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Vom Entwicklungsstaat zum Staatsverfall | Zerfallende Staaten | bpb.de

Zerfallende Staaten Editorial Failed States und Globalisierung - Essay Vom Entwicklungsstaat zum Staatsverfall Fragile Staaten als Problem der Entwicklungspolitik Good Governance gegen Armut und Staatsversagen Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko Der Aufstieg des Lokalen

Vom Entwicklungsstaat zum Staatsverfall

Wolfgang Hein

/ 14 Minuten zu lesen

Der Entwicklungsstaat der Nachkriegszeit weckte Erwartungen, die er selten erfüllen konnte. In armen Ländern zerstörten dann neoliberale Strategien häufig auch die wenigen positiven Ansätze.

Einleitung

Der aktuelle Diskurs über Staatsverfall, fragile oder prekäre Staatlichkeit geht davon aus, dass moderne Nationalstaatlichkeit die generelle Norm der politischen Organisation eines Territoriums darstellt. Dies setzte sich weitgehend mit dem Prozess der Dekolonisierung und mit der Dominanz modernisierungsorientierter Konzepte von Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungspolitik in der Nachkriegszeit durch.

Die Entwicklung nationalstaatlicher Strukturen war zunächst einmal eine Voraussetzung für die Akzeptanz der politischen Unabhängigkeit eines postkolonialen Nationalstaats und seine Eingliederung in eine vom westfälischen Modell internationaler Beziehungen geprägte Weltgemeinschaft. Die Stabilisierung und Ausdifferenzierung staatlicher Strukturen wurde als Grundlage von Modernisierungsprozessen in "traditionellen Gesellschaften" gesehen. Vereinfachend kann man sagen, dass bis in die siebziger Jahre hinein "Staatlichkeit" auch dort, wo sie objektiv "fragil" war, nicht als "prekär", sondern als "in Entwicklung" betrachtet wurde.

Der "Entwicklungsstaat" der Nachkriegszeit

Staatszentrierte Modernisierung: In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war "Entwicklungstheorie" praktisch gleichbedeutend mit "Modernisierungstheorie". Dies schließt marxistische Ansätze ein, die sich grundsätzlich auch am Modell der modernen Industriegesellschaft orientierten und deren entwicklungsstrategische Vorstellungen sich weniger in Bezug auf die ökonomische Rolle des Staates als in Bezug auf die zu präferierenden internationalen Bündnispartner von westlichen Strategien unterschieden.

Erwartungsgemäß setzten Entwicklungstheoretiker aus den verschiedenen Disziplinen ganz unterschiedliche Schwerpunkte, doch spielte die Modernisierung des Staates durchweg eine zentrale Rolle. Die wirtschaftstheoretische Diskussion im engeren Sinne beschäftigte sich vor allem damit, unter welchen Bedingungen eine stagnierende Gesellschaft den Übergang in eine Gesellschaft mit kontinuierlichem Wachstum bewältigen könnte. Prominente, eher wirtschaftshistorisch orientierte Modernisierungstheoretiker wie Walt Whitney Rostow in seinen "Stadien wirtschaftlichen Wachstums" sahen die schnelle Entwicklung eines politischen, sozialen und institutionellen Rahmens, der für die Bedingungen fortschreitenden Wachstums sorgt, als eine der Voraussetzungen für den Eintritt in die "Take-off"-Phase einer Volkswirtschaft an.

Soziologische Modernisierungstheorien bezogen sich vor allem auf Fragen des Wandels von Sozialstrukturen, des Wertewandels, der Partizipation und auf Fragen der Konfliktlösung. Neben der Entwicklung universalistischer Werte und leistungsorientierter Verhaltensweisen spielte die strukturelle Differenzierung moderner Gesellschaften (Staat/Gesellschaft/Wirtschaft und damit zusammenhängend die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre) eine zentrale Rolle. Theorien der Politischen Modernisierung beschäftigten sich genauer mit den Charakteristika des modernen Staats und den Defiziten politischer Systeme in den Entwicklungsländern - immer vor dem Hintergrund der Strukturen der westlichen Demokratie. "Modernisierung" wird hier als ein Prozess der wachsenden Leistungsfähigkeit eines politischen Systems gesehen, wobei "Leistungsfähigkeit" am Niveau der politischen Integration, an der breiten Partizipation und der Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat sowie derwohlfahrtsstaatlichen Verteilungskapazität gemessen wird.

Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI): Die Strategie der Industrialisierung durch die Substitution von Importen, die vor allem von Raúl Prebisch, ab 1950 Exekutivsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL), ausgearbeitet wurde, knüpfte an die Industrialisierungsprozesse an, die in den fortgeschritteneren lateinamerikanischen Ländern bereits während des Ersten Weltkriegs begonnen hatten. Angesichts der überlegenen Wettbewerbsfähigkeit der Industrieländer bei einer Re-Integration des Weltmarktes nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die einzige Chance für eine fortschreitende industrielle Entwicklung Lateinamerikas in der Orientierung auf eine sich langsam erweiternde interne Nachfrage bei einer systematischen Protektion neuer Industrien gesehen. Der Staat hatte für eine Modernisierung der Infrastruktur zu sorgen und gleichzeitig den Import der nötigen Kapitalgüter systematisch zu fördern. Eine prohibitive Protektion durch sehr hohe Zollsätze bzw. Einfuhrverbote für diejenigen Branchen, die man lokal entwickeln wollte, wurde mit einer Überbewertung nationaler Währungen verbunden, um den Import solcher Produkte, die lokal nicht hergestellt werden konnten - d.h. vor allem Kapitalgüter - zu verbilligen. Ähnliche Konzepte verfolgten auch andere Entwicklungsländer mit einer gewissen industriellen Basis wie etwa Ägypten und Indien. Aber auch die gerade unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten, die über praktisch keinerlei industrielle Grundlage verfügten, knüpften an diesen Vorstellungen an.

Internationale Kooperation unterstützte diese Industrialisierungspolitik. Das gilt auch für die Weltbank, die dem Staat als Träger von Modernisierungsprozessen eine große Bedeutung zumaß. Sie konzentrierte sich auf die Förderung kapital- und technologieintensiver Infrastrukturprojekte (Staudämme und Kraftwerke, Fernstraßen, Eisenbahnen, Häfen und Fernmeldesysteme) - u.a. mit dem Argument, dass Kapital- und Technologiemangel die strategischen Defizite der meisten Entwicklungsländer darstellten. Gleichzeitig wurde nicht erwartet, dass kurzfristig eine demokratische politische Kultur entstehen könnte, sodass verbreitet autoritäre Systeme als Träger von Modernisierungspolitik akzeptiert wurden. Trotz aller Bekenntnisse zur "freien Marktwirtschaft" billigte die Bank staatliche Entwicklungsplanung mit dem Hinweis, "dass eine sichtbare Hand (im Unterschied zu Adam Smiths' "unsichtbarer Hand des Marktes", W. H.) notwendig wäre, um Investitionsentscheidungen so zu steuern, dass eine gesündere Ressourcenverteilung gesichert wäre".

Gelingen und Scheitern der Modernisierungsstrategie: In einer Reihe von Ländern Ost- und Südostasiens - zunächst vor allem in den sogenannten Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur - funktionierte diese staatszentrierte Modernisierungsstrategie: Während die ökonomischen Voraussetzungen zunächst ungünstiger als in Lateinamerika erschienen, waren die sozialen und politischen Voraussetzungen andere: Integrierte ländliche Gesellschaften und eine lange Tradition bürokratischer Strukturen sorgten dafür, dass hier in den Beziehungen von Staat, lokalem Privatkapital und transnationalem Kapital der Staat der dominante Partner blieb und die Bedingungen für eine erfolgreiche industrielle Weltmarktintegration schaffen konnte. In Lateinamerika dagegen wurde der Staat von Kapitalinteressen instrumentalisiert, die einen Abbau der protektionistischen Politik verhinderten. Vielfach dominierten Formen des Klientelismus und der Selbstbereicherung von Eliten, wodurch "Entwicklung" eher blockiert wurde. Außerhalb Ost- und Südostasiens kam es aus folgenden Gründen zu keiner effektiven Umsetzung und Weiterentwicklung dieser Industrialisierungsstrategie:

  • Wachstum auf der Basis von ISI beruhte auf einer Zunahme der Importe von Kapitalgütern und Halbfertigwaren, konkurrenzfähige Exportindustrien entstanden aber kaum, so dass die Abhängigkeit von Rohstoffexporten erhalten bleibt. Auch Filialen multinationaler Konzerne produzierten für die geschützten Binnenmärkte. Strukturelle Außenhandelsdefizite wurden zunächst durch Kredite verdeckt, führten schließlich jedoch in die Verschuldungskrise.

  • Im Sinne der Modernisierungsstrategie orientierte sich die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik vor allem der lateinamerikanischen Länder am Vorbild des europäischen Sozialstaatsmodells. Dies führte zur Einrichtung moderner Systeme der Sozial- und Krankenversicherung und der Alterssicherung für privilegierte Teile der Gesellschaft, wobei jedoch die Ressourcen fehlten, um diese Systeme sozialer Sicherheit auf alle sozialen Schichten auszudehnen.

  • In den am wenigsten entwickelten Ländern gab es infolge des niedrigen Niveaus der Entwicklung der Binnenmärkte einerseits und des Humankapitals andererseits wenig Chancen, auf der Basis einzelner meist staatlich kontrollierter und schlüsselfertig erstellter Industriebetriebe integrierte nationale Ökonomien aufzubauen.

    Die Verschuldungskrise zu Beginn der achtziger Jahre als Folge der ISI-Politik sowie eines stark erhöhten internationalen Zinsniveaus war der zentrale Ausdruck der Krise der staatszentrierten Modernisierungspolitik in den Entwicklungsländern. Der in der gleichen Zeit an Dynamik gewinnende Globalisierungsprozess verstärkte die immanenten Krisentendenzen der Strategie und prägte gleichzeitig die Rahmenbedingungen für eine neue Ära der "Entwicklung".

    Globalisierung und Demontage des Entwicklungsstaates



    Mit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der Beschleunigung und Verbilligung von Transport und Personenverkehr (große Containerschiffe, Luftverkehr) wurde die Globalisierung der Märkte und der Produktionsstrukturen zur wichtigsten Strategie von Unternehmen, um die Krise des Nachkriegsbooms in den siebziger Jahren zu überwinden. Privatisierung, Flexibilisierung und Liberalisierung wurden zu den zentralen Prinzipien einer neuen politischen Strategie zur Überwindung der Fesseln, die nationalstaatliche Reglementierung und Protektion für die Dynamik der Globalisierung bedeuteten. Wesentliche Kennzeichen dieser Veränderungen in Bezug auf die internationale Arbeitsteilung sind die Entwicklung von Technologien und Formen der Arbeitsorganisation zur Zerlegung komplexer Produktionsprozesse in elementare Einheiten. Dies ermöglicht ein "Global Sourcing", d.h. die Nutzung weltweiter Reservoirs billiger Arbeitskräfte für jeweils spezifische Teilprozesse der Industrie- und später auch Dienstleistungsproduktion, zumal durch die technologische Entwicklung industrielle Standortwahl und Steuerung der Produktion zunehmend unabhängig von geographischen Entfernungen werden. Die flexible Globalisierung mikroökonomischer Strukturen über eine Ausweitung des internationalen Handels und internationaler Investitionen wurde zum zentralen Charakteristikum der Globalisierung seit den siebziger Jahren.

    Eine effektive Nutzung differenzierter Standortbedingungen verlangte komplementäre Strategien der jeweiligen Entwicklungsländer. Die Öffnung zum Weltmarkt wurde in einigen ost- und südostasiatischen Ländern (Tigerstaaten) bereits sehr früh als Antwort auf die ersten Anzeichen einer Krise der Importsubstitution gewählt. Exportunternehmen wurden weitgehend von Zollbelastungen auf importierte Inputs befreit und profitierten gleichzeitig von Steuerbefreiungen und anderen Formen einer allerdings gemäßigten Subvention. Eine Unterbewertung der nationalen Währungen sorgte für ein Lohnniveau, das im internationalen Vergleich konkurrenzlos niedrig lag, aber doch ein Wachstum der Binnennachfrage ermöglichte. Freie Produktionszonen, in denen neben den genannten Steuer- und Zollbefreiungen den Exporteuren viele sonstige Vorteile gewährt wurden, stärkten die Exportorientierung.

    Wichtig für den Erfolg dieser Politik war dabei eine starke Position des Staates. In den erfolgreichen Ländern ist diese Politik mit Strategieelementen verknüpft worden, die sich als zentral für längerfristige Entwicklungsprozesse erwiesen haben: systematische Förderung der internen Sparrate, ein breites, aber zugleich qualitativ hochwertiges Bildungssystem, Einsatz öffentlicher Investitionen zur umfassenden Förderung der lokalen Wettbewerbsfähigkeit, Förderung von ausländischen Investitionen mit einem klaren Kriterium des Nutzens für die Steigerung der lokalen Produktivität.

    Ökonomische Globalisierung bedeutet eine erhöhte Intensität und vor allem eine Beschleunigung weltwirtschaftlicher Verflechtungen. In den meisten Fällen erwies sich der Entwicklungsstaat als unfähig, ähnlich produktiv wie die ostasiatischen Länder auf diese Herausforderung zu reagieren. Der Weg in die Verschuldungskrise war vorgezeichnet. Bereits in den siebziger Jahren entwickelte der IWF seine Stabilisierungsprogramme für Länder mit Zahlungsbilanzkrisen: Austeritätspolitik sollte helfen, Staatsdefizite und Schulden abzubauen und die wirtschaftlichen Kapazitäten in den Dienst der Beschaffung von Devisen durch Exporte zu stellen. Da die ISI-typische Überbewertung der Währung einen Anti-Export-Bias impliziert, war die Währungsabwertung eine der Grundbedingungen für die Gewährung von IWF-Beistandskrediten (bedeutsam auch als Signal für die generelle Kreditwürdigkeit des Landes). Daneben gehörte der Abbau staatlicher Intervention in die Wirtschaft (Privatisierung, Abbau von Preiskontrollen und Subventionen, um Marktsignale nicht zu verzerren) zum Grundbestand dieser Programme.

    Mit der Verschärfung der Verschuldungskrise ab 1982 wurde deutlich, dass es nicht nur um die "Stabilisierung" der Ökonomie einzelner Länder, sondern um grundsätzliche Strukturprobleme ganzer Entwicklungsregionen ging und damit neben dem IWF auch Institutionen der Entwicklungsförderung, allen voran die Weltbank, gefordert waren. Aus den Stabilisierungsprogrammen wurde das Konzept der Strukturanpassung. Um die Nutzung der nun in diesem Rahmen zur Verfügung gestellten Kredite kontrollieren zu können, koordinierten Weltbank und IWF die Konditionen ihrer Kreditvergabe, die weitgehend dem geschilderten neoliberalen Konzept folgten. Diese wirtschaftspolitischen Grundlagen der Strukturanpassungspolitik werden - nach dem Standort der Internationalen Finanzorganisationen (IFIs) - häufig als "Washington Consensus" bezeichnet.

    Der Druck, den die IFIs auf die verschuldeten Entwicklungsländer zur Durchsetzung einer neoliberalen makroökonomischen Politik ausübten, wurde durch eine Kritik an der verbreiteten Korruption und Selbstprivilegierung der politischen Klasse verstärkt. Diese Vorwürfe verbanden sich mit der Kritik an der übermäßigen Bürokratisierung und der ökonomischen Ineffizienz des Staates zu einem kritischen Diskurs über Formen des Regierens, der in vielen Ländern eine Delegitimierung herrschender Eliten implizierte: "Viele Länder litten unter dem Teufelskreis von schädlichen Markteingriffen, die Besitzstände verfestigen sowie zur Vorteilssuche und zur Inbesitznahme des Staates durch Interessengruppen führen. Die Regierungen greifen manchmal in die Märkte ein, um die politische Stabilität zu erhalten oder um anderen politischen Zwängen Rechnung zu tragen. Allzu häufig jedoch führt die Kombination von ausufernden Verzerrungen mit einem räuberischen Staat zu einer entwicklungspolitischen Katastrophe."

    In den achtziger Jahren konnte die Strukturanpassungspolitik in den wenigsten Ländern einen stabilen Entwicklungsprozess in Gang setzen; vielmehr war eine Kontraktion international nicht wettbewerbsfähiger moderner Branchen, eine gleichzeitig zunehmende soziale Polarisierung und ein Anwachsen des informellen Sektors zu beobachten. Leistungsdefizite des Staates erschwerten die wirtschaftliche Entwicklung und schwächten die politische Unterstützung durch die Bevölkerung. Der Zerfall der Infrastruktur, eine mangelnde institutionelle Entwicklung sowie Probleme im Mesobereich (etwa: Förderung von Human- und Sozialkapital, materielle Infrastruktur, Technologie-, Regionalpolitik) reduzierten die Wettbewerbsfähigkeit; der Zusammenbruch staatlicher Leistungen etwa im Falle der Preisstabilisierung von Produkten des Grundkonsums und der sozialen Infrastruktur enttäuschte die Erwartungen der Menschen. Große Teile der Bevölkerung akzeptierten die in der Strukturanpassung geforderte Privatisierung vieler bisher vom Staat getragenen (bzw. versprochenen) Dienstleistungen nicht. Man erwartete, dass der Staat endlich seiner Rolle als Entwicklungsstaat gerecht werde. Privatisierung wird von vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen als eine weitere Stufe des Versagens interpretiert, wodurch die Delegitimierung der herrschenden Eliten noch verstärkt wurde. In vielen Entwicklungsländern standen also die Staaten in verschiedener Hinsicht unter Druck:

    • Verschuldungskrise als Ausdruck des Scheiterns der staatszentrierten Entwicklung, insbesondere der Importsubstitutionsstrategie;

    • Veränderungen der externen Herausforderungen durch den Globalisierungsprozess ("global sourcing", Mobilität des Finanzkapitals etc.);

    • Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung als Eckpunkte einer mit Mitteln der Konditionalität durchgesetzten wirtschaftspolitischen Strategie;

    • Zunehmende soziale Ungleichheit und Armut als Folge des Zusammenbruchs des alten ökonomischen Entwicklungsmodells sowie

    • Delegitimierung der herrschenden Eliten und der bestehenden staatlichen Strukturen.

      Fragile Staatlichkeit als neues Entwicklungsproblem



      Auch wenn die skizzierte Kritik am Entwicklungsstaat sowohl im Hinblick auf seine Instrumentalisierung durch privilegierte Gruppen ("state capture") als auch in Bezug auf die verfolgten ökonomischen Strategien (ISI) in vielen Fällen zutreffend war, fehlte meist die Basis für eine alternative Entwicklung: Geringe gesellschaftliche Integration, schwache Entwicklung der Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft (Parteien, Zivilgesellschaft, Medien) sowie begrenzte administrative Kapazitäten und finanzielle Ressourcen können hier nur als Stichworte genannt werden. Der Liberalisierungs- und Globalisierungsprozess traf die meisten Entwicklungsländer in einer Situation, in der die soziale und politische Kohäsion kaum ausreichte, um den neuen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen, gleichzeitig jedoch die in den Jahrzehnten zuvor geweckten Erwartungen in eine starke entwicklungs- und vor allem sozialpolitische Rolle des Staates weiter wirkten. Auch Maßnahmen zur Förderung von Good Governance konnten vor allem dort, wo der Krisendruck und die Delegitimierung bestehender politischer Institutionen am stärksten waren, nicht die fehlenden Grundlagen ersetzen.

      Im Verlaufe der neunziger Jahre wurde die Schwäche vieler Staaten in Entwicklungsländern zunehmend zu einem Problem internationaler Politik, das über die skizzierten entwicklungspolitischen Probleme hinausreichte. Afghanistan und das Auftreten von El-Qaida sowie der 11. September 2001 verdeutlichten, dass auch die Industrieländer von den Konsequenzen dieser Entwicklung direkt betroffen sind. (Siehe andere Beiträge in diesem Heft).

      Die angesprochene Ausweitung des informellen Sektors und die weitere Marginalisierung peripherer Räume implizieren eine zunehmende Suche nach Formen des Überlebens am Rande oder außerhalb der formalen Rechtsordnung bis hin zur Abhängigkeit von verschiedenen Formen von organisierter Kriminalität (Schmuggel, Drogenproduktion und -handel). Dies ist einerseits durch pure Not bestimmt, gewinnt aber aus der Sicht der Betroffenen durch die Kritik am Staat und an den politischen Eliten an Legitimität. Große Mengen von Geldern, die aus illegalen Aktivitäten über Geldwäsche in die legale Ökonomie fließen, führen schließlich dazu, dass in einer Reihe von Ländern auch Staatshaushalte von diesen Einnahmequellen abhängig sind.

      Vom Entstehen von Loyalität zu alternativen Autoritäten und Formen politischer Organisation auf der Basis von Identitäten, die mit der nationalstaatlichen politischen Organisation konkurrieren (Politisierung ethnischer Beziehungen, religiöser Fundamentalismus, Unterstützung regionaler Warlords), zum Zusammenbruch gesellschaftlicher Strukturen und des staatlichen Gewaltmonopols ist es nur ein kleiner Schritt. Da Staaten kaum mehr eine Möglichkeit haben, sich offen gegen die globalisierte Weltwirtschaft zu stellen, entsteht schließlich unter der Bevölkerung armer Länder, vor allem bei starken kulturellen Unterschieden zur herrschenden global-westlichen Kultur, ein gewisses Reservoir zumindest für eine "klammheimliche" Unterstützung antiwestlicher terroristischer Gruppen. Staatlich nicht kontrollierte Gebiete, deren Bewohner verzweifelt nach jedem Strohhalm zur Überlebenssicherung suchen, können relativ leicht zur Basis derartiger Aktivitäten werden. Mangelnde Kontrolle von Territorien in Bezug auf Fragen internationaler Sicherheit schafft schließlich auch eine Verbindung zwischen den Problemen fragiler Staatlichkeit und häufig gar nicht so fragil erscheinenden Staaten, die gewisse Grundregeln der internationalen Beziehungen nicht akzeptieren - wie etwa der Irak unter Saddam Hussein oder Nordkorea.

      Wiederauferstehung des Entwicklungsstaates?



      Die aktuelle Problematik fragiler Staatlichkeit ist vor allem im Spannungsfeld zweier Entwicklungen zu sehen: Das ist zum einem das Problem der Entwicklungsländer, in einem globalen Transformationsprozess von nationalstaatszentrierten gesellschaftlichen Modernisierungskonzepten zur Dominanz neoliberaler Konzepte im Zusammenhang mit der Globalisierung Prozesse des State Building vollenden zu müssen. Zum anderen jedoch haben die Konsequenzen fragiler Staatlichkeit im Süden schließlich auch für die Industrieländer eine wachsende Bedeutung erlangt. Dabei spielt die Blockierung wirtschaftlichen Wachstums in einigen Regionen eine gewisse, aber eher begrenzte Rolle, während andere Faktoren zentral sind, angefangen von den Implikationen für die globale Umweltentwicklung über die Problematik des Migrationsdrucks bis hin zu den Problemen organisierter Kriminalität und des Terrorismus.

      In diesem Zusammenhang erlebt die Diskussion über das Verhältnis von Staat und Entwicklung eine gewisse Renaissance. Dies begann bereits Ende der achtziger Jahre, als die ersten Probleme einer primär marktorientierten Strukturanpassung deutlich wurden; die Aufarbeitung der Rolle des Staates in Süd- und Ostasien führte zur Akzeptanz der historischen Erfahrung, dass Konkurrenzfähigkeit und eine erhöhte technologische Kompetenz in Ländern mit einem deutlichen Entwicklungsrückstand gezielter staatlicher Unterstützung bedürfen. Dies setzt allerdings politische Strukturen voraus, die eine kompetente Wirtschaftspolitik ermöglichen und eine breite Unterstützung der Bevölkerung mobilisieren können; politische Konditionalität zur Förderung eines entsprechenden politischen Wandel spielt seitdem eine zunehmende Rolle in der Politik der Weltbank.

      Die hier dargestellten Überlegungen führen zu der Annahme, dass nur eine gleichzeitige Stärkung von Gesellschaft und Staat die Basis der Entwicklung von Good Governance bilden und zu einem Prozess des State Building beitragen kann, der einerseits das Gewaltmonopol und die soziale und ökonomische Entwicklung stärkt sowie andererseits die Ausnutzung politischer Ämter für individuelle Privilegien verhindert. In diesem Sinne müssen eine Politik des "Empowerment" armer Bevölkerungsgruppen und eine Politik des gesellschaftlich kontrollierten Empowerment des Staates sich gegenseitig stärken. Die Ängste der Privilegierten im Norden vor den Folgen prekärer Staatlichkeit im Süden können dabei einen wichtigen, wenn auch häufig problematischen Faktor zur Stärkung einer solchen Politik darstellen. Wenn Staatsverfall in diesem Sinne als eine Bedrohung "zentraler Bereiche des globalen Systems" (Chr. Clapham) anzusehen ist, dann müsste eine Strategie seiner Überwindung auch ein zentrales Element von Weltordnungspolitik bilden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u.a. Reinhart Kößler, Postkoloniale Staaten. Elemente eines Bezugsrahmens, Hamburg 1994.

  2. Vgl. Ulrich Menzel, 40 Jahre Entwicklungsstrategie = 40 Jahre Wachstumsstrategie, in: Dieter Nohlen/Franz Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, Bonn 1992, S. 131 - 155; als Überblick über die Entwicklungspolitik seit 1945: Wolfgang Hein, Die "Dritte Welt" seit 50 Jahren: Aufstieg und Fall ein politischen Begriffs oder: Ungleiche und ungleichzeitige Entwicklung im Globalisierungsprozess, in: Nord-Süd aktuell, (2000) 4, S. 619 - 644.

  3. Vgl. Walt W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 19672, S. 57.

  4. Vgl. Talcott Parsons, Structure and Process in Modern Societies, Glencoe 1959.

  5. Vgl. Gabriel Almond/G. Bingham Powell, Comparative Politics. A Developmental Approach, Boston 1966.

  6. Rainer Tetzlaff (mit Antonie Nord), Weltbank und Weltwährungsfonds - Gestalter der Bretton Woods-Ära, Opladen 1996, S. 73.

  7. Vgl. Peter Evans, Class, State and Dependency in East Asia: Lessons for Latin Americanists, in: Frederic C. Deyo, The Political Economy of the New Asian Industrialism, Ithaca, N.Y. 1987, S. 203 - 226.

  8. Vgl. Folker Fröbel/Jürgen Heinrichs/Otto Kreye, Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer, Reinbek 1977.

  9. Vgl. Wolfgang Hein, Von der fordistischen zur post-fordistischen Weltwirtschaft, in: Peripherie, (1995) 59/60, S. 45 - 78.

  10. Vgl. John Williamson, Democracy and the Washington Consensus, in: World Development, 21 (1993) 8, S. 1329 - 1336.

  11. Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1991, Washington, D.C., 1991, S. 11f.

  12. Vgl. Thomas Fuster, Die "Good Governance"-Diskussion der Jahre 1989 bis 1994: Ein Beitrag zur jüngeren Geschichte der Entwicklungspolitik unter spezieller Berücksichtigung der Weltbank und des DAC, Bern - Stuttgart 1998.

  13. Der IWF schätzt 1999 den Umsatz der Geldwäsche auf 2 bis 5 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes, das sind zwischen 600 und 1 500 Mrd. US-Dollar (vgl. Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Globalisierung der Unsicherheit, Münster 2002, S. 221).

  14. Vgl. World Bank, The East Asian Miracle. Economic Growth and Public Policy, New York 1993.

  15. Der Begriff des Empowerment stammt aus der Frauenbewegung, wurde von Nichtregierungsorganisationen auf den Bereich der Armutsbekämpfung ausgedehnt und schließlich auch von der Weltbank übernommen. Vgl. Wolfgang Hein, Weltgesellschaft: Entgrenzung, Entwicklung, Empowerment und Emanzipation, in: Peripherie, (2001) 83, S. 36 - 77.

Dr. rer. soc., geb. 1949; wissenschaftlicher Referent am Deutschen Übersee-Institut Hamburg und apl. Professor an der Universität Hamburg; DÜI, Neuer Jungfernstieg 21,
20354 Hamburg.
E-Mail: E-Mail Link: hein@duei.de