Wer an der geltenden deutschen Verfassung etwas verändern will, braucht eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das ist die erste und effektivste Antwort des Grundgesetzes auf die Frage nach seiner Robustheit. Die Verfassung verleiht der demokratisch gewählten Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit die Legitimation, Recht und Gesetz nach ihrem Willen zu verändern, aber es entzieht ihr dieselbe im gleichen Atemzug dort, wo es um sie selber geht. Zum Ändern der Verfassung kann man sich nicht wählen lassen. Dafür braucht der Wahlsieger eine Zweidrittelmehrheit, sprich: normalerweise die Mithilfe der im politischen Wettbewerb unterlegenen und damit zur Machtausübung gerade nicht legitimierten Opposition.
Mit dieser Differenzierung zwischen dem Regelfall des gewöhnlichen, der Macht der Mehrheit unterworfenen Rechts und dem Sonderfall des einer Supermajorität vorbehaltenen Verfassungsrechts bringt das Grundgesetz sich selbst in Sicherheit vor den Mühlsteinen der politischen Auseinandersetzung um Mehrheit oder Minderheit. Die Verfassung schützt sich damit davor, in einer Paradoxieschleife zu landen: Sie ermächtigt die Mehrheit, ohne sich ihr auszuliefern. Damit macht sie sich robust für den politischen Normalbetrieb. Das Paradoxieproblem wird in den Extrem- und Ausnahmefall eines Fundamentalangriffs auf die "freiheitliche demokratische Grundordnung" abgedrängt, für den das Grundgesetz Instrumente der sogenannten wehrhaften Demokratie wie Ewigkeitsklausel, Parteiverbot und Verwirkung von Grundrechten parat hält, die allesamt selten oder nie praktisch werden und daher in ihrer Paradoxie aushaltbar erscheinen. Die Robustheit des Grundgesetzes wird dann zuvörderst oder gar nur noch in der Begegnung mit seinen erklärten Feinden zum Problem, musterhaft verkörpert im Nationalsozialismus und im Kommunismus als dem Anderen, mit der Verfassungsordnung des Grundgesetzes existenziell Unvereinbaren. In diesem Spannungsfeld spielte sich, vom SRP- und KPD-Verbot
Wahlsieg ist kein Verfassungsänderungsmandat
Im achten Jahrzehnt der Geltungsdauer des Grundgesetzes ist diese Lösung, zwischen politischer Gegnerschaft und Verfassungsfeindschaft zu differenzieren und das eine zu ermöglichen und das andere auszuschließen, indessen prekär geworden, und zwar auf beiden Seiten. Auf der Ebene des Verfassungsschutzes haben das gescheiterte Verbot der verfassungsfeindlichen, aber zur Verfassungswidrigkeit zu schwachen NPD
Zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bieten sich hierbei als Studien- und Vergleichsobjekte besonders an: Ungarn und Polen. In Ungarn besitzt als Folge eines sehr speziellen Wahlsystems seit 2010 (mit Unterbrechung) die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da es in Ungarn keine zweite Kammer gibt, ist die Regierungsmehrheit damit gleichermaßen legitimiert, einfache wie verfassungsändernde Gesetze zu erlassen, ohne dabei auf die Opposition irgendeine Rücksicht nehmen zu müssen. Die Regierungsmehrheit hat auf dieser Basis nicht nur zahlreiche Verfassungsänderungen, sondern eine komplett neue, nach ihrem Willen gestaltete Verfassung in Kraft gesetzt, die bis ins Detail auf das Ziel zugeschneidert ist, den Machtverlust der Fidesz-Partei durch eventuelle künftige Mehrheitsverschiebungen möglichst unwahrscheinlich zu machen. In Polen hat dagegen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) unter Jarosław Kaczyński mit 38 Prozent der Stimmen zwar 2015 die Wahl gewonnen und eine absolute Mehrheit im Parlament erreicht, aber keine Mehrheit, die zur Änderung der polnischen Verfassung ausgereicht hätte. Diese ist immer noch die gleiche wie vor 2015; kein Buchstabe hat sich geändert. Und trotzdem ist es der Regierungsmehrheit gelungen, die Verfassungsordnung seither in weiten Teilen umzukrempeln und dem Interesse ihres Machterhalts zu unterwerfen.
Die Fälle Ungarn und Polen haben gemeinsam, dass die Unterscheidung zwischen Gesetzes- und Verfassungsänderung systematisch und radikal unterlaufen wird: in Ungarn durch ihre faktische Auflösung, in Polen durch eine auf Dauer gestellte Verfassungskrise. Wie das geschieht und was das für die Robustheit der jeweiligen Verfassung für Folgen hat, lässt sich beispielhaft am Schicksal der Verfassungsinstitution zeigen, die auch im Gefüge des deutschen Grundgesetzes eine Schlüsselrolle einnimmt: das Verfassungsgericht.
Der Fall Ungarn
In Ungarn begann die Fidesz-Regierung nach ihrem Wahlsieg 2010 früh damit, das bis dahin mächtige und selbstbewusste ungarische Verfassungsgericht
Das ungarische Verfassungsgericht existiert weiter. Es wurde nicht abgeschafft oder ausgeschaltet, wie es etwa dem österreichischen Verfassungsgerichtshof 1933 widerfahren war. Es verhandelt und urteilt bis auf den heutigen Tag still und fleißig vor sich hin und verhilft gelegentlich auch mal Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht, sofern es sich nicht um einen politisch heiklen Fall handelt. Aber es hütet sich, ähnlich wie das russische Verfassungsgericht, dem Willen der Regierungsmehrheit in die Quere zu kommen.
Der Fall Polen
In Polen blieb die Regierungspartei PiS, anders als die ungarische Fidesz, weit von einer verfassungsändernden Mehrheit entfernt. Trotzdem war die Unterwerfung des Verfassungsgerichts in Polen mindestens ebenso erfolgreich wie in Ungarn. Dabei half zum einen die Tatsache, dass die PiS 2015 nicht nur die Parlamentsmehrheit, sondern wenige Monate zuvor auch das Amt des Präsidenten erobert hatte. Der Präsident nimmt den Verfassungsrichterinnen und -richtern den Amtseid ab, ohne den sie ihr Amt nicht antreten können. Ebenfalls hilfreich war, dass es nicht die PiS, sondern die vormalige Regierungs- und heutige Oppositionspartei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) war, die mit dem Tricksen angefangen hatte: Kurz vor dem absehbaren Machtwechsel änderte sie rasch das Gesetz, das die Besetzung der Verfassungsrichterposten regelt. Das hatte damit zu tun, dass Ende 2015 die Amtszeit von fünf der 15 Richter ablief, also ein ganzes Drittel der Richterbank neu besetzt werden musste. Bei dreien lag der Termin nach der Wahl, aber vor Zusammentritt des neuen Parlaments, also formell noch in der Zuständigkeit der alten Mehrheit. Bei zwei weiteren aber wäre bereits das neu gewählte Parlament zuständig gewesen, also die PiS-Mehrheit. Dennoch besetzte die Bürgerplattform alle fünf Posten selbst.
Staatspräsident Andrzej Duda weigerte sich daraufhin, den neuen Richtern den Amtseid abzunehmen – und zwar allen fünfen. Stattdessen wählte das neue Parlament mit den Stimmen der PiS-Koalition fünf andere Verfassungsrichter nach ihrem Geschmack, und diese fünf wurden noch in der gleichen Nacht von Präsident Duda vereidigt.
Damit aber nicht genug: Im Dezember änderte die PiS-Mehrheit das Gesetz, das die Verfahrensweise des Verfassungsgerichts regelt. Unter anderem verpflichtete diese Änderung das Gericht, Verfahren künftig strikt in der Reihenfolge ihres Eingangs abzuarbeiten. Die Folge: Alles, was die PiS an neuen Gesetzen erlässt, kann das Gericht erst kontrollieren, wenn der ganze Rückstau von Altverfahren zuvor abgetragen ist – also zu einem Zeitpunkt, an dem die Gesetze zumeist ihre Wirkung bereits längst getan hatten.
Zwei Dinge machten die Sache aber kompliziert: Zum einen hatte Gerichtspräsident Andrzej Rzepliński den drei vereidigten, aber nicht legal gewählten PiS-Richtern jede Teilnahme an der Urteilstätigkeit verweigert. Zum anderen hatte das Gericht bei der Überprüfung des Gesetzes dieses selbst unangewendet gelassen – denn hätte es auf Basis des neuen Gesetzes verhandelt, hätte es dieses von vornherein praktisch gar nicht überprüfen können. Dies nahm die Regierung zum Anlass, etwas Unerhörtes zu tun: Sie weigerte sich, das Urteil im offiziellen Amtsblatt zu veröffentlichen. Damit war das Urteil offiziell nicht in der Welt. Beides, die Vereidigung der gewählten Richter und die Veröffentlichung gefällter Urteile, hatten bis dato als bloße Formalien gegolten – als rituelle Handlungen, die der Richterwahl beziehungsweise dem Urteilsspruch ihre offiziöse Würde und Gültigkeit geben, aber mit keinerlei rechtlichem oder gar politischem Ermessen verknüpft sind – so die Erwartung. Doch die PiS schuf einfach Fakten.
Die PiS besaß keine Macht, die Verfassung zu ändern und die Institution Verfassungsgericht umzugestalten. Aber sie besaß die Macht, der Legitimation des Gerichts sozusagen einen Sprengsatz einzupflanzen und ihn zur Explosion zu bringen: drei Richterposten gleichzeitig doppelt und überhaupt nicht besetzt; die Verfahrensregeln des Gerichts gleichzeitig verfassungswidrig und nicht verfassungswidrig; die Urteile des Gerichts gleichzeitig gesprochen und nicht in der Welt. Ein so mit Paradoxie geimpftes Gericht kann per se schon nicht mehr viel ausrichten. Drei Jahre und zahlreiche weitere Attacken auf die Integrität des Gerichts später ist das einstmals international hoch angesehene polnische Verfassungsgericht heute kaum mehr als ein Schatten seiner selbst.
Lektionen für das Grundgesetz
In Polen waren weder ein offener Staatsstreich noch eine verfassungsändernde Mehrheit nötig, um eine solch zentrale Institution wie die Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Gefüge der Verfassungsordnung de facto herauszubrechen.
Dass es das Bundesverfassungsgericht gibt und in welchen Fällen es aktiv wird, steht direkt im Grundgesetz und ist damit nur mit Zweidrittelmehrheit abänderbar,
Das bedeutet beispielsweise: Eine einfache Mehrheit im Bundestag wäre befugt dazu, das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Richter einfach aus dem Gesetz zu streichen. Sie könnte die Besetzung der Stellen sich selbst vorbehalten, ohne künftig die Opposition zu beteiligen. Sie könnte auch die Zahl der Richter in den Senaten erhöhen und sich so die Gelegenheit verschaffen, auf einen Schlag eine größere Zahl von Stellen mit eigenen Leuten zu besetzen – ein court packing scheme, wie es Viktor Orbán in Ungarn vorgemacht hat. Schließlich könnte sie die Zahl der Senate von zwei auf drei erhöhen (klagt nicht das Gericht seit Langem über seine zu hohe Arbeitsbelastung?) und sich so erstens die Gelegenheit verschaffen, gleich einen ganzen Senat mit neuen Leuten zu besetzen (die Hälfte davon wäre freilich der Wahl durch den Bundesrat vorbehalten) und zweitens die Geschäftsverteilung zwischen den Senaten auf eine Weise neu zu regeln, die die Gefahr verfassungsgerichtlicher Interventionen beim Umsetzen ihres politischen Programms möglichst minimiert.
Die Parlamentsmehrheit könnte aber auch noch auf andere Gedanken kommen. Heute sind im Senat fünf von acht Stimmen notwendig, um ein Gesetz für verfassungswidrig und/oder nichtig zu erklären. Warum nicht aus der absoluten eine Zweidrittelmehrheit machen? Dann müssten schon sechs von acht Senatsmitgliedern der gleichen Meinung sein, um ein Gesetz als verfassungswidrig zu kippen. Eine Sperrminorität von drei Richtern reicht aus, und das Gesetz kommt durch. Das kann sehr nützlich sein, wenn man sich auf verfassungsrechtlich bedenkliches Gelände wagen möchte. Dass der Senat für bestimmte Entscheidungen eine qualifizierte Mehrheit braucht, gibt es bei einigen, selten praktisch werdenden Verfahrensarten schon jetzt, etwa beim Parteiverbotsverfahren oder bei der Präsidentenanklage. Dazu kommt: Dem Bundesverfassungsgericht bei sogenannten normverwerfenden Urteilen eine Zweidrittelmehrheit abzuverlangen, ist eine uralte Forderung nicht zuletzt von Rechtspolitikerinnen und -politikern der CDU. Und warum auch nicht? Bei Verfassungsänderungen besteht man schließlich auch auf einer Zweidrittelmehrheit, warum also nicht auch bei Verfassungsinterpretation mit rechtsverändernder Wirkung?
Nun würde das Bundesverfassungsgericht solchen Manipulationen vermutlich nicht tatenlos zuschauen wollen. Wenn die Opposition das Änderungsgesetz per Normenkontrollantrag in Karlsruhe zur Überprüfung vorlegt, könnte das Gericht es für verfassungswidrig und nichtig erklären. Das ist allerdings nicht naheliegend. Denn erstens hat das Gericht den Spielraum des Gesetzgebers, die Verfahrensdetails nach eigenem Gutdünken zu regeln, einst selbst sehr großzügig bestimmt.
Zugriff auf Wahl-, Parteien- und Parlamentsrecht
Ist das Verfassungsgericht als Hindernis erst einmal eliminiert, bliebe nicht mehr allzu viel, was sich dem De-facto-Umbau der Verfassungsordnung durch einfache Parlamentsmehrheit noch in den Weg stellen könnte. Das Bundeswahlgesetz, das Parteiengesetz, die Geschäftsordnung des Bundestages lassen sich sämtlich ebenfalls mit einfacher Mehrheit ändern. Damit hätte die Parlamentsmehrheit Zugriff auf das Wahlsystem, auf die Parteienfinanzierung, auf die parlamentarischen Rechte der Opposition und könnte diese – wiederum nach polnischem und ungarischem Vorbild
Ein gewisses Maß an Robustheit würden dem Grundgesetz möglicherweise noch zwei Institutionen verleihen, die eigentlich demokratietheoretisch nicht den besten Ruf genießen: der Bundespräsident und der Föderalismus. Das Staatsoberhaupt hat einem verfassungswidrig zustande gekommenen Gesetz die formelle Ausfertigung und Verkündung zu verweigern. Allerdings sind die Grenzen der verfassungsrechtlichen Prüfungsbefugnis des Bundespräsidenten in höchstem Maße unklar und verfassungspolitisch heikel. Als Hemmschuh beim De-facto-Umbau der Verfassungsordnung könnte sich auch die föderale Verwaltungsexekutive in den Bundesländern erweisen, die über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mitwirkt und deren Existenz es unwahrscheinlicher macht, dass eine politische Kraft das gesamte staatliche Machtgefüge unipolar auf sich ausrichtet, wie es in Ungarn der Fall ist. Und auch dieser Faktor hat eine Kehrseite: Auf Landesebene kann die Exekutivgewalt ihrerseits in die Hände von Kräften fallen, die es mit der liberalen demokratischen Verfassung nicht gut meinen.
Schluss
Ob das Grundgesetz robust genug wäre, um einem Angriff wie in Polen oder Ungarn standzuhalten, erscheint somit zumindest zweifelhaft. Ließe sich die Robustheit des Grundgesetzes stärken, indem der Spielraum des einfachen zugunsten des verfassungsändernden Gesetzgebers weiter eingeschränkt wird? Es wäre naiv zu glauben, dass das Grundgesetz durch die weitere Konstitutionalisierung politischer Mehrheitsentscheidungen notwendig robuster würde: Denn erstens wird das Funktionieren der demokratischen Verfassung immer davon abhängig bleiben, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am politischen Wettbewerb an konventionelle Fairnessregeln gebunden fühlen, die gerade nicht kodifiziert sind. Und zweitens stärkt jedes Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit umgekehrt dann auch den Hebel einer potenziell autoritären Sperrminorität.
Dennoch kann und sollte aus den polnischen und ungarischen Erfahrungen gelernt werden. Das gilt insbesondere und ganz generell für die – verfassungspolitische, nicht verfassungsrechtliche – Frage, nach welchen Kriterien sich eigentlich unterscheidet, was dem verfassungsändernden Gesetzgeber mit Zweidrittelmehrheit und was dem einfachen Gesetzgeber mit einfacher Mehrheit überlassen sein soll. Wenn man als Gedankenexperiment das polnische Szenario im deutschen Verfassungskontext durchspielt, dann werden die potenziellen Risse im Panzer des Grundgesetzes sichtbar. Besonders eklatant: Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter lässt sich mit einfacher Mehrheit abschaffen. Jedenfalls dieser Schwachpunkt sollte möglichst rasch behoben werden – solange die dafür nötige Zweidrittelmehrheit noch vorhanden ist.