Der Bildungsauftrag des Grundgesetzes ist ein Thema, das vor der historischen Kulisse der Frankfurter Paulskirche, dem Ort des Festaktes "100 Jahre Volkshochschule in Deutschland", Assoziationen weckt.
Zunächst einmal verweisen der Ort der Frankfurter Nationalversammlung und das Schicksalsjahr 1848 auf den Versuch, mit einer gesamtdeutschen Verfassung die Idee der grundrechtlichen Bindung der Staatsgewalten rechtlich zu verankern. Es blieb bekanntlich bei einem Versuch, und auch der Weimarer Republik blieb der Erfolg letztlich versagt. Und doch feiern wir dieses Jahr 70 Jahre Grundgesetz und blicken zurück auf eine Erfolgsgeschichte, die gewiss nicht absehbar und schon gar nicht selbstverständlich ist. Die Paulskirche gemahnt, angesichts der historisch glücklosen Vorläufer nie ohne Demut von unserer Verfassung und ihren rechtsstaatlichen wie demokratischen Verbürgungen zu sprechen.
Zweitens assoziieren wir die Frankfurter Nationalversammlung mit dem Urbild des Honoratiorenparlaments. Aber wie erstrebenswert ist eine solche Volksvertretung fast ausschließlich mit Abgesandten des Besitz- und Bildungsbürgertums aus der Perspektive des Grundgesetzes und seines Bildungsauftrags? Die Mütter und Väter des Grundgesetzes vermieden es, der jungen Bundesrepublik einen paternalistischen Erziehungsauftrag zu verordnen; der Staat sollte nicht besserwisserisch belehren, von oben herab elitär bevormunden. Der Staat des Grundgesetzes wollte die institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen schaffen, innerhalb derer sich die Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und dem damit einhergehenden Zugang zu Wissen, Bildung und Chancen als Staatsbürger entfalten können.
Ein Schlüssel zum status activus des Staatsbürgers ist Bildung. Bildung nicht im klassischen, die Ungebildeten ausschließenden Sinne, sondern Bildung verstanden als "Empowerment". Das Grundgesetz will den kritischen und informierten, vor allem aber neugierigen Bürger.
Wenn ich daher nun anlässlich von 100 Jahren Volkshochschule den Bildungsauftrag des Grundgesetzes beleuchte, sehe ich mich im Einklang mit dem Frankfurter Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno, der 1956 auf dem Deutschen Volkshochschultag in Frankfurt diesen Eigenstand der Erwachsenenbildung betonte: "Die Erwachsenenbildung kann und soll nicht die klaffenden Bildungslücken ausfüllen, sondern ohne historische und institutionelle Vorbehalte der Situation sich bewusst werden. Mit anderen Worten, ihre Funktion ist die Aufklärung."
Bildung als Rechtsfrage
Beginnen wir mit den rechtlichen Koordinaten: Bereits die Palette der Akteure auf dem Gebiet der Bildungspolitik ist so bunt und vielfältig,
Die Komplexität der noch nicht mal ansatzweise abschließend genannten "Mitspieler" spiegelt die Komplexität der "Spielregeln". Das Grundgesetz nimmt eine föderative Aufgabenverteilung vor.
Betrachtet man in einer mehr sektoralen Sicht den sogenannten quartären Bildungsbereich, zu dem auch die Volkshochschulen in der deutschen Weiterbildungslandschaft gehören, wird die Pluralität an Adressaten, Institutionen und Inhalten sogar zum Strukturprinzip; eine Bestandsaufnahme kommt um die Qualifizierung als "Flickenteppich" kaum herum.
Lassen diese vielfältigen föderalen Verflechtungen von Bildungsstrukturen durchaus den Schluss zu, dass das Grundgesetz eine "Bildungsrepublik Deutschland" errichtet, bleibt schließlich noch der Blick auf die subjektiv-rechtliche Seite eines "Rechts auf Bildung".
Bei einer rechtlichen Verortung des grundgesetzlichen Bildungsauftrags sollte letztlich aber nicht eine gewisse Schieflage der großen Idee des Föderalismus ignoriert werden. So haben sich die Zentripetalkräfte der letzten Grundgesetzänderungen zur Finanzverfassung auch in der Zulassung von Bundesinvestitionen im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur niedergeschlagen. Diese Bruchstelle im Arkanum der überkommenen alleinigen Länderhoheit sollte aufmerken lassen.
Bildung als historische Aufgabe
Weiten wir den Blick nun von der eher technischen normativen Seite hin zum historischen Auftrag der Erwachsenenbildung. Die Volkshochschulen sind in gewisser Weise zeitlose Institutionen. Zu jeder Zeit gelang es ihnen, Themen aufzugreifen, die von allgemeiner Bedeutung waren: Auf der gesellschaftlichen Ebene wie im persönlichen Lebenskreis, die Volkshochschulen nehmen ihren selbstgesetzten Auftrag ernst: "Bildung in öffentlicher Verantwortung". Aktuelle programmatische Schlagworte sprechen für sich: "Zweite Chance und nachholende Bildung", "Mehrsprachigkeit und Integration", "Beschäftigungs- und Weiterbildungsfähigkeit", "Gesundheit und Lebensqualität", "Kultur und Kreativität".
Aber, wie schon Pythagoras sagte: Die Zahl ist das Wesen aller Dinge. Lassen Sie mich also versuchen, den Bildungsanspruch der Volkshochschulen in Zahlen zu fassen:
Woher kommt dieser Erfolg? Was hat die Erwachsenenbildung in Deutschland so fest verankert? Die Zäsur des Zweiten Weltkriegs und der Neuanfang in der jungen Bundesrepublik bieten eine Erklärung. Ein Auszug aus dem Programmheft der Volkshochschule Badische Bergstraße von 1952:
Es sind Themen mit Querschnittsbedeutung mit der Zielgruppe des "repräsentativen Querschnitts" der Bevölkerung, wie die empirische Soziologie laut Adorno schon in den 1950er Jahren herausgefunden hat: Die Erwachsenenbildung "kann den Menschentypus, der auf sie und auf den sie eingestimmt ist, so aufhellen, dass er den gegenwärtigen Bedingungen als Avantgarde gewachsen sich zeigt. Sie wird dabei freilich nicht von oben her Bildungsideale, ‚Leitbilder‘ präsentieren, sondern von dem Bewusstsein derer ausgehen müssen, die sich ihr anvertrauen."
Pulsmesser ihrer Zeit, das trifft zu auf Volkshochschulen als Aushängeschild und Archetyp der Erwachsenenbildung unter dem Grundgesetz. Deren Erfolg ist – trotz der gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen "Stunde Null", die wir im Mai 2019 zum 70. Mal feiern – nicht ohne Rückgriff auf historische Vorläufer, Vorbilder und Gegenentwürfe zu erklären.
Den Grundstein der Erwachsenenbildung legten die Denker der Aufklärung in der Zeitenwende zum 19. Jahrhundert.
Doch Fragen sozialer und politischer Reform blieben außerhalb ihres Fokus, im Gegensatz zur gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Arbeiterbildung, die bis zur Weimarer Zeit zur Blüte kam.
Bildung als individuelle Chance
Nach dieser Betrachtung der rechtlichen und historischen Grundlagen von Erwachsenenbildung in Deutschland ist nun der Blick auf die Gegenwart und – so viel Mut muss sein – die Zukunft zu richten. Welche Chancen bietet Bildung heute?
1987 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt:
Dem Wandel der Zeit sind wir alle unterworfen. Am deutlichsten vielleicht im beruflichen Alltag, wenn sich technologischer Fortschritt unmittelbar und ganz konkret in den eigenen Arbeitsabläufen und -umständen niederschlägt. Laptop, Tablet und Internet gehörten jedenfalls in meiner – nun auch schon etwas länger zurückliegenden – Ausbildungszeit noch nicht in den juristischen Werkzeugkasten des – mehr oder weniger – fleißigen Studenten. Dem technischen und sozialen Wandel nicht ausgeliefert zu sein, sondern ihn selbstbestimmt und souverän mitzugestalten, das ist auch Teil des Bildungsauftrags des Grundgesetzes, anders ausgedrückt: Bildung ist eine Chance! Die Ermöglichung individueller Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Anpassungsfähigkeit im Wechsel der Verhältnisse sind daher auch das Anliegen der jeweiligen Weiterbildungsgesetze der Länder. Was in deren Rechtssprache als allgemeine Bildung, berufliche, politische und kulturelle Weiterbildung noch abstrakt daherkommt, übersetzen die Volkshochschulen ins Konkrete, in die Lebenswirklichkeit aller Bürgerinnen und Bürger: mehr Bildungsgerechtigkeit, Befähigung zur interkulturellen Verständigung, Förderung des Fachkräftepotenzials. Es ist nicht zu hoch gegriffen, Bildung damit zugleich als Zukunftsvoraussetzung Deutschlands zu begreifen.
"Bildung als Chance" betrifft nicht zuletzt die komplexe Frage der Integration von Migranten und Flüchtlingen. Das geflügelte Wort von "Sprache als Schlüssel der Integration" ist berechtigt und wird von der Erwachsenenbildung durch zahllose Deutschkurse in tägliche Integrationsleistung umgesetzt. Zu Recht steht hier übrigens nicht allein Sprachkompetenz im Fokus: Bildungsträger vor Ort vermitteln kulturelle, rechtliche und geschichtliche Grundlagen, die das in Freiheit und Gleichheit verfasste Zusammenleben in Deutschland erst ermöglichen. Solche Orientierungskurse in "Staatsbürgerkunde" – wenn man es etwas altertümlich umschreibt – stehen richtigerweise neben den reinen Sprachkursen. Stellvertretend für die deutsche Justiz möchte ich selbstkritisch anmerken: Vielleicht ist da noch Luft nach oben. Sind nicht gerade auch Richter und Staatsanwälte im persönlichen Engagement gefragt, in diesen und ähnlichen Veranstaltungen unsere rechtsstaatlichen und demokratischen Überzeugungen anschaulich zu vermitteln?
Wissen ist durch das Internet mittlerweile umfassend und frei verfügbar, und doch ist das Interesse an "analoger" Weiterbildung in Volkshochschulkursen ungebrochen hoch. Wichtige Gründe hierfür liegen sicher in der kommunalen Verankerung vor Ort, wo die Volkshochschule präsent und allgemein bekannt ist. Und das übrigens im ländlichen Raum wie in Großstädten.
Bildung als Voraussetzung der Demokratie
Der Bildungsauftrag des Grundgesetzes ist vielschichtig und anspruchsvoll. Zum Ende dieser Tour d’Horizon will ich daher kurz auf die Bedeutung der Bildung für das Gemeinwesen und die Demokratie insgesamt eingehen.
Der ebenfalls viele Jahre in der Erwachsenenbildung engagierte Wiener Staatsrechtslehrer Hans Kelsen,
Im 70. Jahr unter dem Grundgesetz erscheint es heute so wichtig wie nie, die Bedeutung der politischen Bildung zu betonen. Die Verlagerung der politischen Diskussion aus dem Alltag – Arbeitsplatz, Sport, Freundes- und Familienkreis – in die digitalen Netzwerke ist eine Herausforderung.
Eine komplexer werdende Welt braucht aufgeklärte Bürger. Aufgeklärte Bürger sind neugierig. Das ist das Staatsbürgerideal des Grundgesetzes. Dieser selbstbestimmte, zur kritischen Reflexion fähige, neugierige Bürger des Grundgesetzes steht der modernen Welt nicht hilflos gegenüber. Wenn wir dieses Jahr 100 Jahre Volkshochschule feiern, ehren wir genau diesen Geist. Die Idee der Volkshochschule steht für eine Einrichtung, für die Bildung nicht mit dem Schulabschluss beendet ist und die Neugier stillen will. Mit anderen Worten, ein Ort des Dialogs und der Offenheit für Neues – auch für ältere Generationen.
Ein solcher Ort ist unersetzlicher Teil unserer demokratischen Verfassungsordnung. Schulen und Hochschulen, Akademien, Zentralen für politische Bildung, kirchliche, gewerkschaftliche sowie parteinahe Bildungsinstitute oder eben Volkshochschulen, sie alle können mit unterschiedlicher Akzentsetzung so ein Ort sein. Insbesondere die Volkshochschulen begegnen dem neugierigen Bürger dort, wo er lebt. Sie sind damit institutioneller Ausdruck eines Gesellschaftsbilds, das von unten nach oben aufgebaut ist, einer Gesellschaft, die den Einzelnen und seine Einbettung in soziale Strukturen ernst nimmt.
Die Funktion der Erwachsenenbildung ist die "Aufklärung ohne Phrasen"
Ich danke meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Thomas Jacob für seine wertvolle Unterstützung.