dabei jedoch deutlich, dass gerade die Großunternehmen Alternativregelungen nutzen können und somit auf die Green Card als Zusatzinstrument nur als zweite Option zurückgreifen mussten. Die angesprochenen, in der öffentlichen Diskussion weitgehend unbekannten Alternativen zur Green Card für Großunternehmen waren die Möglichkeiten des unternehmensinternen Arbeitskräftetransfers.
Vielen Evaluationen der deutschen Green Card mangelte es an dieser Einbeziehung möglicher Alternativen. Berücksichtigt man diese, wird auch deutlich, warum weder die hinsichtlich der Green Card dominante Enttäuschungssemantik noch die Einstufung der Green Card als Neuanfang in der Einwanderungspolitik für hoch Qualifizierte gerechtfertigt ist. In einer primär wirtschaftspolitischen Perspektive entwickelte sich die Green Card nämlich zu einer Art von nichtintendierter Mittelstandsförderung. Kleine und mittelständische Unternehmen in der IT-Branche hatten dadurch im Wettbewerb um hoch qualifizierte Fachkräfte wieder ähnliche Wettbewerbsbedingungen wie Großunternehmen, die auf unternehmensinterne Arbeitsmärkte zurückgreifen konnten. Die Green Card wurde damit für kleinere Unternehmen und den Mittelstand, die vor deren Einführung nur die umständliche und zeitraubende Möglichkeit des § 5 Nr. 2 ASAV mit seiner Prüfung des öffentlichen Interesses hatten, zu einem funktionalen Äquivalent zu den unternehmensinternen, länderübergreifenden Arbeitsmärkten der international operierenden Unternehmen.
Die gängigen Einschätzungen der Green Card als "Fehlschlag" sind also nicht zutreffend: nicht nur wegen der Nichtberücksichtigung der veränderten konjunkturellen Situation, sondern auch wegen einer nicht zulässigen Verallgemeinerung der Green Card als Rekrutierungsinstrument für die gesamte IT-Branche. Ihre Bedeutung gewann die Green Card als Instrument der betrieblichen Personalpolitik nur für kleine und mittelständische Unternehmen. Bezieht man die Zahl der zugesicherten Arbeitserlaubnisse auf diese, zeigt sich, dass die Green Card von Unternehmen dieser Größenordnung trotz der konjunkturell angespannten Situation in hohem Maße in Anspruch genommen wurde. So sind im Zeitverlauf konstant etwa drei Viertel aller Green Cards kleinen und mittelständischen Unternehmen mit bis zu 500 Mitarbeitern zugesichert worden. Dies ist umso beachtlicher, wenn man berücksichtigt, dass Unternehmen dieser Größenordnung gegenüber den "global players" der Branche nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Einwanderungspolitik im "unerklärten" Einwanderungsland
Durch eine differenzierte Betrachtung der Green Card mit sorgfältiger Analyse der konjunkturellen und brancheninternen Strukturbedingungen wie auch der rechtlichen Alternativmöglichkeiten wird auch die zweite Extremposition, nämlich eine zu euphorische Einschätzung der Green Card als "Initialzündung zu einer rationalen und pragmatischen Einwanderungspolitik", zumindest relativiert. So lässt sie sich zwar in einer entwicklungspolitischen Perspektive durchaus als ein vorsichtiger Absetzversuch vom dominierenden Paradigma des "schlechten politischen Gewissens" verstehen. Interessiert man sich aber für die Modi der einwanderungspolitischen Praxis in Deutschland, so wird deutlich, dass es sich bei der Green Card weniger um eine bahnbrechende Neuerung als um eine Art Vollzug eines bereits begonnenen Prozesses handelt.
In einer nachholenden Entwicklung wurde das weltweit beobachtbare und auch in Deutschland bereits begonnene einwanderungspolitische Projekt der Gewährleistung flexibler und pragmatischer Regelungen für die Anwerbung von hoch Qualifizierten - zunächst auf eine Branche begrenzt - auch auf kleine und mittelständische Unternehmen ausgeweitet.
Klaus Bade und Michael Bommes führen in diesem Zusammenhang das Begriffspaar "pragmatische Integration" und "appellative Verweigerung" ein,
So ist zweifelsohne die Green Card in einer entwicklungspolitischen Perspektive als wichtiger Vorbote des Endes der "Politik des schlechten Gewissens" zu interpretieren. Sie markiert damit für Deutschland insofern einen Paradigmenwechsel, als die aktive Rekrutierung von hoch Qualifizierten und die Beschäftigung von hier ausgebildeten Studierenden aus Entwicklungsländern nun zumindest institutionell nicht mehr unter dem Generalverdacht eines "demographischen Kolonialismus" steht.