Das Verhältnis der Weimarer Verfassung von 1919 zum 30 Jahre später verabschiedeten Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland hat man lange Zeit ebenso eindeutig wie einseitig dargestellt: Weimar war – wenn nicht allein, so doch zumindest auch – an seiner unzulänglichen Verfassung gescheitert, der man zahlreiche Mängel und "Konstruktionsfehler" ankreidete. Vielen galt sie als "fatale Fehlkonstruktion", ja geradezu als "Geburtshelfer der Diktatur". So habe die Machtfülle des Reichspräsidenten als eines Ersatzkaisers die verhängnisvollen Präsidialkabinette ab 1930 ermöglicht, die dann mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler den Weg in die Katastrophe gebahnt habe. Das strikte Verhältniswahlrecht in Kombination mit einer fehlenden Fünfprozentklausel habe zu einer Vielzahl von im Reichstag vertretenen Parteien und so zu permanenter Instabilität geführt. Grundrechte hätten, da reduziert auf den Status bloßer Programmsätze, keine rechte Wirkung entfalten können. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit habe gänzlich gefehlt.
Vor diesem düster gezeichneten Hintergrund strahlt dann naturgemäß das Grundgesetz umso heller, das – so wird die Geschichte in aller Regel weitergesponnen – seine "Lehren" aus den Fehlern der Weimarer Republik gezogen und alles viel besser gemacht habe: Der Bundespräsident wird nicht vom Volk gewählt und sieht sich im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränkt; ein personalisiertes Verhältniswahlrecht wird mit der Fünfprozentklausel verknüpft; die Grundrechte sind mit unmittelbarer Wirkung gegenüber allen drei Staatsgewalten ausgestattet; als Hüter der Verfassung wird ein kompetenzstarkes Verfassungsgericht etabliert.
Das skizzierte Bild führte seit den 1950er Jahren bis in die jüngere Vergangenheit in der Tat dazu, das Grundgesetz als "Gegenentwurf", als "Gegenpol" oder als "Anti-Verfassung" zur Weimarer Reichsverfassung zu begreifen. Allenthalben wurde der "gewollte Gegensatz" zu Weimar betont, stellte man das Grundgesetz als "positives Gegenbild" vor und attestierte ihm noch in jüngerer Zeit eine "Anti-Weimar-Haltung". So wie der berühmte, geradezu fanalhafte Buchtitel von Fritz René Allemann aus dem Jahre 1956 ("Bonn ist nicht Weimar") eine maximale Distanz zwischen der gescheiterten ersten Demokratie und der jungen Bundesrepublik legen wollte, so betonten viele Autoren die Gegensätzlichkeit der beiden Verfassungen. Denn das Bild der Weimarer Reichsverfassung "als einer Gegenverfassung, als der Gegenverfassung zum Grundgesetz" diente insbesondere in den ersten Jahrzehnten nach 1949 "zum neuen Selbstverständnis und zur Versicherung einer besseren Zukunft".
Einer näheren Prüfung hält diese Sichtweise freilich nicht stand. Gewiss existieren Unterschiede zwischen der Weimarer Reichsverfassung und dem Grundgesetz, die vor allem im Bereich der Staatsorganisation, genauer: im Regierungssystem liegen. Doch sind sich beide Verfassungen auf vielen Feldern viel ähnlicher, als uns das Bild der Weimarer Verfassung als Kontrastfolie nahelegen will. Das trifft auf die Verfassungsprinzipien ebenso zu wie auf die Grundrechte. Auch bei der Verfassungsgerichtsbarkeit muss man eher von Fortentwicklung als von Neubeginn oder Gegensatz sprechen. Werfen wir einen genaueren Blick auf einige konkrete Regelungsfelder und beginnen mit den Verfassungsprinzipien.
Übereinstimmung: Verfassungsprinzipien
"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Mit diesen wenigen Worten bestimmt Art. 20 Abs. 1 GG wesentliche, gleichsam identitätsbestimmende Merkmale der Bundesrepublik Deutschland: Republik, Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat. Die rechtsstaatliche Komponente wird in Art. 20 Abs. 3 GG und in Art. 28 Abs. 1 GG angesprochen.
Alle diese Verfassungsprinzipien waren auch Bestandteil der Weimarer Reichsverfassung. Sie thematisierte die republikanische Staatsform in Art. 1 Abs. 1 WRV, weil der Bruch mit der Monarchie seinerzeit die wichtigste Aussage war. Ihr folgte der demokratische Grundsatz der Volkssouveränität, wie er sich fast wortgleich in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG wiederfindet, in Art. 1 Abs. 2 WRV: "Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Wahl des Parlaments, freies Mandat der Abgeordneten, deren Immunität und Indemnität sowie andere demokratische Selbstverständlichkeiten finden sich hier wie dort. Die Sozialstaatlichkeit, im Grundgesetz nicht weiter im Einzelnen ausbuchstabiert, war in der Weimarer Reichsverfassung Gegenstand zahlreicher Bestimmungen des Zweiten Hauptteils. Und dass die Weimarer Republik, wie schon das Kaiserreich, ein Bundesstaat sein würde, stand in der Nationalversammlung rasch fest, auch wenn sich die Kräfte deutlich zugunsten des Reiches und zulasten der Länder verschoben. Selbst bei der Organisation der Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches beziehungsweise Bundes folgen Grundgesetz wie Weimarer Reichsverfassung dem gleichen Modell, nämlich dem eines von den Landesregierungen beschickten Rates (Ratsmodell) – und nicht dem (im Parlamentarischen Rat durchaus intensiv und kontrovers als mögliche Alternative diskutierten) Senatsmodell, bei dem sich das Vertretungsorgan aus gewählten Abgeordneten der Länder zusammensetzt. Auch hier besteht also denkbar große Ähnlichkeit und kein Gegensatz. Schließlich waren wesentliche Elemente des Rechtsstaates wie Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Richter, Recht auf den gesetzlichen Richter sowie Amtshaftung in der Weimarer Verfassung ebenso verankert, wie sie es im Grundgesetz sind.
Natürlich gab es bei der näheren Ausgestaltung der Verfassungsprinzipien durchaus Unterschiede. So sah die Weimarer Verfassung in puncto Demokratie ausdrücklich Volksbegehren und Volksentscheide vor, was das Grundgesetz – in auffälligem Unterschied zu mittlerweile sämtlichen Verfassungen der Bundesländer, die vorgrundgesetzlichen eingeschlossen – nicht tut. Dafür erkennt Art. 21 GG ausdrücklich die wichtige Rolle politischer Parteien für die demokratische Willensbildung an, während diese in der Weimarer Verfassung nur im negativen Sinne Erwähnung fanden. Auch sind die Länder wie der Bundesrat im Vergleich zu Weimar mit stärkeren Eigen- wie Mitwirkungsrechten ausgestattet.
Aber im Prinzipiellen herrscht beträchtliche Übereinstimmung, besser vielleicht: strukturelle Homogenität. Das liegt neben der tradierten föderalen Gestaltung und dem ebenfalls tief fundierten Sozialstaatsgedanken schlicht daran, dass beide Verfassungen als Realisierungsformen dessen gelten können, was man mit Begriffen wie "freiheitlicher Verfassungsstaat" oder "westliche Demokratien" umschreibt: Sie gehören zu demselben "Verfassungstyp".
Differenz: Regierungssystem
Demselben Typus angehörende Verfassungen können freilich sehr unterschiedliche Regierungssysteme aufweisen. Hier liegt denn auch die größte Differenz zwischen Weimar und Bonn. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man die Stellung von Reichspräsident und Bundespräsident vergleicht: "Die Regelungen über die Stellung des Bundespräsidenten im Grundgesetz stehen ganz im Bann der negativen Erfahrungen am Ende der Weimarer Republik. Die Abkehr von der Vorgängerverfassung ist – jedenfalls im Bereich des Staatsorganisationsrechts – nirgends deutlicher als beim Präsidentenamt." Im Vergleich zu der Machtfülle, die der direkt vom Volk auf sieben Jahre gewählte Reichspräsident innehatte (Ernennung des Reichskanzlers, Recht zur Auflösung des Reichstages, Notverordnungskompetenz) und die er gegen Ende der Weimarer Republik auf eine Art gebrauchte, die zur Zerstörung des Systems beitrug, sieht sich der von der Bundesversammlung auf fünf Jahre gewählte Bundespräsident auf eher repräsentative Funktionen beschränkt und verfügt nur über wenige echte, auf eng umgrenzte Lagen beschränkte Gestaltungsmöglichkeiten. Zu nennen sind etwa die Auflösung des Bundestages in den Fällen einer gescheiterten Vertrauensfrage oder eines nicht mit absoluter Mehrheit des Bundestages gewählten Bundeskanzlers. Freilich ist dieser Neuzuschnitt Teil eines Wechsels hin zum rein parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik. Die geringeren Kompetenzen des Bundespräsidenten sowie der Verzicht auf seine direkte Volkswahl stellen sich letztlich als Konsequenz dieses Systemwechsels dar. Von daher greift es viel zu kurz, wenn schlicht die Verringerung der Machtfülle des Präsidenten als Erfolg und als "Lehre aus Weimar" gepriesen wird. Denn die staatlichen Hoheits- und Gestaltungsrechte müssen ja irgendwie wahrgenommen werden und lösen sich nicht einfach in Luft auf. Ihre Verteilung gleicht einem Nullsummenspiel: Was der eine verliert, muss jemand anderes hinzugewinnen.
Daher wächst unter dem Grundgesetz dem Parlament, das sehr viel stärker zur Stützung der Regierung in die Pflicht genommen wird, und vor allem dem Amt des Bundeskanzlers, dessen Position insbesondere durch die erschwerte Abwahl (konstruktives Misstrauensvotum) sowie durch Kabinettsbildungs- und Richtlinienkompetenz enorm aufgewertet und gefestigt wird, ein Großteil dessen zu, was dem Präsidenten im Vergleich zu Weimar verloren ging. Die vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode – in Weimar der Regelfall – und der Wechsel der Regierungen – in Weimar gab es deren insgesamt rund 20 – sind unter dem Grundgesetz stark erschwert.
Auch die Fünfprozenthürde soll durch Begrenzung der im Parlament vertretenen Parteien zur Stabilität beitragen. Freilich darf man ihren Effekt nicht überschätzen. Weder hat sie verhindert, dass heute im Bundestag sieben Parteien sitzen, noch hätte sie in Weimar den Einzug extremistischer Parteien von links und rechts verhindert, die diese Hürde gerade in den späten Krisenjahren spielend übersprungen haben und am Ende eine "Obstruktionsmajorität" bildeten. Beachtlich ist vor allem, dass die jeweils sechs stärksten Parteien bei allen acht Reichstagswahlen stets über 80 Prozent der Reichstagssitze auf sich vereinigten, vier Mal sogar deutlich mehr als 90 Prozent – 1920, bei beiden Wahlen 1932 und bei der allerdings nicht mehr wirklich freien Wahl 1933. Koalitionsfähigkeit und -willigkeit vorausgesetzt, hätten in allen Fällen stabile Regierungen gebildet werden können. Das Argument der Parteizersplitterung schlägt mithin nicht durch. Blockierend wirkte hingegen der eklatante Mangel am Willen und an der Bereitschaft zum Kompromiss und zur Bildung von Koalitionen auch unter den demokratischen Parteien, solange sie noch in der Mehrheit waren. Und auch wenn man in Weimar durch "Tolerierungspolitik" und Ermächtigungsgesetze die Verantwortung leichter von sich abschieben konnte als heute, so setzt doch das parlamentarische System des Grundgesetzes ebenfalls die Existenz von systemtragenden Parteien voraus, die sich in die Verantwortung nehmen lassen. Eine solche Bereitschaft kann keine Norm der Welt garantieren.
Wo aber bleibt nun das zentrale präsidiale Machtinstrument der Weimarer Zeit, das Notverordnungsrecht des Art. 48 Abs. 2 WRV, von dem Friedrich Ebert in den frühen Krisenjahren zur Stabilisierung von Republik und Verfassung, Paul von Hindenburg in den Krisenjahren seit 1930 zu deren Aushöhlung Gebrauch gemacht hatte? Diese Kompetenz fehlte im Grundgesetz von 1949 völlig – wie überhaupt jede Regelung zum Notstand. Das hat einen einfachen Grund: Dessen etwaige Bewältigung lag seinerzeit gar nicht in der Hand deutscher Verfassungsorgane, sondern in jener der alliierten Besatzungsmächte. Eine Notstandsverfassung wurde dem Grundgesetz erst 1968 hinzugefügt, die in ihrer Detailfreude und Regulierungsdichte deutlich von der allgemeinen Notstandsklausel der Weimarer Zeit abrückt; ob sie hingegen einen ernsthaften Praxistest bestehen würde, erscheint eher zweifelhaft.
Fortentwicklung
Grundrechte
Was die Grundrechte betrifft, so wird noch immer verbreitet angenommen, dass diese in Weimar nur den Status von Programmsätzen, Staatszielen, Gesetzgebungsaufträgen oder Absichtserklärungen gehabt hätten, meist in die Formel gepresst: "In Weimar galten Grundrechte nur als Programmsätze!" Genau aus diesen Fehlern und Versäumnissen habe dann das Grundgesetz die segensreichen Konsequenzen gezogen und Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG als unmittelbar geltendes und einklagbares Recht eingestuft.
Dieses Bild ist, gelinde gesagt, verzerrt. Denn hier wird, was für die im Zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung sehr ausführlich behandelten sozialen und wirtschaftlichen Fragen, insbesondere die sogenannten Lebensordnungen (Familie, Religion, Wirtschaft) und die dort anzutreffenden Zielperspektiven und Gesetzgebungsaufträge in der Tat zutrifft, einfach auf die tradierten, klassischen, schon im 19. Jahrhundert geläufigen Grundrechtsverbürgungen übertragen. Derartige Rechte kannte natürlich auch die Weimarer Reichsverfassung, wie man beim Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 105 WRV), der Freizügigkeit (Art. 111 WRV), der Auswanderungsfreiheit (Art. 112 WRV), der Freiheit der Person (Art. 114 WRV), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 115 WRV), dem Briefgeheimnis sowie dem Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis (Art. 117 WRV), aber selbstverständlich auch bei der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit (Art. 118, 123 WRV) unschwer erkennen kann. Und es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass es sich bei diesen Verbürgungen um mehr als bloße Programmsätze oder Absichtserklärungen handelte, nämlich um aktuell geltendes, anwendbares und vollziehbares Recht – wer es nicht glaubt, werfe nur einen Blick in den seinerzeit führenden Kommentar von Gerhard Anschütz, der dies bei den genannten Normen und in der Einführung zum Zweiten Hauptteil klar herausstellt. Bei der Erläuterung zum althergebrachten Grundrecht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung gemäß Art. 114 Abs. 2 WRV schreibt er, um nun wirklich jeden Zweifel auszuschließen: "aktuelles Recht, nicht bloßes Programm!" Auch in der Judikatur des Reichsgerichts begegnet man immer wieder dem Hinweis darauf, dass es sich bei den genannten Grundrechten um aktuell anwendbares Recht, nicht lediglich um Programmsätze handele.
Ihre Geltungskraft bezog sich nun in erster Linie auf die Verwaltung als dem wichtigsten Adressaten der Grundrechte. Doch ist die gleichfalls oft im Brustton der Überzeugung geäußerte Auffassung unzutreffend, dass diese Verbürgungen – wenn schon die Behauptung ihres bloß programmatischen Charakters fehlgeht – durchweg nicht an den Gesetzgeber adressiert gewesen seien, dieser also gewissermaßen nach Belieben mit ihnen verfahren konnte. Auch hier habe erst Art. 1 Abs. 3 GG die entscheidende Veränderung gebracht, indem nun eindeutig auch der Gesetzgeber an die Grundrechte gebunden ist. Doch erneut muss man etwas genauer hinsehen und sich fragen, was mit "Gesetzgeber" jeweils gemeint ist. So war in Weimar der Landesgesetzgeber sehr wohl gebunden, was schlicht aus dem Vorrang des Reichsrechts folgte. So war ihm beispielsweise der Zugriff auf die in den Art. 111, 112 Abs. 1, 117, 123 Abs. 2 WRV geschützten Rechte verwehrt. Aber auch der Reichsgesetzgeber unterlag Bindungen, sofern er nicht als reichsverfassungsändernder Gesetzgeber tätig wurde. So konnte auch er nicht über Art. 105, 112 Abs. 2 und 3 oder Art. 116 WRV (Rückwirkungsverbot) und auch nicht über die Rechtsweggarantien der Art. 129 Abs. 1 Satz 4, 131 Abs. 3 Satz 3 verfügen. Zur Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 105 Satz 2 WRV schreibt Anschütz ausdrücklich, dieser Satz richte "sich nicht nur gegen die Verwaltung, sondern auch gegen den Gesetzgeber", um verdeutlichend hinzuzufügen: "Auch dem Gesetzgeber ist es verwehrt, Einzelfälle ihrem gesetzlichen Richter zu entziehen." Ferner nahm die Lehre in Übereinstimmung mit der Judikatur an, dass bestimmte Grundrechte wie Ehe oder Eigentum als Institutsgarantien anzusehen seien, die zu beseitigen auch dem Reichsgesetzgeber nicht gestattet war, sodass hier deutliche Schranken seines Zugriffs zutage traten. Und schließlich gab es Grundrechte wie die Meinungs- und die Religionsfreiheit, bei denen Einschränkungen nur aufgrund "allgemeiner" Gesetze erfolgen durften. Damit waren, wie man übereinstimmend in Wissenschaft und Spruchpraxis annahm, Sonder- oder Spezialgesetze ausgeschlossen, der Gesetzgeber mithin entsprechend gebunden. Bei der Religionsfreiheit des Art. 135 WRV bedeutete das, dass sich die allgemeinen Staatsgesetze nicht gegen eine bestimmte religionsbezogene Anschauung richten durften: "Insofern bindet Art. 135 nicht nur die Verwaltung an das Gesetz, sondern den Gesetzgeber (auch den Reichsgesetzgeber) selbst."
Zusammengefasst: Diejenigen klassisch-liberalen Grundrechte, auf die sich das Grundgesetz (weitgehend) beschränkt, waren auch und nicht selten wortgleich Bestandteil der Weimarer Reichsverfassung und galten dort mit unmittelbarer, aktueller Rechtswirkung. Das Fehlurteil, man habe seinerzeit nur Programmsätze konzipiert, verallgemeinert unzulässigerweise die Qualifikation jener Normen des Zweiten Hauptteils, die – wie die zahlreichen sozialprogrammatischen Regelungen – keine Aufnahme in das Grundgesetz gefunden haben. Adressat der aktuell geltenden Grundrechte war vornehmlich die Verwaltung, aber bei nicht wenigen Grundrechten, insbesondere den Institutsgarantien sowie der Meinungs- und Religionsfreiheit, gab es eine differenzierte Bindung auch des Gesetzgebers.
Mit alledem wird weder verkannt, dass das Grundgesetz selbst Vorkehrungen für eine stärkere Sicherung und Wirkkraft der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 19 Abs. 2 GG) getroffen hat, noch, dass es im Zuge der weiteren Verfassungsentwicklung zu einer gewaltigen, im Parlamentarischen Rat gewiss kaum vorstellbaren Bedeutungssteigerung der Grundrechte gekommen ist, was ganz maßgeblich der aktiven Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei ihrer Anwendung und Durchsetzung zuzuschreiben sein dürfte. Das führt uns direkt zum letzten Vergleichspunkt: der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Verfassungsgerichtsbarkeit
Die überragende, im Laufe der Jahrzehnte noch gewachsene Bedeutung und Wirkmächtigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die Entwicklung von Recht und Politik in der Bundesrepublik steht außer Frage. Es mag mit einer entsprechenden Fixierung auf das Gericht zu tun haben, dass sich zäh die Legende hält, so etwas wie eine Verfassungsgerichtsbarkeit habe es überhaupt erst in der Bundesrepublik gegeben, während man deren Existenz in der Weimarer Republik entweder absolut stiefmütterlich behandelt oder schlichtweg ihr "Fehlen" konstatiert. Eine solche Feststellung muss schon deswegen verwundern, weil die zeitgenössische Staatsrechtslehre in Weimar durchaus von der Existenz einer Staats- beziehungsweise Verfassungsgerichtsbarkeit (beide Begriffe wurden austauschbar verwendet) ausging. Sonst wäre die Wahl des Themas der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1928 schwer erklärlich, als Heinrich Triepel und Hans Kelsen über "Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit" vortrugen, und als ebenso rätselhaft müsste der Gegenstand des Beitrages über "Die Staatsgerichtsbarkeit" von Ernst Friesenhahn im "Handbuch des Deutschen Staatsrechts" erscheinen. Doch schrieb er nicht über ein Phantom. Anschütz konstatierte in seiner Kommentierung des Art. 19 WRV, der die Zuständigkeit des in Art. 108 WRV etablierten Staatsgerichtshofs (StGH) regelte, wie immer knapp und klar, "daß der StGH wohl der Hauptträger, nicht aber der alleinige Träger der staatlichen Gerichtsbarkeit (= Verfassungsgerichtsbarkeit) des Reichs" sei.
Walter Simons, langjähriger Präsident des StGH, charakterisierte diesen unmissverständlich als "Kontrollinstanz für die Einhaltung der Bestimmungen der Reichsverfassung." Nun war die Verfassungsgerichtsbarkeit in Weimar keine mit dem Bundesverfassungsgericht identische. Vor allem gab es in Weimar nicht die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde. Aber die gab es 1919 nirgends auf der Welt, und noch heute sehen nur wenige Verfassungen freiheitlicher Staaten eine solche Möglichkeit vor. Die USA beispielsweise zählen nicht dazu. Dort kennt man ferner weder die abstrakte noch die konkrete Normenkontrolle nach Art des Grundgesetzes und auch nicht das Institut der Organstreitigkeiten – und dennoch sprechen wir ganz selbstverständlich und zutreffend von der Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt des Supreme Court. Das zeigt: Verfassungsgerichtsbarkeit kann durchaus unterschiedliche Formen annehmen, insbesondere was Art und Umfang der Verfahren, den Kreis der Antragsteller oder die Objekte gerichtlicher Kontrolle betrifft. Ohne Einengung auf bestimmte Modelle lässt sich von Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen dann sprechen, wenn eine gerichtliche Überprüfung staatlicher Hoheitsakte auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung vorgesehen ist.
Entsprechende Möglichkeiten standen dem Staatsgerichtshof als "Hauptträger" der Verfassungsgerichtsbarkeit in mehrfacher Hinsicht zu. Einmal war das Gericht zuständig für Verfassungsstreitigkeiten zwischen den Ländern oder zwischen dem Reich und einem Lande: Das berühmteste entsprechende Urteil vom Oktober 1932 für den letztgenannten Fall ist zugleich das berüchtigtste, nämlich das zum "Preußenschlag", und oft wird der Staatsgerichtshof praktisch nur mit diesem Fall assoziiert oder gar darauf reduziert.
Im gleichen Verfahrenstyp fällte er aber zwei Jahre zuvor ein Urteil, von dem der Jurist Walter Simons rückblickend sagte, es habe "wegen seiner politischen Bedeutung großes Aufsehen erregt". In der Sache ging es um einen Antrag des Deutschen Reichs wegen Unvereinbarkeit der Empfehlung von nationalistischen Schulgebeten des (nationalsozialistischen) Thüringischen Ministeriums für Volksbildung (Minister war Wilhelm Frick, NSDAP) mit Art. 148 Abs. 2 WRV, der lautete: "Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden." Der StGH gab dem Antrag mit der Begründung statt, dass Art. 148 Abs. 2 WRV dem Schutz der Empfindungen Andersdenkender diene, die empfohlenen Gebete aber durch ihre nationalsozialistischen Inhalte in den Dienst parteipolitischer Forderungen gestellt würden, um gerade den Zorn gegen Andersdenkende zu schüren, indem sie sich "gegen die politischen Anschauungen weiter Kreise des deutschen Volkes wenden und ein Bekenntnis zum Antisemitismus enthalten in der Form, daß die Anhänger jener politischen Anschauung [der Sozialdemokratie] und die Juden als Volksbetrüger und Landesverräter gebrandmarkt werden".
Das ist nur eines von zahlreichen Judikaten des StGH, der in den zwölf Jahren seiner Tätigkeit nicht lediglich quantitativ eine rege Spruchpraxis entfaltete, die sich in den sechs teils sehr umfänglichen Bänden seiner offiziellen Entscheidungssammlung niederschlägt. Auch qualitativ ergab sich eine facettenreiche Judikatur, weil der StGH als Verfassungsgericht für Länder wie Preußen, Sachsen, Baden und Württemberg fungierte und hier eine Vielzahl von Organstreitigkeiten entschied. An manches (Parteifähigkeit politischer Parteien oder Eingemeindungen) konnte später das Bundesverfassungsgericht anknüpfen. Nimmt man hinzu, dass neben dem "Hauptträger" (Gerhard Anschütz) der Verfassungsgerichtsbarkeit noch das Reichsgericht in seiner Funktion als Verfassungsgericht gemäß Art. 13 Abs. 2 WRV wirkte, indem es in Gestalt der abstrakten Normenkontrolle Landesrecht jeglicher Stufe am Maßstab der Reichsverfassung prüfte, so sieht man, dass das Grundgesetz auch in puncto Verfassungsgerichtsbarkeit nicht den Gegenentwurf zur Weimarer Verfassung, sondern deren Fortentwicklung bildet. Als "Hüter der Verfassung" hatte sich im Übrigen der Staatsgerichtshof zum ersten Mal selbst 1927 tituliert.
Orientierungshilfe, nicht Negativfolie
Als Fazit und Antwort auf die Titelfrage dieses Beitrages ergibt sich: Bei den Verfassungsprinzipien und damit in der grundsätzlichen Ausrichtung stimmen Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz überein. In der Ausgestaltung des Regierungssystems unterscheiden sie sich signifikant. Bei den Grundrechten und der Verfassungsgerichtsbarkeit ist das Verhältnis eher als Weiterentwicklung mit kräftigen Neuakzentuierungen denn als schroffer Gegensatz zu charakterisieren. Dieser Gesamtbefund erklärt und stützt die vor einigen Jahrzehnten schon von Friedrich Karl Fromme gezogene – und für viele heute wohl zunächst eher befremdlich klingende – Bilanz, der zufolge das 1949 konzipierte Grundgesetz im Grunde "eine modifizierte Neubelebung der Weimarer Reichsverfassung" darstellte. Man sollte daher aufhören, die Weimarer Reichsverfassung lediglich als "negative Folie" für das Grundgesetz zu betrachten.
Die Weimarer Reichsverfassung war für das Grundgesetz mehr und anderes als Kontrastprogramm oder Gegenbild: Sie wirkte viel stärker als Orientierungshilfe, war in manchem Vorbild, in manchem Mahnung, immer aber Ansporn zur Verbesserung. Und in Gestalt der in Art. 140 GG inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung, die das Verhältnis von Staat und Religion und damit eine gerade in unseren Tagen außerordentlich wichtige Materie regeln, lebt ein Stück der Weimarer Verfassung im Grundgesetz bis heute fort.