Beim Stichwort "Integration" wird oft nur an die Integration von Zugewanderten gedacht. Hier soll es aber nicht speziell um diesen Aspekt des Integrationsthemas gehen, sondern um die allgemeinere Frage der Verbindung von Mitgliedern eines Gemeinwesens zu gelingender politischer Einheit.
Wie funktioniert Integration? In einer geläufigeren Formulierung: Was hält die Gesellschaft zusammen? So gestellt, hat die Integrationsfrage allerdings ein gewisses Irreführungspotenzial. Oft stellt man sich die Sache zu einfach vor – als müsse es da ein Etwas, eine Gemeinsamkeit geben, einen Kitt, der die diversen Individuen und Gruppen verbindet. Diese Vorstellung, ich nenne sie die Sandkugeltheorie der politischen Integration,
Integrationsfunktion der freiheitlich-demokratischen Verfassung
Es ist nicht so, als würde an die Verfassung nie gedacht, wenn es um die Integrationsfrage geht.
Ein Verständnis der Verfassung als Integrationsfaktor, das nur ihre unmittelbare Bedeutung für den Emotions- und Überzeugungshaushalt ins Auge fasst, führt allerdings leicht auf bloße Wertepredigten oder bleibt bei der Betrachtung aller möglichen symbolischen Repräsentationen der politischen Einheit stehen, denen die Kraft der Erzeugung eines Wir-Gefühls zugeschrieben wird: Staatsoberhaupt, Nationalflagge, würdiges und die Verfassung würdigendes Begehen von Einbürgerungsfeiern und so fort. All das ist wichtig, aber die eigentliche Integrationsleistung einer Verfassung – das, was dafür sorgt, dass ein Staatsoberhaupt, eine Flagge und die verfasste politische Ordnung, für die sie stehen, tatsächlich Respekt genießen und ein positives Bewusstsein der Zusammengehörigkeit als Mitglieder des so verfassten Gemeinwesens mobilisieren können – bleibt dabei unbeleuchtet. Die eigentliche Integrationsleistung der Verfassung ist in ihren operativen Bestimmungen und deren Auslegung begründet, in der Art, wie sie, als interpretierte und angewendete Verfassung, die politische Koexistenz und Kooperation der Bürger organisiert.
Die Verfassung freiheitlicher Demokratien liefert nicht unmittelbar eine spezifische verbindende Gemeinsamkeit. Sie ist im Gegenteil die institutionelle Antwort auf die Frage, wie in einer Gesellschaft Verschiedener mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, Funktionen und Überzeugungen friedliches Zusammenleben ermöglicht werden kann. Sie ist, mit anderen Worten, das Integrationsprogramm für eine differenzierte Gesellschaft.
Am deutlichsten zeigt sich das in dem Grundrecht, aus dem der Gedanke der Grund- und Menschenrechte überhaupt erwachsen ist: der Religionsfreiheit. Die konfliktträchtige Verschiedenheit der Religionen ist nicht daraus entstanden, dass den Menschen Religionsfreiheit eingeräumt wurde, sondern umgekehrt. In Europa haben wir erst nach einer langen Geschichte der Religionskriege gelernt, dass politische Einheiten den Kitt einer allen gemeinsamen Religion, den der Augsburger Religionsfrieden 1555 noch als notwendig voraussetzte, nicht benötigen, dass vielmehr nur die Freiheit, unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen anzuhängen, ein Zusammenleben in Frieden ermöglicht.
In den für moderne demokratische Verfassungen charakteristischen, in gleicher Weise auf Integration zielenden Verboten der Diskriminierung nach Religion, Rasse und sozialer Herkunft sind die großen Spaltungslinien angesprochen, an denen Aufruhr, Bürgerkrieg und Vernichtung aufgebrochen sind und nicht noch einmal aufbrechen sollen.
Dem unfriedlichen Kampf um Herrschaft und Vormacht zwischen konkurrierenden und gegnerischen Gruppen aller Art setzt die freiheitliche Demokratie Verfahren entgegen, die friedlichen Machtwechsel sichern sollen, auf Selbstbestimmung in dem bei kollektiven Entscheidungen möglichen Maß ausgerichtet sind, auf faire Interessenberücksichtigung und friedlichen Ausgleich zielen und den im friedlichen Kampf um die Macht Unterlegenen die Aussicht offenhalten, das Blatt zu wenden. Das zentrale Element dieser Ordnung, die periodische Wahl politischer Repräsentanten, wird daher vom Bundesverfassungsgericht als "Integrationsvorgang" bezeichnet.
Konstitutiv für die Funktionsfähigkeit dieses Integrationsvorgangs ist freie und offene Kommunikation. Auch der verfassungsrechtliche Schutz der Kommunikationsfreiheiten hat insofern eine Integrationsfunktion, ebenso wie alle anderen in der Verfassung angelegten, im Detail teilweise erst durch die Verfassungsrechtsprechung entfalteten Regeln, die der Offenhaltung des politischen Wettbewerbs dienen. Das reicht im deutschen Verfassungsrecht von der Gewährleistung einer Organisation des Medienwesens, die Meinungsmonopole ausschließt, über hohe Hürden für Parteiverbote bis zu – unzureichend wirksamen – Regeln für die Parteienfinanzierung und allen möglichen sonstigen Beschränkungen politischer Selbstbegünstigung der jeweiligen Machthaber.
Auch die Gewährleistung wirtschaftlicher Freiheiten dient der politischen Integration. Der immer wieder als Meisterdenker des autoritären Staates missverstandene Hegel hat das so formuliert: "Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten."
Demokratien der kontinentaleuropäischen Tradition zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie soziale Gegensätze, wie sie sich aus der Freisetzung von Marktkräften ergeben können, und deren potenzielle politische Sprengkraft mit ausgeprägten sozialstaatlichen Elementen zu entschärfen suchen. Im deutschen Grundgesetz ist das ausgedrückt unter anderem im Sonderungsverbot für Privatschulen (Art. 7 I 3 GG), in der Koalitionsfreiheit, die das Recht zum Arbeitskampf einschließt (Art. 9 Abs. 3 GG), in der vorgesehenen Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), in den vorgesehenen Möglichkeiten der Enteignung und Sozialisierung (Art. 14 Abs. 3, Art. 15 GG), im Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG), in der Bindung der Haushaltspolitik an die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG), das unter anderem einen hohen Beschäftigungsstand einschließt,
Absturz des Integrationsprogramms?
Das Integrationsprogramm der freiheitlich-demokratischen Verfassung ist nicht gegen Absturz gefeit. Gerade in diesem Jahr des 100. Geburtstags der Weimarer Verfassung werden wir daran immer wieder erinnert. Die Weimarer Verfassung war nicht ohne Schwächen, aber sie war eine freiheitliche, demokratische, für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Verfassung. Als Integrationsprogramm hat sie, unter schwierigsten Bedingungen, trotzdem versagt. Die Folgen waren so grauenhaft, dass sie unter den vielen gescheiterten Verfassungen der kontinentaleuropäischen Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts zum Inbegriff der gescheiterten Verfassung geworden ist. Daran werden auch die vielen Veranstaltungen und Publikationen des aktuellen Jubiläumsjahrs, die mit Recht die guten Seiten dieser Verfassung hervorheben, nichts ändern.
Müssen wir aus der Weimarer Erfahrung und aus anderen Erfahrungen des Scheiterns von Demokratien, auch jüngeren, ganz aktuellen, den Schluss ziehen, dass die freiheitliche Demokratie eine besonders gefährdete Ordnung ist? In Medien, Politik und Wissenschaft ist, auch unter überzeugten Demokraten, diese Auffassung allgegenwärtig. Die Demokratie gilt als "Wagnis", als "riskante" Staatsform. In bürgerlichen Kreisen sah man das schon vor dem Scheitern der Weimarer Verfassung so – damals einfach deshalb, weil man der neuen vollberechtigten Wählerschicht, der Arbeiterschaft, nicht traute.
Auch der berühmteste Merksatz der deutschen Staatsrechtslehre, das sogenannte Böckenförde-Diktum, transportiert diese Idee: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist."
Wie sieht es aber empirisch aus? Die bisherige Erfahrung bietet dafür, dass an der Integration von Bürgern zu gelingender politischer Einheit oder an der Selbsterhaltung als politische Ordnung gerade Demokratien besonders häufig scheiterten, keine Anhaltspunkte. Im Gegenteil. Hybride Regime, die nur einzelne Elemente demokratischer Ordnung, vor allem allgemeine Wahlen, bei ansonsten fortbestehenden autokratischen Zügen aufweisen, gelten zwar tatsächlich als besonders instabil.
Globalisierung als Herausforderung
Das bedeutet natürlich keine Garantie für die Zukunft. Die große Demokratisierungswelle, die 1990 einsetzte, ist abgeebbt. Indizes wie der Democracy Index der Economist Intelligence Unit, Varieties of Democracy, Freedom House und andere verzeichnen einen Rückwärtstrend – nicht überall, es gibt weiterhin auch Fortschritte, aber in der Gesamtbilanz. Ob man angesichts der Daten wirklich von einer Demokratierezession sprechen kann, ist umstritten.
Wie auch immer man die Bedeutung kultureller Faktoren für diese Entwicklungen und ihr Verhältnis zu den ökonomischen einschätzt: Es bräuchte ein extremistisches Maß an Idealismus – man müsste radikaler Konstruktivist sein –, um zu übersehen, dass die beunruhigenden Entwicklungen, einschließlich ihrer kulturellen Grundlagen und Erscheinungsformen, wesentlich durch Globalisierungsvorgänge bedingt sind.
Die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, verstanden als Zunahme der wirtschaftlichen Transaktionen und der damit, sei es unmittelbar oder mittelbar, verbundenen Bewegungen von Gütern (einschließlich Informationen), Kapital und Personen über nationale Grenzen hinweg, produziert zwar in der Gesamtbilanz ungeheure Zuwächse an Wohlstand, im Detail aber in erheblichem Ausmaß auch Verlierer und besorgte potenzielle Verlierer. Indem sie nicht nur Private, sondern auch die Staaten selbst in ein verschärftes Wettbewerbsverhältnis zueinander setzt, schwächt sie zugleich die staatlichen Möglichkeiten, den wirtschaftlichen Wettbewerb durch rechtliche Rahmensetzungen in sozialverträgliche Bahnen zu lenken, strukturpolitische Vorsorge zu treffen und Verlierer des Wettbewerbs – Individuen wie ganze Regionen – aufzufangen.
Zu einem entscheidenden Politikfeld, auf dem sich die Integrationsfähigkeit demokratischer Verfassungen bewähren muss, ist damit die "Globalisierungspolitik" geworden, das heißt die Politik der Entscheidungen über Öffnungen für oder – sei es auch nur sektorale, graduelle und/oder temporäre – Abschließungen gegen den grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr. Diese Politik kann vernünftigerweise keine pauschale, sondern nur eine je nach Gebiet und Problemlage höchst differenzierte sein. Das gilt auch für die Zeitachse. Für Öffnungspolitiken ist das richtige Tempo wichtig.
Um solche inhaltlichen Fragen der Globalisierungspolitik soll es hier aber nicht gehen. Für das hier behandelte Thema kommt es auf etwas anderes an: Globalisierungspolitik ist zwangsläufig im Wesentlichen internationale oder, aus der Binnenperspektive gesprochen, auswärtige Politik. Gerade die auswärtige Politik hat nun aber Besonderheiten, die eine wirksame demokratische Rückbindung und die damit verbundene Responsivität im Verhältnis zu den Erwartungen der Bürger erschweren. Damit ist auch die integrative Leistungsfähigkeit des politischen Systems berührt.
Das fängt an mit der Trivialität, dass in internationalen Angelegenheiten demokratische Selbstbestimmung nur noch eine begrenzte Reichweite hat. Dieser Aspekt wird über dem zutreffenden Hinweis, dass mit den Mitteln der internationalen Politik der Raum der faktischen Selbstbestimmungsmöglichkeiten sich auch erweitern lässt, gern vernachlässigt. Globalisierung erhöht dramatisch den Bedarf an Regelung durch internationale Verträge, steigert aber nicht im gleichen Maß die Wahrscheinlichkeit, dass solche Verträge auch zustande kommen. Die außenpolitischen Ziele eines Landes mögen das Ergebnis noch so demokratischer interner Prozesse sein – inwieweit sie in internationalen Verhandlungen durchsetzbar sind, hängt von den Zielen und den Machtmitteln derer ab, mit denen verhandelt werden muss, um zu Ergebnissen zu kommen. Das ist nicht per se undemokratisch. Im Gegenteil, Selbstbestimmungsansprüche hat schließlich nicht nur die jeweils eigene Nation. Aber es manifestiert sich darin eine Grenze der Möglichkeiten nationaler demokratischer Selbstbestimmung, die sich auf nationaler Ebene umso zwangsläufiger in Unzufriedenheiten niederschlägt, je höher globalisierungsbedingt der Bedarf an internationaler Koordination steigt.
Internationale und supranationale Politik ist außerdem in hohem Maße exekutivlastig. Die Parlamente haben hier, auch soweit es um den Abschluss von Verträgen im Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers geht, eine weit schwächere Rolle als im Bereich der internen Gesetzgebung, und die Wirkungsmöglichkeiten der öffentlichen Diskussion, die wesentlich zum demokratischen Prozess gehört, sind schon durch Transparenzprobleme erheblich eingeschränkt.
Die integrative Wirksamkeit demokratischer Rückbindung im Bereich der Globalisierungspolitik wird zusätzlich geschwächt durch ungünstige Reversibilitätsbedingungen. Zur Demokratie gehört, dass getroffene politische Entscheidungen im Prinzip rückgängig gemacht werden können. Davon ist auch ihr Integrationspotenzial abhängig. Diejenigen, die in Wahlen und Abstimmungen unterlegen sind, müssen die Aussicht haben, dass die Mehrheitsverhältnisse sich praxiswirksam zu ihren Gunsten ändern können. Natürlich gibt es immer, auch im Bereich rein nationaler Politik, Irreversibilitäten und Pfadabhängigkeiten. Wenn einmal eine Entscheidung für die Produktion von Strom aus Atomenergie ins Werk gesetzt ist, wird die Entscheidung für einen Ausstieg je nach Modalitäten mehr oder weniger teuer, und die Belastung durch schon angefallenen Atommüll ist vollends irreversibel. Immerhin können aber rein innerstaatliche Gesetze im Prinzip rückgängig gemacht werden. Soweit es sich um völkerrechtliche Verträge handelt, ist das oft schon rein rechtlich weniger einfach, und zwar tendenziell umso weniger, je größer die Anzahl der beteiligten Staaten ist. Nicht alle völkerrechtlichen Verträge sehen überhaupt eine Kündigungsmöglichkeit vor, und wenn sie eine vorsehen, dann naturgemäß in aller Regel nur für das jeweilige Abkommen als Ganzes, nicht für einzelne Bestimmungen, während der Gesetzgeber bei rein innerstaatlichen Regelungen im Prinzip jederzeit auch Korrekturen im Detail vornehmen kann.
Gerade in der Globalisierungspolitik wird schließlich eine besonders ausgeprägte Distanz zwischen dem Demos als Prinzipal und seinen politischen Agenten auch noch dadurch begünstigt, dass die politischen Entscheidungsträger, wie überhaupt die sogenannten Eliten, in den westlichen Demokratien typischerweise globalisierungsfreundlicher und hinsichtlich der Europäischen Union integrationsfreundlicher eingestellt sind als die übrige Bevölkerung. Das liegt nicht daran, dass es sich hier um bessere Menschen handelte, sondern hängt unter anderem mit ihrer sozialen Lage zusammen. Charakteristisch zeigt sich die Diskrepanz der Einstellungen in der Begründung, mit der Emmanuel Macron sich im September 2017 in seiner Sorbonne-Rede dagegen aussprach, über den Fortgang der europäischen Integration Volksabstimmungen abzuhalten: Die Antwort sei dann ja immer non.
Ausblick
Angesichts der Responsivitätsschwächen, die sich nicht nur, aber besonders ausgeprägt in der Globalisierungspolitik zeigen, kann es nicht überraschen, dass sich seit geraumer Zeit zunehmend europaskeptische und allgemeiner globalisierungsskeptische Interessen und Befindlichkeiten artikulieren. Die EU ist hier auch deshalb mitbetroffen, weil sie keineswegs nur Schutz vor der Globalisierung bietet, sondern auch und sogar in erster Linie, nach innen wie nach außen, selbst ein Globalisierungsfaktor ist.
Es sollte anerkannt werden, dass die Richtung dieser Gegenbewegung, wie immer man sie im Übrigen beurteilt, für sich genommen nichts Un- oder Antidemokratisches hat. Entscheidend ist, dass die Auseinandersetzung darüber in den Bahnen der Verfassung geführt wird. Die dazu dienliche Sachlichkeit fördert es, wenn weder die Integrationskraft demokratischer Verfassungen noch die Probleme, die ihre Funktionsfähigkeit schwächen, unterschätzt werden. Die Stärke demokratischer Ordnungen liegt gerade in ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik und friedlichen Anpassung an veränderte Verhältnisse.