Das Grundgesetz war sich sicher: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Es leitete im gleichen Artikel 1 zwei staatliche Pflichten daraus ab, nämlich sie zu achten und zu schützen.
Allem Anfang wohnt ein Rätsel inne – der Würde-Garantie gleich mehrere. Auf den ersten Blick mutet sie an wie ein Mantra – nach dem Sanskrit ein heiliges Wort oder ein heiliger Vers mit spiritueller Kraft. Inhalt des Würde-Mantras wäre wohl ein von der Vergangenheit diktiertes "Nie wieder!". Nie wieder ein menschenverachtendes Unterdrückungs- und Vernichtungssystem auf deutschem Boden. Nie wieder staatlich organisierter Massenmord. So gelesen, wäre Art. 1 Abs. 1 ein kollektiver Stoßseufzer. In dieser Funktion vergleichbar dem einleitenden Satz zur Weimarer Verfassung, die sich endlich von der Kleinstaaterei befreit wähnte: "Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen". 1919 wurde eine Last der Geschichte abgelegt. Dramatischer war das Mantra der weithin übersehenen Verfassung von Haiti 1805: "Die Sklaverei ist abgeschafft."
Verfassungen eignen sich gut als säkulare, mantramäßige Texte, weil sie von Haus aus die nötige Feierlichkeit und beschwörende Kraft mitbringen. Gleichwohl könnte die Unantastbarkeit der Würde eine andere Bedeutung haben, nämlich als Vergangenem entlehntes, aber in die Zukunft weisendes Tabu. Dessen begrifflicher Ursprung wird im polynesischen Sprachraum verortet.
Tabus treten noch nicht vollends aus dem Geltungsbereich des Sakralen heraus und bleiben verbündet mit der Tradition. Sie sind ungeschriebene Gesetze, deren Gesetzgeber, anders als bei Art. 1, im Dunkel bleiben. Sie verbieten, mit einem Tabu belegte Personen oder Dinge zu berühren oder tabuisierte Handlungen vorzunehmen. Herkunft und Sinn heutiger (weltlicher) Tabus, wie etwa das Verbot zu foltern oder eben die Würde des Menschen anzutasten, verbergen weder Herkunft noch Sinn. Sie haben die Magie abgestreift, entstehen "in unserer Mitte"
Verfassungsrechtlich übersetzen lassen sich diese "letzten" Tabus als Maßnahmen der Gefahrenabwehr (gegen Folter) oder als normative Sperren gegen den Rückfall in die Barbarei (Antasten der Würde). Diese letzte Übersetzung erklärt, warum die Karriere der Menschenwürde als Verfassungsthema
Wie Würde in der Dogmatik zugerichtet wird
Von Anfang an bemühte sich die juristische Zunft unter Führung des Bundesverfassungsgerichts, die Menschenwürde für die Anwendung dogmatisch herzurichten.
Nach dieser Vorklärung schritt die Dogmatik zur nächsten Aufgabe, nämlich den Inhalt des Rechtsbegriffs "Menschenwürde" und damit den Kern des grundrechtlichen Schutzbereichs zu bestimmen.
Wie Gerichte Würdeverletzungen feststellen und bewerten
Folgen wir dem Grundgesetz, dass die Würde unantastbar ist, was bedeutet, dass niemand seine oder ihre Würde als Person verlieren kann, dann bleibt zu klären, wo und wie sich die Würde zeigt und wie ihre Verletzung sichtbar wird. Es herrscht weitgehend Einigkeit, dass Lebensumstände, Behandlungen oder auch ein Status entwürdigend sein können. Exemplarisch kann zu Sklaverei festgestellt werden, dass ihre Lebensumstände evident entwürdigend sind. Versklavte werden ohne Weiteres in ihrer Würde verletzt, allerdings ihrer nicht beraubt, selbst wenn sie wie Sachen be- und gehandelt, gedemütigt und geschlagen werden. Kinderarbeit als Zwangsarbeit wäre, obwohl umstritten, ähnlich zu beurteilen – oder ist es ein echtes Tabu?
Das Bundesverfassungsgericht hatte zu entscheiden, wann bei Haftstrafen die Würdeverletzung beginnt. Es hielt die lebenslängliche Freiheitsstrafe, in der Praxis beträgt sie im Durchschnitt etwa 20 Jahre, "gerade noch mit Art. 1 Abs. 1 GG [für] vereinbar".
Als die Würde verletzende Handlungen oder Behandlungen werden üblicherweise Folter, öffentliche Ächtung und Demütigung, heimliche Überwachung und Ausforschung genannt, die den Menschen zum Objekt staatlicher Maßnahmen und Pläne machen.
Im sogenannten Daschner-Urteil ging es 2004 um die Androhung von Folter gegen den zu dem Zeitpunkt noch mutmaßlichen, wie sich bald herausstellte, tatsächlichen Entführer eines Kindes. Das Landgericht Frankfurt, das aufgrund der Rettungsabsicht des die Folter androhenden Vizepolizeipräsidenten, Wolfgang Daschner, ein mildes Urteil fällte, fand in einem Punkt zur Klarheit zurück: "Ein Verstoß gegen die Achtung der Menschenwürde ist auch dann verwerflich, wenn dieser – subjektiv – zu dem Zweck erfolgt, das Leben eines Kindes zu retten."
Der Status, dem aus dem Blickwinkel der Würde Verletzungen drohen, betrifft primär das Menschsein, die Kreatürlichkeit. Er wirft die Frage auf, ob der Würdeschutz auf natürlich geborene, lebende, menschliche Wesen beschränkt sein soll, wo also die existenziellen Grenzen gezogen werden – ob also Verstorbene oder Embryonen, durch Klonen oder in vitro erzeugte Wesen einen rechtlichen Status haben, der jenseits oder unter aller Würde liegt. Im Streit um Klaus Manns Schlüsselroman "Mephisto", der sich ersichtlich an das Leben des bekannten, inzwischen verstorbenen Schauspielers Gustav Gründgens anlehnte und am Beispiel von dessen Kollaboration mit dem Nazi-Regime den Typus des Aufsteigers und Verräters entwickelte, bejahte das Bundesverfassungsgericht 1971 grundsätzlich den Schutz der postmortalen Würde, fand jedoch keine Mehrheit für den Vorrang entweder der Ehre oder der Kunst.
Die Liste der Streitfälle lässt sich mühelos verlängern, selbst wenn man die trivialen Belästigungen, die als Würdeverletzung eingeklagt wurden, außer Acht lässt, wie die Zahlung einer Geldbuße wegen einer Ordnungswidrigkeit, die Leichenöffnung im Ermittlungsverfahren oder die Umschreibung von Umlauten in der elektronischen Datenverarbeitung.
Erstens, Würde hat keine feststehende Bedeutung, aber vielfältige Verwendungsweisen, in denen sich immer wieder ein bisweilen neuer Bedeutungskern verdichtet. Neben den Schutz der Integrität und Identität treten seit einiger Zeit die Gewährleistung materieller Lebensbedingungen und zuletzt der Anspruch auf Demokratie.
Zweitens, die Schutzgarantie liegt seit geraumer Zeit im Schatten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Damit verschieben sich die Überlegungen vom Schutzbereich hin zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Hinweise auf Verhältnismäßigkeit geben das synonyme Untermaßverbot (etwa beim Schutz des werdenden Lebens), Formeln wie "gerade noch" (bei der lebenslänglichen Freiheitsstrafe), die "Sphärentheorie" zur Abstufung des Würdeschutzes je nachdem, ob die Intim-, Privat- oder Sozialsphäre betroffen ist.
Drittens, es gibt kaum einen die Würde betreffenden Fall, in dem ihr Schutz nicht gegen andere Werte von Verfassungsrang und Grundrechte abgewogen wird. Zwar wird sie nicht im strengen Sinn angetastet, aber ihr Schutzbereich wird vermessen, Eingriffe werden gewichtet und ihre normative Bedeutung im Verfahren des möglichst schonenden Ausgleichs, genannt praktische Konkordanz, berechnet. Das spricht gegen die Annahme, die Unantastbarkeit der Würde umschreibe ein modernes Tabu, und auch gegen die Vermutung, die Würde sei unabwägbar: Im Abhörurteil wurde 1970 die Würde gegen den Schutz des Staates abgewogen – und die Verletzung der Würde wurde für zu leicht befunden. Bei der Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch wurden der Lebensschutz des Embryos und die Entscheidungsfreiheit der Schwangeren "in ihrer Beziehung zur Menschenwürde" gesehen und abgewogen. Das Bundesverwaltungsgericht ließ bei der Frage der Zulässigkeit von Peep-Shows die freie Entscheidung der nackten Frauen hinter der "normativen Kraft" der Würde zurücktreten.
Viertens, die Würde wird beim fortpflanzungsmedizinischen und gentechnischen Umgang mit menschlichem Leben (etwa therapeutisches Klonen), bei der Präimplantationsdiagnostik, bei Leihmutterschaft und In-vitro-Fertilisation, bei der Haftung des Arztes für eine fehlgeschlagene Sterilisation oder auch beim Einsatz der Informationstechnologie oder gegen die Forschungsfreiheit oder informationelle Zugriffe des Staates in Anschlag gebracht. Ganz offensichtlich eignet sich die Menschenwürde dazu, neuartige Konflikte und Gefahren anzuzeigen. Wie eine Wanderdüne bewegt sie sich als erste Abwehrfront auf diese Technologien zu und versucht, mit natürlich umstrittenen Verboten eine Grenze zu ziehen. Sie stellt sich ihnen als Argument in den Weg, solange ein ausdifferenziertes Instrumentarium vom Gesetzgeber noch nicht entwickelt worden ist.
Was den Menschen für ein Leben in Würde zusteht
Der Parlamentarische Rat hatte nicht bezweckt, Menschenwürde als Anspruch auf staatliche Fürsorge zu normieren. Sie blieben ihrer liberalen Linie treu, obwohl seit einer Resolution der Internationalen Arbeitsorganisation von 1944
Auch das Bundesverfassungsgericht meinte 1951, der Schutz der Würde umfasse nicht die "materielle Not": Art. 1 Abs. 1 S. 2 "verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ‚Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint".
Schritt für Schritt wurde die antitotalitäre Fundamentalnorm geöffnet, und der "fundamentalistische Liberalismus" wurde zurückgenommen durch die Einbeziehung der sozialen Dimension. Zur Entfaltung kam diese schließlich, als das Bundesverfassungsgericht den Würdeschutz mit dem Sozialstaatsprinzip verknüpfte:
Anders als Schiller verlangte das Bundesverfassungsgericht wie bei allen Grundrechten, dass der materielle Würde-Anspruch vom Gesetzgeber "alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen" hat. Zuletzt betonte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Leistungen für AsylbewerberInnen, dass die Frage des Existenzminimums nicht vom Aufenthaltsstatus der Anspruchsberechtigten abhängen darf. Wer also deren Mittel kürzen will, muss auch dies in einem inhaltlich transparenten Verfahren tun und muss insbesondere belegen, dass diese Gruppe tatsächlich einen niedrigeren Bedarf hat.
Der Schutz der Menschenwürde gibt mithin ein ungefähres Maß vor, was uns zusteht – in puncto Status, Behandlung, Lebensumstände und materiellen Lebensbedingungen. Konkretisieren muss dies jeweils der Gesetzgeber oder im Einzelfall die Verwaltung im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative beziehungsweise ihres Ermessens. So wurde das Hartz-IV-Gesetz beanstandet, weil die Unterhaltssätze 17 Jahre lang nicht angehoben worden waren.
Das Recht, Rechte zu haben
Zu der durch die Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) jeglicher Verfassungsänderung entzogenen Würde-Garantie gehört schließlich noch das Bekenntnis in Abs. 2: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum", also wohl wegen Achtung und Schutz der Würde, "zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Was Menschenrechte sind, scheint geklärt: Sie gelten für alle, das heißt universell. Es kommt nur auf das bloße Menschsein an, nicht etwa auf die nationale Zugehörigkeit zu einem Staat oder einem Stand, auf ein bestimmtes Geschlecht oder das Erreichen einer Altersgrenze. Angesichts des Elends der Vertriebenen, Deportierten und Staatenlosen pointierte die Philosophin Hannah Arendt den Begriff und folgerte, es gebe nur ein einziges Menschenrecht, nämlich das Recht, Rechte zu haben, weil nur dieses im Zustand "absoluter Gesetz- und Schutzlosigkeit" das bloße Menschsein sichert.
Lange galt das Recht, Rechte zu haben, als eine interessante philosophische Idee ohne juristische Bedeutung. Es scheint jedoch, als könnte dieses Recht eine späte, vom Würdeverständnis beschleunigte Karriere machen. Zuletzt hatte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) über die völkerrechtswidrigen Rückschiebungen (Push-Backs) an der spanisch-marokkanischen Grenze zu verhandeln. Im Oktober 2017 befand der EGMR, Spaniens Rückschiebepraxis sei menschenrechtswidrig.
Schluss
Angenommen die Unantastbarkeit der Würde ähnelte einem Tabu: Wozu brauchen wir diese Norm? Nach dem hier kursorischen Durchgang durch Deutungen und Kontroversen liegt die Vermutung nahe, der Würde-Schutz solle uns an die Versehrbarkeit unserer Existenz erinnern und die grundlegende und einzige wechselseitige Verpflichtung bekräftigen, nämlich die gleiche Würde aller anzuerkennen. Daneben ruft Art. 1 GG ins Gedächtnis, was Anderen – den Fremden – zusteht. Nicht nur politisch, nicht nur moralisch, sondern von Verfassungs wegen haben sie das Recht, bei uns Rechte zu haben. Denn das rechtliche Unglück der Geflüchteten und Asylsuchenden besteht nicht darin, dass sie "des Lebens, der Freiheit, des Strebens nach Glück, der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Meinungsfreiheit beraubt sind". "Ihre Rechtlosigkeit entspringt einzig der Tatsache, daß sie zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft mehr gehören."