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Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko | Zerfallende Staaten | bpb.de

Zerfallende Staaten Editorial Failed States und Globalisierung - Essay Vom Entwicklungsstaat zum Staatsverfall Fragile Staaten als Problem der Entwicklungspolitik Good Governance gegen Armut und Staatsversagen Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko Der Aufstieg des Lokalen

Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko

Ulrich Schneckener

/ 15 Minuten zu lesen

Bei fragilen Staaten handelt es sich weniger um eine Bedrohung als vielmehr um ein Risiko, aus dem konkrete Bedrohungen für andere hervorgehen oder sich verstärken können.

Einleitung

In der modernen Staatenwelt erfüllt der Staat - zumindest der Theorie nach - eine doppelte Ordnungsfunktion. Zum einen übernimmt der einzelne Staat die Aufgabe, für eine spezifische Bevölkerung innerhalb konkreter Territorialgrenzen die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Zum anderen konstituieren alle Staaten gemeinsam das internationale System, sie sind damit die primären (wenn auch nicht alleinigen) Träger der globalen Ordnung. Schwache, versagende, zerfallende oder gescheiterte Staaten - allgemeiner formuliert: fragile Staaten - unterminieren beide Funktionen, sie verursachen insofern nicht nur Probleme auf nationaler oder regionaler, sondern auch auf internationaler Ebene.

In der Tat ist eine Reihe von Staaten de facto nicht in der Lage, grundlegende Funktionen und Dienstleistungen gegenüber ihren Bürgern zu erbringen sowie ihrer Verantwortung und ihren Verpflichtungen als Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft gerecht zu werden. Diese Erkenntnis ist keineswegs sonderlich originell - schon gar nicht für Experten, die sich seit Jahrzehnten mit Entwicklungs- und Transformationsländern bzw. mit Krisen- und Konfliktregionen befassen. Sie prägten Begriffe wie "Quasi-Staaten", "Para-Staaten" oder "anomische Staaten", um die mangelhafte oder fehlende Funktions- und Steuerungsfähigkeit in zahlreichen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu beschreiben. Im sicherheitspolitischen und strategischen Denken westlicher Industrienationen spielte jedoch das Phänomen fragiler Staatlichkeit systematisch keine Rolle. Es galt als ein Problem mit lokal und regional begrenzten Folgen, insbesondere für die Bevölkerung vor Ort, das zwar im Extremfall auch ein Eingreifen von außen erforderlich machte (Somalia 1992), aber im Regelfall getrost der Entwicklungspolitik und der humanitären Hilfe überlassen werden konnte.

Sicherheitsstrategien von USA und EU

Diese Wahrnehmung hat sich infolge des 11. September 2001 dramatisch geändert: Keine ernst zu nehmende sicherheitspolitische Analyse oder Strategie kann heute auf den Hinweis verzichten, dass fragile Staaten Risiken und Gefährdungen für die eigene Sicherheit bedeuten können. Die Botschaft von 9/11 ist eindeutig: Wenn lokale Problemlagen - wie etwa in Afghanistan - über lange Zeit ignoriert und sich selbst überlassen werden, können daraus globale Risiken erwachsen. In diesem Sinne vollzog die US-Regierung in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie (September 2002) einen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel: "America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones." Nicht mehr militärisch starke Staaten gelten danach als primäre Gefahr, sondern jene Staaten, die vom inneren Zerfall bedroht sind oder diesen Prozess bereits durchlaufen haben.

In der Europäischen Sicherheitsstrategie (Dezember 2003) wird ebenfalls das Problem zerfallender Staaten ("failed states") als eine der zentralen Bedrohungen internationaler Sicherheit bezeichnet, das "die globale Politikgestaltung untergräbt und die regionale Instabilität vergrößert". Dies gelte umso mehr, je stärker sich diese mit Gefährdungen wie dem internationalen Terrorismus, der organisierten Kriminalität sowie der Proliferation von Massenvernichtungswaffen verbinde.

In beiden Dokumenten werden Staatsversagen bzw. Staatszerfall als mittelbare oder gar unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit der USA bzw. der EU formuliert. Obgleich sie im Grundsatz übereinstimmen, haben beide Strategiepapiere weder einen umfassenden Ansatz zum Umgang mit fragilen Staaten anzubieten noch lassen sie eine gemeinsame Strategie erkennen - das US-Dokument setzt im Zweifel auf unilaterale, präventive Aktivitäten zum Schutz von US-Interessen, die EU-Strategie hingegen auf einen "effektiven Multilateralismus" bei der Problembewältigung. Allerdings ist schon die Analyse selbst nicht unproblematisch, da sie die Thematik einseitig auf Bedrohungsaspekte reduziert. Fragile Staaten per se sind jedoch keine Bedrohung im eigentlichen Sinne, sie bilden vielmehr die Grundlage für mögliche Bedrohungen Dritter und erschweren die Lösung von zentralen Sicherheitsproblemen. Sie stellen ein Risiko dar, aus dem konkrete Bedrohungen hervorgehen oder sich verstärken können, die wiederum die USA, Europa oder andere betreffen und insofern eine globale Dimension entfalten.

High Level Panel der Vereinten Nationen

Dieser Perspektive folgt weitgehend der Bericht A more secure world, den das von UN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzte hochrangige Expertengremium (High Level Panel) im Dezember 2004 vorgelegt hat. In dem Dokument werden sechs "Bedrohungscluster" identifiziert: 1. wirtschaftliche, soziale und ökologische Bedrohungen, 2. zwischenstaatliche Konflikte, 3. innerstaatliche Konflikte, 4. Proliferation nuklearer, radiologischer, biologischer und chemischer Waffen, 5. Terrorismus, 6. transnational organisierte Kriminalität.

Im Unterschied zu den beiden Sicherheitsstrategien von EU und USA werden "failing" und "failed states" nicht gesondert als Bedrohung aufgelistet. Die Autoren führen vielmehr das Problem fragiler Staaten indirekt ein: Letztlich, so ihre These, werde keines der genannten Sicherheitsprobleme gelöst, wenn das Phänomen schwacher, versagender oder gar gescheiterter Staatlichkeit von der internationalen Gemeinschaft weiterhin ignoriert bzw. nicht konsequent genug adressiert werde.

Dieser Zusammenhang lässt sich an ein paar Beispielen leicht illustrieren: Eine substanzielle Aids- und Seuchenbekämpfung oder eine wirksame Katastrophenvorsorge ist ohne staatliche Strukturen kaum möglich; die Bekämpfung von Armut und eine gerechtere Verteilung von Ressourcen setzen einen staatlichen Rahmen voraus; die Eindämmung von organisierter Kriminalität, die Unterbindung der nichtstaatlichen Verbreitung von Nuklearmaterial oder die Bekämpfung transnationaler Terrornetzwerke bedürfen - nicht nur, aber auch - staatlicher Kontrollmechanismen und Zwangsmittel; die Beilegung von Regionalkonflikten und Bürgerkriegen ist unmittelbar verknüpft mit der Schaffung legitimer staatlicher Strukturen.

Mit dieser Analyse erweist sich der Bericht des High Level Panel als deutlich umfassender und problemädaquater als die beiden Sicherheitsstrategien. Denn in der Tat: Das Problem fragiler Staatlichkeit verläuft quer zu "alten" und "neuen" Bedrohungen und Risiken. Seit Ende der neunziger Jahre werden vor allem vier miteinander verzahnte Entwicklungen breiter diskutiert, bei denen deutlich wird, dass fragile Staaten erhebliche Sicherheitsprobleme für Dritte produzieren bzw. verstärken können. Dieser Befund beschränkt sich keineswegs ausschließlich auf die extremen Fälle von Staatszerfall (z.B. Somalia, Afghanistan oder Demokratische Republik (Kongo). Im Gegenteil: Von den Entwicklungen sind, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, eine Reihe von Staaten betroffen, die zwar durchaus über staatliche Strukturen in Teilbereichen verfügen, deren Staatlichkeit und Stabilität jedoch "auf der Kippe" steht. Es ist daher notwendig, ein breiteres Spektrum an fragilen Staaten in den Blick zu nehmen; dies gilt umso mehr, wenn man frühzeitig gegen sich abzeichnende oder bereits stattfindende Erosionsprozesse vorgehen will.

Fragile Staaten und "neue Kriege"

Der Zerfall von Staaten, ob abrupt oder schleichend, ist nicht selten verbunden mit gewaltsamen Auseinandersetzungen, die in der Literatur als "neue Kriege" bezeichnet werden. Dabei geht es im Wesentlichen um innerstaatliche Gewaltkonflikte (Bürgerkriege), die allerdings in der Regel eine internationale Dimension annehmen, da externe Akteure aktiv beteiligt sind oder aber in Mitleidenschaft gezogen werden.

Es handelt sich zumeist um schwelende Langzeitkonflikte auf einem, verglichen mit zwischenstaatlichen Kriegen, relativ niedrigen Gewaltniveau mit gelegentlichen Eskalationen (low intensity conflicts). Obgleich innerstaatliche Kriege schon seit 1945 der vorherrschende Konflikttyp sind, lassen sich in den neunziger Jahren einige qualitative Veränderungen beobachten, die heutige Bürgerkriege grosso modo von früheren unterscheiden und die erhebliche Effekte für die staatlichen Strukturen haben. Die "neuen Kriege" sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Mischung aus regulärem Krieg, organisiertem Verbrechen und massiven Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung darstellen, bei denen sich die Unterscheidung von öffentlichen und privaten, politischen und ökonomischen Akteuren sukzessive auflöst. Betont wird dabei der Trend zur Privatisierung und Kommerzialisierung des Krieges.

Eine zentrale Rolle spielen dabei manifeste Bürgerkriegs- oder Gewaltökonomien, von denen diverse interne und externe Akteure profitieren. Die staatlichen Strukturen werden durch die Prozesse zersetzt und letztlich zerstört, wobei zumeist (vormals) staatliche Akteure ihren Teil dazu beitragen, indem sie sich an der allgemeinen Plünderung von Ressourcen beteiligen, eigene Milizen gründen oder die Armee kommerzialisieren. Gleichzeitig nimmt insgesamt die Zahl der so genannten "spoiler" zu - jener "Störenfriede", die kein oder kaum Interesse an einer Konfliktlösung und schon gar nicht an einer geordneten Staatlichkeit haben.

Fragile Staaten räumen nichtstaatlichen, gewaltkompetenten Akteuren erhebliche Spielräume ein. Dabei lassen sich verschiedene Typen unterscheiden: klassische Guerilla- und Rebellenbewegungen, Stammes- oder Clanführer, religiöse Führer, Kriegsherren (warlords), Milizen, Paramilitärs, Marodeure, Söldner und Kriminelle (z.B. Schmuggler, Drogenbarone, Banden, mafiaähnliche Kartelle), private Sicherheits- und Militärfirmen. Sie nutzen systematisch die Kontroll- und Legitimationsdefizite des Staates, sie unterwandern und unterhöhlen staatliche Institutionen und Autorität, sie füllen sogar teilweise jene Lücken, die der von Konflikten zersetzte bzw. vom Zerfall bedrohte Staat hinterlässt. Sie treten in den von ihnen dominierten Räumen als "Sicherheitsdienstleister" auf, in vielen Fällen gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung, in manchen Fällen aber durchaus mit einer gewissen Legitimation, da sie zumindest einen rudimentären Schutz bieten, der allerdings mit Wohlverhalten und Loyalität erkauft wird.

Diese Funktion üben vor allem jene Gewaltakteure aus, die in der Lage sind, auf Dauer Teile des Staatsgebietes zu kontrollieren und dort para-staatliche Strukturen etablieren. Sie üben eine De-facto-Herrschaft aus, zumeist über informelle Mechanismen, die parallel neben den formalen staatlichen Institutionen existieren. Das Ergebnis sind konkurrierende Gewaltansprüche, in manchen Fällen auch die Bildung von "Gewaltoligopolen", die das staatliche Gewaltmonopol zur Schimäre werden lassen. Diese Konstellation gilt in erster Linie für Nachkriegssituationen, in denen die Akteure, die durch den Krieg zu Einfluss gekommen sind, zumeist auch die neue Ordnung dominieren und nach ihren politischen bzw. ökonomischen Bedürfnissen gestalten.

Fragile Staaten und Terrorismus

Seit 9/11 wird vielfach eine direkte Verbindung zwischen fragilen Staaten und Terrorismus hergestellt. Allerdings sind fragile Staaten weniger eine Ursache für Terrorismus als vielmehr ein begünstigender Faktor für den Aufbau einer Infrastruktur, die für Terroristen zwingend erforderlich ist, um ihr "Geschäft" auf Dauer betreiben zu können. Zum einen können in der Tat unter den Bedingungen fragiler Staatlichkeit, zumeist infolge von innergesellschaftlichen Konflikten, lokale terroristische Strukturen entstehen, die nicht selten auch grenzüberschreitend aktiv werden. Zum anderen nutzen transnationale Terrornetzwerke vom Typ Al-Qaida fragile Staaten als Basis für ihre globalen Aktivitäten.

Dabei bieten sich vor allem Gebiete, die nicht oder nur mangelhaft unter staatlicher Kontrolle stehen, als Rückzugs- und Ruheräume, als Orte für Trainings- und Ausbildungscamps sowie als Transitpunkte an. Ferner nutzen sie Defizite des Staates, um ihre Aktivitäten zu finanzieren, um Propaganda ungehindert zu verbreiten oder um Mitstreiter anzuwerben. In der Vergangenheit kam es nicht selten zu einer Vernetzung mit lokalen, nichtstaatlichen Gewaltakteuren, da Al-Qaida-Mitglieder auf deren Infrastruktur zurückgreifen konnten (z.B. Pakistan, Philippinen, Indonesien, Jemen). Im Fokus stehen hier weniger gescheiterte Staaten oder akute Bürgerkriegsregionen, da diese auch für transnationale Terroristen ein eher "unfreundliches" Umfeld darstellen. Attraktiver sind vielmehr jene fragilen Staaten, die zwar einerseits eine ausreichende (technische) Infrastruktur zur Verfügung stellen, aber andererseits erhebliche Kontrollprobleme, zumindest in Teilen des Landes, haben.

Fragile Staaten und "Schattenglobalisierung"

Fragile Staaten ermöglichen zumeist aufgrund mangelnder Kontroll- und Steuerungskapazitäten den Auf- und Ausbau transnationaler Aktivitäten, die ihrerseits den Erosionsprozess weiter verstärken und häufig neue Probleme in anderen Weltregionen schaffen. Darunter lassen sich verschiedene Phänomene subsumieren wie etwa Geldwäsche, Kapitalflucht, Schmuggel und Kleinkriminalität, transnationale Korruption, organisierte Kriminalität, Proliferation von nuklearem Material, Drogen-, Diamanten- und Waffenhandel, unregulierte Umschlagplätze für Waren und Güter, informelle Arbeitsmärkte sowie Flucht- und Migrationsbewegungen. Ein wesentlicher Aspekt ist die Vernetzung lokaler Kriegsökonomien mit regionalen oder globalen Absatzmärkten, ohne die eine (Re-)Finanzierung der Konflikte in den meisten Fällen kaum möglich wäre.

Diese Entwicklung grenzüberschreitender "Schwarzmärkte", auch als "Schattenglobalisierung" bezeichnet, findet nicht zuletzt seinen Ausdruck in einer signifikanten Zunahme des informellen und kriminellen Sektors innerhalb der Gesellschaft, da im Zuge des schleichenden Staatszerfalls reguläre Einkommensquellen für die Masse der Bevölkerung wegfallen.

Strategien externer Akteure

In ihrer Summe haben die genannten Entwicklungen erhebliche sicherheitspolitische Implikationen - regional wie global. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die (westlich dominierte) internationale Gemeinschaft mit der Herausforderung fragiler Staatlichkeit umgeht. Für die vergangenen Jahre lassen sich vier typische Handlungsmuster unterscheiden:

  • Nicht-Engagement bzw. bewusste Passivität sind immer noch relativ verbreitet: Externe Akteure ignorieren krisenhafte Entwicklungen, die den Staatszerfall vorantreiben. Dafür mag es eine Reihe von Gründen geben: Die Schwere der Krise wird unterschätzt, der betroffene Staat steht nicht im Mittelpunkt der internationalen Öffentlichkeit, die externen Akteure sind sich unschlüssig, ob etwas und ggf. was getan werden sollte. Schließlich kann auch eine zuvor gescheiterte Einmischung die Befürchtung verstärken, sich erneut "die Finger zu verbrennen".

  • Ausüben von Einfluss und Druck auf die lokalen Akteure, um den Prozess des Staatszerfalls zu stoppen. Dies geschieht in unterschiedlicher Form - durch politischen Dialog, durch Hilfs- und Unterstützungsprogramme, durch die reguläre Entwicklungszusammenarbeit, durch besondere Vermittlungs- und Verhandlungsmissionen oder durch Monitoring (z.B. Entsendung von Beobachtern und Beratern). Die Konditionalität der externen Hilfe kann als Druckmittel eingesetzt werden, um eine Verhaltensänderung zu bewirken. Gleichwohl greifen derartige Maßnahmen in der Regel nur dann, wenn ein Land sich nicht vollständig gegen äußere Einflüsse abschottet und es vor Ort politische und gesellschaftliche Kräfte gibt, die zum Umsteuern bereit sind.

  • Androhung und Einsatz von Zwangsmitteln dienen dazu, den Willen lokaler Akteure zu brechen. Die Drohung mit diplomatischen, wirtschaftlichen oder militärischen Sanktionen soll die Regierung oder auch nichtstaatliche Gewaltakteure zwingen, bestimmte Handlungen und Praktiken zu unterlassen (z.B. Darfur/Sudan). Im Extremfall entschließt sich die internationale Gemeinschaft zum Einsatz militärischer Mittel - dies kann von Flugverbotszonen (siehe Nord-Irak) über den begrenzten Einsatz von Spezialkräften (siehe Sierra Leone) bis hin zu einem umfassenden Militäreinsatz (siehe Kosovo) reichen.

  • Die (zeitweise) Übernahme staatlicher Aufgaben in Form von Protektoraten oder protektoratsähnlichen Konstruktionen stellt die weitestgehende Intervention dar. Internationale Akteure ersetzen mit Militär- und Zivilpersonal Staatlichkeit vor Ort, substituieren oder übernehmen maßgebliche Funktionen in den lokalen Institutionen (z.B. Kosovo, Bosnien, Ost-Timor). In abgeschwächter Form gilt dies auch für Fälle, in denen internationale Akteure zumindest Teilbereiche von Staatlichkeit mehr oder minder in eigener Regie abdecken (z.B. Afghanistan). Dieser ressourcenintensive und risikoreiche Weg kann allerdings nur in Ausnahmefällen beschritten werden.

    In der Realität findet sich meist eine Kombination dieser Strategien, zumal sich die diversen externen Akteure zumeist nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen können, sondern stattdessen eigene Interessen und Prioritäten verfolgen bzw. sich inkonsequent und widersprüchlich verhalten. Zudem wird nach einer Phase des umfassenden Aktionismus nicht selten eine komplette Kehrtwendung vollzogen: Ein extremes Beispiel war Somalia, aber auch in Fällen wie Haiti, Burundi oder DR Kongo lässt sich dieser Zick-Zack-Kurs feststellen. Die erratische Abfolge von Ignorieren, Taktieren, Intervenieren und dann wieder Ignorieren dürfte am allerwenigsten hilfreich sein, wenn es darum geht, staatliche Strukturen, Institutionen und Steuerungskapazitäten nachhaltig zu stärken, sprich state-building-Prozesse im weitesten Sinne zu fördern.

    Dilemmata beim state-building



    Doch selbst wenn sich die externen Akteure auf eine Strategie für state-building-Maßnahmen verständigen können, stehen sie vor Ort vor einer Reihe von schwer lösbaren Problemen und Dilemmata. Grundsätzlich gilt: Jede Einmischung von außen verändert die Lage im jeweiligen Land. Dies ist in der Regel auch beabsichtigt, da man gezielt bestimmte Akteure unterstützt und andere nicht. Gleichwohl führt dieses Engagement zu einer Veränderung der Macht- und Kräfteverhältnisse, was unter Umständen zu einer Verschärfung von Problem- und Konfliktlagen beitragen kann. Ferner müssen externe Akteure fallspezifische Antworten auf folgende Punkte finden:

    Staatliches Gewaltmonopol versus "Störenfriede" bzw. parastaatliche Strukturen. Das zentrale Ziel der internationalen Gemeinschaft ist die Stärkung oder (Wieder-)Herstellung des legitimen staatlichen Gewaltmonopols. Doch wie soll mit jenen Kräften umgegangen werden, die keine Bereitschaft erkennen lassen, sich konstruktiv an der Stärkung von Staatlichkeit zu beteiligen, sondern im Gegenteil von der Erosion des Gewaltmonopols profitieren? Soll man manifeste para-staatliche Strukturen zerschlagen, oder besteht eine realistische Chance, diese in den Staatsaufbau zu integrieren? In den meisten Fällen müssen in der Tat state-building-Aktivitäten gegen die Interessen solcher Akteure durchgesetzt werden. Andererseits sind Fortschritte oftmals nur zu erreichen, wenn man einige dieser "spoiler" und lokalen Machthaber in den Prozess einbindet, sie an den zentralen Institutionen beteiligt bzw. ihnen für begrenzte Zeit Freiräume oder Privilegien einräumt.

    Externe Hilfe & Unterstützung versus rent-seeking-Mentalitäten. Externe Akteure stehen häufig vor dem Problem, dass die Kooperation lokaler Eliten oder zumindest von Teilen der Elite fast ausschließlich durch den Wunsch nach einer Maximierung von "politischen Renten" motiviert ist. Dies verschärft in der Regel die Abhängigkeit von externer Hilfe und birgt die Gefahr, dass etwa durch Finanzhilfen, humanitäre Hilfe oder Entwicklungsgelder klientelistische Strukturen bzw. die "Schattenökonomie" vor Ort gestärkt und damit kurz- und mittelfristige Reformen eher erschwert werden.

    Ownership versus hegemoniale Kontrolle. Inwieweit sollen die Maßnahmen von lokalen oder externen Akteuren gesteuert werden? Einerseits ist es für die Nachhaltigkeit von Reformen oder Wiederaufbaumaßnahmen notwendig, dass wesentliche Entscheidungen von den Akteuren vor Ort selbst getroffen werden (ownership). Sonst besteht die Gefahr, dass sie im Wissen darum, dass im Zweifelsfall ohnehin externe Akteure für sie entscheiden werden, nicht wirklich gezwungen sind, Blockadehaltungen oder Maximalpositionen aufzugeben bzw. die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen zu übernehmen. Andererseits darf die Präferenz für ownership nicht dazu führen, in kritischen Fällen wichtige Maßnahmen zu unterlassen. Diese müssen ggf. von Externen in eigener Regie umgesetzt werden, um humanitäre Katastrophen, den Rückfall in den Bürgerkrieg oder Gefahren für die regionale/internationale Sicherheit abzuwenden.

    Security First versus integriertem Ansatz. Sollen sich externe Akteure primär auf die Verbesserung der Sicherheitslage im Land und damit auf die Stärkung bzw. Reform des Sicherheitssektors konzentrieren? Oder muss es darum gehen, alle relevanten Bereiche von Staatlichkeit gleichermaßen im Blick zu behalten - z.B. politische Institutionen, Rechtsstaat, wirtschaftliche Aspekte, Gesundheits- und Bildungssektor? Während der erste Ansatz - auch Security First genannt - Gefahr läuft, einseitig die Kapazitäten des staatlichen Sicherheitsapparates zu stärken und damit möglicherweise politische Reformen zu unterminieren, droht der zweite Ansatz die externen Akteure auf Dauer zu überfordern. Letztlich müssen pragmatische, auf den Einzelfall abgestimmte Mittelwege gefunden werden, da für sich genommen keine der beiden Positionen überzeugen kann und auch wohl keine Aussicht auf Erfolg haben dürfte.

    Perspektiven



    Trotz dieser Dilemmata ist die Alternative, sich von Krisenregionen und fragilen Staaten fern zu halten und nach Möglichkeit abzuschotten, weder realistisch noch wünschenswert. Die Alternative des disengagement bedeutet letztlich, dass man in bestimmten Teilen der Welt die Dinge mehr oder minder sich selbst überlässt - auf die Gefahr hin, dass sich die Zustände dramatisch verschlechtern, Krisen und Kriege wahrscheinlicher werden und weitere Länder in den Sog des Staatszerfalls geraten. Notwendig ist stattdessen eine breite Debatte und Konsensbildung in- und außerhalb der UNO, um zu einer Prioritätensetzung und Aufgabenteilung beim Umgang mit fragilen Staaten zu kommen.

    Der Bericht des High Level Panels bietet hier interessante Anknüpfungspunkte: Er fordert zum einen die UN, ihre Mitgliedsstaaten und die multilateralen Geber auf, staatliche Kapazitäten in verschiedenen Bereichen zu stärken, darunter im Gesundheitssektor, bei der Terrorismusbekämpfung, beim Aufbau bzw. der Reform des Rechtsstaats, von Institutionen der Strafverfolgung und des Justizwesens, beim Schutz der Menschenrechte sowie bei der Verbesserung administrativer, grenzpolizeilicher und polizeilicher Fähigkeiten. Zum anderen schlägt er eine Reihe von institutionellen Reformen vor, um die Koordination und Strategiebildung externer Akteure im Rahmen der UN zu verbessern - der wichtigste Punkt ist hierbei die Einrichtung einer Peace-Building Commission, angesiedelt beim Sicherheitsrat. Eine Aufgabe eines solchen Gremiums könnte es sein, einigermaßen einheitliche Geberstrukturen für Krisen- und Nachkriegsgebiete zu entwickeln, um zu verhindern, dass bei jedem Fall eine neue, bisweilen wenig transparente Ad-hoc-Struktur etabliert wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert H. Jackson, Quasi-States: Sovereignty, International Relations and the Third World, Cambridge 1990; Peter Waldmann, Der anomische Staat. Über Recht, öffentliche Sicherheit und Alltag in Lateinamerika, Opladen 2002; Trutz von Trotha, Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Zerfall des Staates, von der Vorherrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit, in: Leviathan, 28 (2000) 2, S. 253 - 279.

  2. Vgl. U. S. National Security Strategy, Washington, D. C., 17. 9. 2002, S. 1.

  3. Vgl. Europäische Sicherheitsstrategie, Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel, 12. 12. 2003, S. 4 f.

  4. Vgl. Christopher Daase/Susanne Feske/Ingo Peters (Hrsg.), Internationale Risikopolitik. Der Umgang mit neuen Gefahren in den Internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2002.

  5. Vgl. A more secure world: Our shared responsibility. Report of the High Level Panel on Threats, Challenges and Change, New York 2003, S. 23 - 54.

  6. Vgl. Mary Kaldor, Neue und alte Kriege, Frankfurt/M. 1999; Mark Duffield, Global Governance and the New Wars, London 2001; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 2002.

  7. Vgl. Martin van Crefeld, Die Zukunft des Krieges, München 1998.

  8. Vgl. M. Kaldor (Anm. 6), S. 8 - 11.

  9. Vgl. Jean-Christophe Rufin (Hrsg.), Ökonomie der Bürgerkriege, Hamburg 1999; Mats Berdal/David Malone (Hrsg.), Greed and Grievance. Economic Agendas in Civil Wars, Boulder 2000; Michael Pugh/Neil Cooper (Hrsg.), War Economies in a Regional Context, Boulder 2004.

  10. Vgl. William Reno, Warlord Politics and African States, Boulder 1998; Stefan Mair, Die Globalisierung privater Gewalt, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Studie No. 10, April 2002.

  11. Vgl. Ulrich Schneckener, Transnationale Terroristen als Profiteure fragiler Staatlichkeit, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Studie No. 18, Mai 2004.

  12. Vgl. Peter Lock, Gewalt als Regulation: Zur Logik der Schattenglobalisierung, in: Sabine Kurtenbach/Peter Lock (Hrsg.), Kriege als (Über-)Lebenswelten, Bonn 2004, S. 40 - 61.

  13. Vgl. Tobias Debiel/Stephan Klingebiel/Andreas Mehler/Ulrich Schneckener, Zwischen Ignorieren und Intervenieren. Strategien und Dilemmata externer Akteure in fragilen Staaten, SEF Policy Paper No. 23, Bonn 2005, S. 3.

  14. Vgl. Ulrich Schneckener (Hrsg.), States at Risk. Fragile Staaten als Sicherheits- und Entwicklungsproblem, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Studie No. 43, November 2004, S. 184-187.

  15. Vgl. Marina Ottaway/Stefan Mair, States at Risk and Failed States. Putting Security First, Carnegie Endowment for International Peace, Policy Outlook, Washington, D. C., September 2004.

Dr. rer. pol., geb. 1968; wissenschaftlicher Mitarbeiter, Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirchplatz 3 - 4, 10719 Berlin.
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