Einleitung
Die Geschichte des neuzeitlichen Staates ist eine Geschichte der Staatszentrierung. Politik - das war und ist im Wesentlichen das, was in dem komplexen Gefüge staatlicher Institutionen und derer, die unmittelbar mit ihnen verbunden sind und auf sie einwirken, verhandelt und entschieden wird. Die Geschichte des Kolonialismus ist die Geschichte der Globalisierung dieser Verstaatlichung von Politik. Aber anders als der Diskurs der Globalisierung suggeriert, ist die Geschichte der Globalisierung nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Sie ist stattdessen auch eine Geschichte augenfälligen und dramatischen Scheiterns. In dieser Geschichte hat die der Utopie von der globalen Durchsetzung staatlicher Herrschaft einen prominenten Platz: In weiten Teilen der außerwestlichen Welt sind die Institutionalisierung des Staates und das Bemühen, das etatistische Politikmodell durchzusetzen, am Voraussetzungsreichtum moderner Staatlichkeit - und erst recht von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie - gescheitert. In zahlreichen Veröffentlichungen zum so genannten "Staatszerfall" wird dieser Misserfolg inzwischen eindringlich diskutiert.
Heute hat das nationalstaatliche Selbstverständnis auch in den westlichen Staaten Risse bekommen. Die Stichworte liefert der Globalisierungsdiskurs, der trunken ist von den Anzeichen von Ordnungen jenseits der überkommenen nationalstaatlichen Grenzen und überall "Transnationalisierung", "Translokalität", "globale Vernetzung", "Weltgesellschaft", "Weltinnenpolitik" und mit ihnen gar den "kosmopolitischen Staat" entdeckt. Zweifellos halten diese Stichworte wichtige Umwälzungen fest und formulieren Visionen für visionshungrige wirtschaftliche und politische Eliten und ihre Gefolgschaften. Aber wenn der Umgang mit dem wichtigsten aller politischen Probleme, der Zähmung kollektiver Gewalt und vor allem des Krieges, nicht von vornherein in vielen und vielleicht gerade in den schrecklichsten Fällen zur Erfolglosigkeit verurteilt sein soll, dann gilt es, einen genauen Blick für den Vorgang zu gewinnen, der in unterschiedlichen Graden und auf unterschiedlichen Ebenen zu Staatsbildungsprozessen und zur Globalisierung gegenläufig ist und dabei die politischen Ordnungen in vielen Teilen der Welt, insbesondere im subsaharischen Afrika, verändert: der machtvolle Aufstieg des Lokalen.
Es gehört zu den produktiven Seiten des Globalisierungsdiskurses, dass er nicht nur das Lokale kennt, sondern dem Lokalen sogar neue Relevanz zubilligt. Der Globalisierungsdiskurs schenkt dem Lokalen in fünf Zusammenhängen Aufmerksamkeit: Erstens misst er der Dezentralisierung von Entscheidungen und Entscheidungsprozessen, die sich einst in den nationalstaatlichen Einrichtungen konzentrierten und jetzt in transnationalen und translokalen Einrichtungen erfolgen, große Bedeutung zu. Zweitens bringt Dezentralisierung eine Vervielfältigung von Akteuren auch auf der lokalen Ebene mit sich. In der Entdeckung und im Feiern der "Akteure" der "Zivilgesellschaft" auch dort, wo es sie (wie in weiten Teilen Afrikas) in einem engeren Sinne gar nicht gibt, hat dieser Sachverhalt seinen Platz im Globalisierungsdiskurs gefunden. Drittens verweist die Globalisierungstheorie darauf, dass multinationale Unternehmen und Organisationen sich mit Tochterunternehmen und regionalen Organisationseinheiten wieder re-lokalisieren und, viertens, globalisierte Produkte, Einrichtungen, Normen und Vorstellungen lokal angeeignet werden müssen. Und schließlich münden die Herausforderungen der Globalisierung immer wieder in die Retraditionalisierung lokaler Verhältnisse. Kennzeichnend für alle diese Formen ist jedoch, dass sie unauflöslich Teil des Globalisierungsvorgangs sind. Im Globalisierungsdiskurs ist das Lokale nicht die Grenze der Globalisierung, sondern das Medium, in dem sich Globalisierung vollzieht und durchsetzt. Immer handelt es sich um Erscheinungen der "Glokalisierung", wie man seit der soziologischen Anwendung dieses Begriffs aus der ökonomischen Theorie durch Ronald Robertson
Das Lokale ist indes nicht nur ein Aspekt, sondern vielerorts auch Grenze und Widerpart des Globalen. Deshalb geht Ulrich Beck fehl, wenn er sein "Gesetz des nationalstaatlichen Machtverfalls" ausschließlich globalisierungstheoretisch begründet.
Horizontalisierung der staatlichenOrdnung
Staatszerfall hat in den postkolonialen Staaten viele Formen, von denen die Verallgemeinerung der Gewalt in kriegerischen Konflikten nur die am meisten zugespitzte Variante ist. Aber statt vorrangig den Zerfall staatlicher Ordnung zu konstatieren und zu untersuchen, ist es realitätsnäher und für praktische Zwecke vordringlich, sich zur Suche nach neuen Formen politischer Herrschaft jenseits des Staates aufzumachen. Sie sind Ergebnis wie Motor des Staatszerfalls, und ihre Entstehung ist Ursache, Anlass und Folge einer postkolonialen Entwicklung, welche sich mit dem Stichwort der "Horizontalisierung der staatlichen Ordnung" bezeichnen lässt.
Es ist ein Vorgang, in dem die vertikale Ordnung des Staates, für die das Gewaltmonopol der Kern ist, sich in eine eher horizontale Ordnung mehr oder minder konkurrierender Einrichtungen der Gewaltanwendung und -kontrolle umbaut. An die Stelle des Gewaltmonopols und des ihm zugehörigen gesamtstaatlichen Territoriums tritt ein horizontales Gefüge konkurrierender regionaler und lokaler Sicherheitsherrschaften. Zwei seiner Varianten sind die parasouveräne und die neosegmentäre Ordnung. Für Erstere ist die Entwicklung im Norden Malis seit der Zweiten Tuaregrebellion, für Letztere Somaliland aufschlussreich.
Parasouveränität
Unter "Parasouveränität" ist eine Herrschaftsform zu verstehen, in der sich ökonomische, soziale und politische Machtzentren oder organisierte Akteursnetze lokaler oder internationaler Provenienz als politische Machtzentren innerhalb einer formell als Staat anerkannten territorialen Einheit bilden. Kennzeichnend für diese Zentren ist, dass sie einen wichtigen Teil der Souveränitätsrechte der Zentralgewalt und der anerkannten, d.h. formell und deshalb zumeist rechtlich festgelegten, Aufgaben im Kernbereich der staatlichen Verwaltung an sich ziehen. Als Enteignungsvorgang staatlicher Souveränität und Verwaltung ist der Weg zu Parasouveränität ein konfliktreicher Vorgang der "Autonomisierung" lokaler Machtzentren und international verankerter Agenturen. Die Autonomisierung kann so weit gehen, dass das Grundmerkmal von Staatlichkeit, das staatliche Gewaltmonopol, nicht nur herausgefordert wird, sondern zerbricht: Das lokale Machtzentrum bewaffnet sich und übernimmt selbst die Aufgabe, Schutz vor Gewalt zu bieten.
Anders als der Begriff "Parasouveränität" nahe zu legen scheint, handelt es sich bei Parasouveränität nicht um stabile Strukturen, sondern um Prozesse, um Vorgänge der "Paraverstaatlichung". Damit tritt an die Stelle der hierarchischen Ordnung des Staates der Prozess der Bildung von Herrschaftszentren, die innerhalb eines horizontalen Gefüges, in dem die staatliche Zentralgewalt die Rolle des Primus inter Pares hat, um Rechte, Aufgaben und vor allem Ressourcen konkurrieren, die ihnen ein Maximum an Autonomie versprechen. Parasouveränität ist nicht von sich aus sezessionistisch, obwohl sie unter Umständen ein Weg zur Abspaltung sein kann. In der Parastaatlichkeit bleibt das Lokale an das nationale Zentrum gebunden und bestärkt dessen Funktion der "Schirmherrschaft". Besonders groß ist die Bedeutung des nationalen Herrschaftszentrums in den Außenbeziehungen der national-parasouveränen Einheit. Vorrangig hier bestätigt es seine Rolle als Akteur und als Primus inter Actores.
Neben der nationalen Regierung, den Parlamenten, Parteien und Politikern gehören zum Kreis der dominanten Akteure der Parasouveränität einerseits Entwicklungshilfeorganisationen, darunter insbesondere die Organisationen der großen Geberländer und der Nichtregierungsorganisationen (NRO),
Viele Häuptlingtümer und vielleicht sogar die meisten Häuptlinge der Gegenwart sind Schöpfungen und Erben der Kolonialverwaltung. Das gilt auch für das Häuptlingtum der Ifoghas. Seine Entstehung verdankt es der französischen Kolonialherrschaft, mit deren Hilfe es zur Führung der gesamten Konföderation der Ifoghas aufstieg. Heute ist es das politisch mächtigste und einflussreichste nomadische Häuptlingtum in Mali und im Tuareggebiet. Nachdem es in der Kolonialzeit dank seiner Möglichkeiten als Intermediär zwischen Kolonialverwaltung und Bevölkerung einen wachsenden Einfluss hatte geltend machen können, setzt es diesen Machtzuwachs in der Gegenwart zunehmend in einem Umbau des einstmals administrativen zu einem parasouveränen Häuptlingtum fort. Abgesehen von den wichtigen Erfahrungen mit der Kolonialherrschaft kommen ihm dabei zwei Gegebenheiten entgegen: die Zweite Tuaregrebellion in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, d.h. die gewalttätige Auseinandersetzung mit der malischen Zentralregierung, und die Demokratisierung und Dezentralisierungsbewegung im Gefolge der neuen weltpolitischen Machtverhältnisse nach dem Ende des Kalten Krieges.
Die Tuaregrebellion erlaubte es dem Häuptlingtum in Kidal, der malischen Zentralregierung den Kern von Staatlichkeit, das Gewaltmonopol, auf regionaler Ebene erfolgreich streitig zu machen. Auf diese Weise war es ihm möglich, sich einerseits als regionale Schutzmacht gegenüber dem gewalttätigen Zentralstaat und in den gewalttätigen internen Machtkämpfen der Region zu etablieren. Andererseits stieg das Häuptlingtum für die Menschen der Region zum Verteilungszentrum der Friedensdividenden in Form von Wiederaufbau- und Entwicklungsprogrammen der malischen Zentralregierung, vor allem aber der internationalen Geberorganisationen auf. Angesichts dieser Ausgangsbedingungen nahmen die Programme der Demokratisierung und Dezentralisierung, denen auch Mali seit den neunziger Jahren - ziemlich erfolgreich - unterworfen wird, in der Region Kidal einen etwas anderen, nämlich parasouveränen Weg. An zwei folgenreichen Strukturveränderungen wird dieser Weg besonders deutlich: am Recht der Ämterbesetzung und an der Territorialisierung des Häuptlingtums.
Der koloniale Staat hatte wieder das Recht der Ämterbesetzung für die wichtigsten Positionen der Region, einschließlich der des Häuptlings, stets für sich in Anspruch genommen. Im Prozess der Demokratisierung und Dezentralisierung wird dieses Recht erheblich eingeschränkt. Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen treten jetzt an die Stelle des zentralistischen Rechts der Ämterbesetzung. Vor allem büßt die Zentralregierung das Recht ein, die Position des Häuptlings und die in seinem Umkreis liegenden Ämter "von oben" zu besetzen. Wahlen beinhalten zwar, dass das Recht der Ämterbesetzung nicht einfach auf das parastaatliche Häuptlingtum übergeht. Aber dieses nutzt alle die Möglichkeiten, die wir aus parlamentarischen Systemen kennen, um Ämter mit jenen Personen zu besetzen, die versprechen, loyal zu sein und die eigene Macht zu stärken. Wahlen im Herrschaftsbereich eines Häuptlingtums bedeuten daher nicht nur politische Mitbestimmung, sondern Stärkung des Häuptlingtums und seine Festigung im Koordinatensystem der postkolonialen Machtzentren.
Wenig beachtet, jedoch außerordentlich folgenreich für den Vorgang der Paraverstaatlichung ist die Territorialisierung des Häuptlingtums. Das vorkoloniale Häuptlingtum in Afrika hatte mit dem Territorialgrundsatz des Staates nichts im Sinn. Sein Prinzip war nicht die Herrschaft über Territorien, sondern über Menschen. Erst der Kolonialstaat brachte den Territorialgrundsatz. Der nachkoloniale Staat bemühte sich, ihn aufrechtzuerhalten. Mit Demokratisierung und Dezentralisierung ändert sich die Sachlage grundlegend: Jetzt ist es das regionale Machtzentrum, sprich: das Häuptlingtum selbst, das ein unmittelbares Interesse an der Territorialisierung seiner Herrschaft hat. Der Zugriff auf Menschen, Ämter und vor allem auf die neuen Steuern sind an die territorialen Grenzen von Wahlkreisen, Gemeinden und Regionen gebunden. Gebietsherrschaft ist für das parastaatliche Häuptlingtum nicht mehr abstrakte Herrschaft. Stattdessen bedeutet sie Wählerstimmen, Rats- und Parlamentssitze, Steueranteile, Steuerzahler. Das Territorium wird zu einer Schlüsselressource regionaler Herrschaft, und entsprechend unternehmen die Trägergruppen des Häuptlingtums große Anstrengungen, um aus dem früheren Herrschaftsraum das Territorium des parasouveränen Häuptlingtums zu machen.
Die neosegmentäre Ordnung
Eine Variante des "konstruktiven Staatszerfalls", in der lokale Institutionen und politische Prozesse ebenso ingeniös wie kon-flikthaltig "modernisiert" werden, ist die "neosegmentäre Ordnung", für die das gegenwärtige Somaliland beispielhaft ist.
Somaliland hat ein Parlament, einen Ministerrat, einen Präsidenten - zurzeit Dahir Rayale Kahin - und eine Ältestenversammlung, die "Golaha Guurtida". Formal betrachtet und übersetzt in verfassungsrechtliche Kategorien, die dem Westen vertraut sind, bilden Parlament und Ältestenversammlung ein Zweikammersystem. Sachlich und inhaltlich geht es indessen um anderes. Das Parlament ist der Ort der urbanen Elite aus rechtsgelehrten und mit der Verwaltung vertrauten Männern. Mit der Ältestenversammlung wurde hingegen der innovative und wagemutige Versuch gemacht, diejenigen Institutionen und Akteure in die "nationale" Ordnung einzubinden, die in segmentären Gesellschaften die Orte der Macht und der verbindlichen Entscheidung sind: die Repräsentanten der Klane und Subklane, der Sippen und einflussreichen Familien. Sie waren es, die den prekären Frieden im sezessionistischen Somaliland hergestellt haben und ihn heute garantieren. Mit der Ältestenversammlung sind die Repräsentanten der Klane nun bis in den institutionellen Kern der zentrastaatlichen Einrichtungen vorgestoßen. In diesem Sinne kann man sagen, dass in Somaliland das Lokale das Nationale "erobert" hat.
Somaliland kennt kein Gewaltmonopol, und der Weg zum prekären Frieden in Somaliland war nicht verbunden mit der Entwaffnung der Bevölkerung. Das macht die Konfliktregulierung nicht leichter. Nichtsdestoweniger ist es in den Verhandlungen der Klanältesten und ihrer Konfliktregelung gelungen, die gewaltbereiten Milizen, die sich nach dem Zerfall Somalias gebildet haben, auf dem Gebiet von Somaliland weitestgehend unter Kontrolle zu bringen und sogar aufzulösen und "nationale" Sicherheitskräfte von rund 7 000 Mann zu etablieren, die regelmäßig bezahlt werden und Disziplin halten. Ebenfalls in der Verantwortung der Klane liegt die Erhebung von Steuern - die Verfassung vom 31. Mai 2001 billigt dem Parlament lediglich in allgemeinster Form zu, Steuern festzusetzen. Trotz eines Gefüges gesamtstaatlicher Institutionen endet das Rechtssystem an den Grenzen der Klanordnung.
Die Erledigung all dieser heiklen Aufgaben wird erschwert, weil einerseits die Tendenz zur Abspaltung von Gruppen heute größer denn je ist und Solidarität hauptsächlich die Angehörigen vergleichsweise kleiner Gruppen mit geringer genealogischer Tiefe aneinander bindet, und andererseits Klane keine wirtschaftlichen Handlungseinheiten sind. Ungebrochen ist die Sippe die Handlungseinheit ökonomischer Allianzen. Der Gesamtstaat ist der Versuch, "die Strukturen der Klangesellschaft in die Formen staatlicher Institutionen zu pressen" und auf diesem Weg zu einer internationalen Anerkennung zu gelangen, die äußere Ressourcen für das wirtschaftlich ruinierte Land verspricht. Allerdings beruht heute die Wirtschaft Somalilands auf einer äußeren Quelle, nämlich auf den Zahlungen der im Ausland arbeitenden Somalis. Ihre Transferleistungen sind die Haupteinnahmequelle des Landes und übertreffen selbst die Einnahmen aus der Entwicklungshilfe und dem Export von Vieh. Das Lokale hat also nicht nur das Nationale, sondern in wirtschaftlicher Hinsicht sogar das Globale erobert - wenn wir die Transferzahlungen einmal anders als in der Globalisierungstheorie nicht ausschließlich als Bestandteile von globalen ökonomischen Netzwerken betrachten, sondern als ein höchst einfaches Verfahren, in dem diejenigen, die zu Hause geblieben sind, ihre weit entfernten Angehörigen an die kurze Leine legen und das Lokale gebieterisch auf das Entfernte zugreift.
Insgesamt ist Somaliland ein in vielfacher Weise lehrreiches Beispiel im Zusammenhang der Debatte über Staatszerfall. Hier seien fünf Aspekte hervorgehoben. Erstens dokumentieren Somalia und die Sezession von Somaliland im Besonderen, dass Staatszerfall nicht zwingend mit ethnischer und kultureller Vielfalt verbunden ist. Somalia wurde im Gegenteil lange Zeit als der einzige wahre Nationalstaat in Afrika angesehen, weil er eine vergleichsweise große sprachliche und kulturelle Homogenität besitzt. Zweitens ist Somaliland Beweis dafür, dass es Auswege aus dem gewalttätigen Zusammenbruch von Staaten gibt, die jenseits des Staates und in der Mobilisierung überkommener Einrichtungen und Verfahren liegen. Drittens: Entgegen dem Klischee von der Rigidität von Tradition und überkommenen "vormodernen" Institutionen, das in der westlichen Emanzipations- und Fortschrittstradition anscheinend nicht korrigierbar ist, haben sich in Somaliland diese Institutionen und Verfahren als äußerst beweglich und anpassungsfähig erwiesen. Während der Staat zerfiel, hielt die segmentäre Ordnung allen Stürmen der Geschichte in immer neuen Varianten stand, indem sie sich wieder und wieder "modernisierte". In leichter Abwandlung von Günther Schlees Begrifflichkeit kann man solcherart Kontinuität als "geschmeidige Transkontinuität" bezeichnen. Viertens: Unter den Akteuren der Friedenssuche und -konsolidierung kommt den lokalen Autoritäten eine Schlüsselrolle zu. Sie nicht zu beachten und stattdessen, wie es die Vereinten Nationen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre taten, auf die Führer von Klanmilizen aus dem wirtschaftlichen und politischen Unternehmertum der Städte und der Hauptstädte im Besonderen zu setzen unterstützt die Macht derjenigen, die an kriegerischen Auseinandersetzungen mehr verdienen als am Frieden. Und fünftens führt Somaliland vor Augen, dass Friedenskonsolidierung in zerfallenen Staaten Zeit benötigt und die Geduld der Beteiligten immens beansprucht. Nach- und Neuverhandlungen sind eher die Regel denn die Ausnahme. Tatsächlich verliert der herkömmliche Friedensvertrag seine Bedeutung. Er wird durch eine Fülle von Einzelvereinbarungen mit mehr oder minder einflussreichen Akteurskoalitionen ersetzt. Entgegen okzidentalen Rechtsvorstellungen sind darüber hinaus Friedensvereinbarungen nur Übereinkommen auf Zeit - verlässliche Garantien auf dauerhaften Frieden gibt es in segmentären Gesellschaften nicht.
Der "Kleine Krieg" - ein lokaler Krieg
Der Aufstieg des Lokalen ist eine direkte Folge vom Aufstieg des "Kleinen" oder "Neuen Krieges", der zur vorherrschenden Kriegsform geworden ist und in den vergangenen Jahrzehnten bei weitem die meisten Opfer gefordert hat. Angesichts des "globalen Kleinkrieges", für die "9/11" zur eingängigen Metapher geworden ist, gerät leicht aus dem Blick, dass der "Kleine Krieg" ein "lokaler Krieg" ist. Anders als die Kriege der Nationalstaaten werden Kleine Kriege von lokalen Akteuren und vor allem von einer Vielzahl lokaler Akteure geführt. Diese Vielzahl ist ein Spiegel dafür, wie eng die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit lokalen Konflikten verflochten und der Fortgang des Krieges und die Zielsetzungen der kriegführenden Akteure von komplexen lokalen und von nicht weniger komplexen Konflikten bestimmt sind, die das Verhältnis zwischen lokalen Gruppen und dem nationalen Herrschaftszentrum prägen. Das gilt für die Zweite Tuaregrebellion ebenso wie für die opferreichen Auseinandersetzungen in Somalia und die Sezession Somalilands.
Dem lokalen Charakter der Kriege entspricht, dass ihre Dauer eher in Jahrzehnten als in Jahren gezählt wird und sie kein Ende finden. Von außen sind sie kaum steuerbar und vor allem selten zu beenden.
Zu Recht mag man einwenden, dass mit der Erfindung des globalen Kleinkrieges nach dem Muster von "9/11" die lokale Verankerung aufgehoben ist. Aber "9/11" ist im globalen Kleinkrieg selbst nur eine der möglichen Kriegstaktiken. Nimmt man beispielsweise das Auftreten Osama Bin Ladens in den Blick, der sich gestern in Somalia, heute in Afghanistan und morgen im Irak engagiert, dann ist im globalen Kleinkrieg die räumliche Entgrenzung eingeschränkt. In allen Fällen benötigt der globale Kleinkrieg seine lokale Verankerung und ist dementsprechend von lokalen Verhältnissen abhängig.
Konfliktregulierung zwischen Globalisierung und Lokalisierung
Konfliktregulierung findet heute durch internationale und global agierende Organisationen statt. Sie ist gleichfalls Konfliktregulierung durch die Großen Mächte, allen voran durch die USA. Die Vielzahl der Einrichtungen zur Konfliktregulierung birgt zahlreiche Chancen und unterschiedliche Regelungswege, die der Multidimensionalität von Konflikten entsprechen. Diese internationalen Wege und Foren der Friedensstiftung werden indessen so lange defizitär bleiben, wie sie der gewachsenen Bedeutung des Lokalen nicht gerecht werden. Dazu sind verschiedene Voraussetzungen nötig, die hier in sechs Punkten zusammengefasst seien.
Erstens wird Konfliktregelung vor Ort zu einer primären Aufgabe. Konfliktregulierung kann nur gelingen, wenn sie Streitschlichtung "von oben" mit Streitschlichtung "von unten" sorgfältig verbindet.
Zweitens benötigen Friedensanstrengungen eine Streitregelung durch einen Dritten. In Analogie zum Recht gelingen die Friedensanstrengungen allerdings nur, wenn der Dritte ein besonderer Dritter ist. Er muss in diesem Fall aus Vertretern der Gruppen der Friedenswilligen kommen. Die Gewalttätigen lassen sich natürlich nicht vollständig aus einer Friedenslösung heraushalten. Es gilt aber, ihren herrischen Ton durch den "lokalen Chor" der Friedenswilligen zu disziplinieren. Das "Programm Mali Nord", das die deutsch-malische Kooperation entwickelt hat, um nach der Zweiten Tuaregrebellion die Wege zum Frieden zu ebnen und den Wiederaufbau und die "Entwicklung" der kriegsgeschüttelten Regionen im Norden Malis zu ermöglichen, setzte systematisch auf die Integration und Zusammenarbeit mit denen, die vor Ort auf Frieden und Versöhnung setzten.
Drittens schließen Konfliktregulierungen vor Ort ein, dass lokale und regionale Institutionen der Konfliktregulierung und lokale und regionale Lösungen gegenüber den Institutionen und Lösungsdefinitionen der internationalen und global agierenden Einrichtungen nicht zweitrangig sind. Die hohe Funktionstüchtigkeit lokaler Einrichtungen und Lösungen hat die Rechtsethnologie wieder und wieder empirisch untermauert.
Viertens werden Nichtregierungsorganisationen (NRO) zu Hauptakteuren der Friedensstiftung. Diese Rolle kommt ihnen primär zwar nicht zu, weil sie nach ihrem Selbstverständnis gemeinnützige und humanitäre Ziele verfolgen, ein Selbstverständnis, das inzwischen sehr kontrovers diskutiert wird.
Fünftens: NRO werden auch deshalb zu Hauptakteuren der Friedenssicherung, weil die Unterscheidung zwischen Konfliktregulierung und Entwicklungshilfe zunehmend schwindet und eine Entwicklungshilfe, welche zum Gewinn und zur Sicherung des Friedens beiträgt, sichtbare Erfolge auf der lokalen Ebene zeitigen muss.
Sechstens: Konfliktregulierung ohne ein Maximum an Wissen über lokale Verhältnisse und lokale Konfliktregulierung, einschließlich des Wissens um lokale Einrichtungen zur Konfliktregelung, wird an der Widerständigkeit des Lokalen scheitern. Hierfür sind die Sozialanthropologie und die Ethnologie unverzichtbar.
Der Aufstieg des Lokalen ist augenblicklich dabei, für die Wiederkehr einer europäischen Sicherheits- und Entwicklungspolitik, die auf Staats- und Nationenbildung setzt, ebenso zu einem bitteren Lehrmeister zu werden wie für eine kurzsichtig militaristische Demokratisierungspolitik, die sich nicht um lokale Verhältnisse schert. Die Toten im Irak und in Afghanistan sind die offenkundigen Belege. Die Suche nach Frieden wird heute wieder wie nie zuvor seit dem Aufstieg des Nationalstaates und seiner Kriege in "Dörfern" entschieden. Wie die Logik des Staatszerfalls, der Paraverstaatlichung, der segmentären Ordnung und des "Kleinen Krieges" ist auch die Logik des Friedens eine lokale und regionale Macht- und Herrschaftslogik. Eine Entwicklungs- und Friedenspolitik, die vom Globalen gebannt ist, Staatlichkeit bloß unterstellt und dabei nicht wahrhaben will, dass das Lokale nicht nur Teil, sondern auch machtvoller Gegenspieler des Globalen ist, und deshalb die vielfältigen Chancen alter und neuer Formen von Herrschaft und Machtkontrolle auf regionaler und lokaler Ebene nicht wahrnimmt, wird an der Widerständigkeit des Lokalen scheitern. Das Lokale ist kreativ und eigendynamisch dabei, Ordnungen jenseits des Staates zu modernisieren oder gar neu zu erfinden.