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Wie robust ist das Grundgesetz? Ein Gedankenexperiment

Maximilian Steinbeis

/ 16 Minuten zu lesen

Wenn man als Gedankenexperiment das polnische Szenario im deutschen Verfassungskontext durchspielt, dann werden die potenziellen Risse im Panzer des Grundgesetzes sichtbar. Die Schwachpunkte sollten möglichst rasch behoben werden.

Wer an der geltenden deutschen Verfassung etwas verändern will, braucht eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das ist die erste und effektivste Antwort des Grundgesetzes auf die Frage nach seiner Robustheit. Die Verfassung verleiht der demokratisch gewählten Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit die Legitimation, Recht und Gesetz nach ihrem Willen zu verändern, aber es entzieht ihr dieselbe im gleichen Atemzug dort, wo es um sie selber geht. Zum Ändern der Verfassung kann man sich nicht wählen lassen. Dafür braucht der Wahlsieger eine Zweidrittelmehrheit, sprich: normalerweise die Mithilfe der im politischen Wettbewerb unterlegenen und damit zur Machtausübung gerade nicht legitimierten Opposition.

Mit dieser Differenzierung zwischen dem Regelfall des gewöhnlichen, der Macht der Mehrheit unterworfenen Rechts und dem Sonderfall des einer Supermajorität vorbehaltenen Verfassungsrechts bringt das Grundgesetz sich selbst in Sicherheit vor den Mühlsteinen der politischen Auseinandersetzung um Mehrheit oder Minderheit. Die Verfassung schützt sich damit davor, in einer Paradoxieschleife zu landen: Sie ermächtigt die Mehrheit, ohne sich ihr auszuliefern. Damit macht sie sich robust für den politischen Normalbetrieb. Das Paradoxieproblem wird in den Extrem- und Ausnahmefall eines Fundamentalangriffs auf die "freiheitliche demokratische Grundordnung" abgedrängt, für den das Grundgesetz Instrumente der sogenannten wehrhaften Demokratie wie Ewigkeitsklausel, Parteiverbot und Verwirkung von Grundrechten parat hält, die allesamt selten oder nie praktisch werden und daher in ihrer Paradoxie aushaltbar erscheinen. Die Robustheit des Grundgesetzes wird dann zuvörderst oder gar nur noch in der Begegnung mit seinen erklärten Feinden zum Problem, musterhaft verkörpert im Nationalsozialismus und im Kommunismus als dem Anderen, mit der Verfassungsordnung des Grundgesetzes existenziell Unvereinbaren. In diesem Spannungsfeld spielte sich, vom SRP- und KPD-Verbot bis zu den Debatten um Notstandsgesetze, RAF-Terror und Radikalenerlass, ein nicht geringer Teil der bisherigen Verfassungsgeschichte der alten Bundesrepublik ab.

Wahlsieg ist kein Verfassungsänderungsmandat

Im achten Jahrzehnt der Geltungsdauer des Grundgesetzes ist diese Lösung, zwischen politischer Gegnerschaft und Verfassungsfeindschaft zu differenzieren und das eine zu ermöglichen und das andere auszuschließen, indessen prekär geworden, und zwar auf beiden Seiten. Auf der Ebene des Verfassungsschutzes haben das gescheiterte Verbot der verfassungsfeindlichen, aber zur Verfassungswidrigkeit zu schwachen NPD sowie das eklatante Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall der Neonazi-Terrororganisation NSU offengelegt, wie wenig auf die Instrumente der wehrhaften Demokratie mitunter Verlass ist, wenn die an sie gerichtete Erwartung, die Robustheit der liberalen demokratischen Verfassung in der Konfrontation mit existenzieller Feindschaft sicherzustellen, tatsächlich einmal praktisch wird. Weniger offen zutage liegt dagegen der Befund, dass auch auf der Ebene der regulären politischen Auseinandersetzung Anlass zur Beunruhigung über die Robustheit des Grundgesetzes besteht. Er zeigt sich, wenn man den Blick über den Geltungsbereich des Grundgesetzes hinaus auf das europäische und außereuropäische Ausland ausweitet.

Zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bieten sich hierbei als Studien- und Vergleichsobjekte besonders an: Ungarn und Polen. In Ungarn besitzt als Folge eines sehr speziellen Wahlsystems seit 2010 (mit Unterbrechung) die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da es in Ungarn keine zweite Kammer gibt, ist die Regierungsmehrheit damit gleichermaßen legitimiert, einfache wie verfassungsändernde Gesetze zu erlassen, ohne dabei auf die Opposition irgendeine Rücksicht nehmen zu müssen. Die Regierungsmehrheit hat auf dieser Basis nicht nur zahlreiche Verfassungsänderungen, sondern eine komplett neue, nach ihrem Willen gestaltete Verfassung in Kraft gesetzt, die bis ins Detail auf das Ziel zugeschneidert ist, den Machtverlust der Fidesz-Partei durch eventuelle künftige Mehrheitsverschiebungen möglichst unwahrscheinlich zu machen. In Polen hat dagegen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) unter Jarosław Kaczyński mit 38 Prozent der Stimmen zwar 2015 die Wahl gewonnen und eine absolute Mehrheit im Parlament erreicht, aber keine Mehrheit, die zur Änderung der polnischen Verfassung ausgereicht hätte. Diese ist immer noch die gleiche wie vor 2015; kein Buchstabe hat sich geändert. Und trotzdem ist es der Regierungsmehrheit gelungen, die Verfassungsordnung seither in weiten Teilen umzukrempeln und dem Interesse ihres Machterhalts zu unterwerfen.

Die Fälle Ungarn und Polen haben gemeinsam, dass die Unterscheidung zwischen Gesetzes- und Verfassungsänderung systematisch und radikal unterlaufen wird: in Ungarn durch ihre faktische Auflösung, in Polen durch eine auf Dauer gestellte Verfassungskrise. Wie das geschieht und was das für die Robustheit der jeweiligen Verfassung für Folgen hat, lässt sich beispielhaft am Schicksal der Verfassungsinstitution zeigen, die auch im Gefüge des deutschen Grundgesetzes eine Schlüsselrolle einnimmt: das Verfassungsgericht.

Der Fall Ungarn

In Ungarn begann die Fidesz-Regierung nach ihrem Wahlsieg 2010 früh damit, das bis dahin mächtige und selbstbewusste ungarische Verfassungsgericht zu neutralisieren. Als das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte, mit dem die Fidesz-Regierung Abfindungen für ausgeschiedene Beamtinnen und Beamte mit einer 98-prozentigen Besteuerung rückwirkend wieder einkassieren wollte, entzog sie ihm flugs per Verfassungsänderung weitestgehend die Kompetenz, Steuer- und Haushaltsgesetze überhaupt auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Zuvor schon hatte die Fidesz-Mehrheit die Besetzung der Richterbank ins Visier genommen: Um sie mit eigenen Leuten füllen zu können, änderte sie die Praxis der Richterwahl und erhöhte die Zahl der Richterinnen und Richter von elf auf 15, was Fidesz die Möglichkeit gab, auf einen Schlag sieben neue Richter zu wählen. Die Wahl des Gerichtspräsidiums wurde dem Richterplenum entzogen und ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments und damit der Fidesz-Fraktion überantwortet. Nachdem 2011 die neue, von der Fidesz-Mehrheit allein erarbeitete und beschlossene Verfassung in Kraft getreten war, sorgte Fidesz obendrein dafür, dass die gesamte bisherige Rechtsprechung des Gerichts seit 1989 ihre Bindungswirkung verlor – alle Grundsatzurteile aus der Vor-Fidesz-Zeit waren damit hinfällig.

Das ungarische Verfassungsgericht existiert weiter. Es wurde nicht abgeschafft oder ausgeschaltet, wie es etwa dem österreichischen Verfassungsgerichtshof 1933 widerfahren war. Es verhandelt und urteilt bis auf den heutigen Tag still und fleißig vor sich hin und verhilft gelegentlich auch mal Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht, sofern es sich nicht um einen politisch heiklen Fall handelt. Aber es hütet sich, ähnlich wie das russische Verfassungsgericht, dem Willen der Regierungsmehrheit in die Quere zu kommen. Im Gegenteil, bisweilen ist es der Regierung verfassungspolitisch regelrecht zu Diensten: Als Regierungschef Viktor Orbán 2016 versuchte, seinen Abwehrkampf gegen die Aufnahme von Flüchtlingen als Auseinandersetzung zwischen nationaler Selbst- und europäischer Fremdbestimmung zu stilisieren und zu diesem Zweck den Schutz der "Verfassungsidentität" Ungarns gegen die EU in der Verfassung zu verankern, war es das Verfassungsgericht, das ihm nach einem gescheiterten Referendum und einer gescheiterten Verfassungsänderung diesen Wunsch schließlich erfüllte. Im November 2016 urteilte es, dass die Staatsorgane Ungarns keine europarechtliche Verpflichtung anerkennen dürften, die der konstitutionellen Identität Ungarns entgegenstehe, und verschaffte Orbán auf diese Weise die willkommene Möglichkeit, sagen zu können, er dürfe rechtlich nicht, was er politisch nicht wollte. Der Anschein juristischer Korrektheit bleibt gewahrt, und die Regierung kann trotzdem tun, was sie will.

Der Fall Polen

In Polen blieb die Regierungspartei PiS, anders als die ungarische Fidesz, weit von einer verfassungsändernden Mehrheit entfernt. Trotzdem war die Unterwerfung des Verfassungsgerichts in Polen mindestens ebenso erfolgreich wie in Ungarn. Dabei half zum einen die Tatsache, dass die PiS 2015 nicht nur die Parlamentsmehrheit, sondern wenige Monate zuvor auch das Amt des Präsidenten erobert hatte. Der Präsident nimmt den Verfassungsrichterinnen und -richtern den Amtseid ab, ohne den sie ihr Amt nicht antreten können. Ebenfalls hilfreich war, dass es nicht die PiS, sondern die vormalige Regierungs- und heutige Oppositionspartei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) war, die mit dem Tricksen angefangen hatte: Kurz vor dem absehbaren Machtwechsel änderte sie rasch das Gesetz, das die Besetzung der Verfassungsrichterposten regelt. Das hatte damit zu tun, dass Ende 2015 die Amtszeit von fünf der 15 Richter ablief, also ein ganzes Drittel der Richterbank neu besetzt werden musste. Bei dreien lag der Termin nach der Wahl, aber vor Zusammentritt des neuen Parlaments, also formell noch in der Zuständigkeit der alten Mehrheit. Bei zwei weiteren aber wäre bereits das neu gewählte Parlament zuständig gewesen, also die PiS-Mehrheit. Dennoch besetzte die Bürgerplattform alle fünf Posten selbst.

Staatspräsident Andrzej Duda weigerte sich daraufhin, den neuen Richtern den Amtseid abzunehmen – und zwar allen fünfen. Stattdessen wählte das neue Parlament mit den Stimmen der PiS-Koalition fünf andere Verfassungsrichter nach ihrem Geschmack, und diese fünf wurden noch in der gleichen Nacht von Präsident Duda vereidigt. Das Verfassungsgericht wurde angerufen und urteilte, dass in der Tat die Wahl der zwei Richter, deren Amtszeit erst nach Zusammentritt des neuen Parlaments begonnen hatte, verfassungswidrig war – die der anderen drei aber korrekt gewesen sei. Deren Posten waren nun aber schon von den drei von der PiS gewählten Richtern besetzt. Damit gab es drei Richter, die legal gewählt, aber nicht vereidigt waren, und drei Richter, die vereidigt, aber nicht legal gewählt waren.

Damit aber nicht genug: Im Dezember änderte die PiS-Mehrheit das Gesetz, das die Verfahrensweise des Verfassungsgerichts regelt. Unter anderem verpflichtete diese Änderung das Gericht, Verfahren künftig strikt in der Reihenfolge ihres Eingangs abzuarbeiten. Die Folge: Alles, was die PiS an neuen Gesetzen erlässt, kann das Gericht erst kontrollieren, wenn der ganze Rückstau von Altverfahren zuvor abgetragen ist – also zu einem Zeitpunkt, an dem die Gesetze zumeist ihre Wirkung bereits längst getan hatten. Das, so das Gericht im März 2016, sei mit dem Verfassungsauftrag an das Verfassungsgericht unvereinbar und das Gesetz somit nichtig.

Zwei Dinge machten die Sache aber kompliziert: Zum einen hatte Gerichtspräsident Andrzej Rzepliński den drei vereidigten, aber nicht legal gewählten PiS-Richtern jede Teilnahme an der Urteilstätigkeit verweigert. Zum anderen hatte das Gericht bei der Überprüfung des Gesetzes dieses selbst unangewendet gelassen – denn hätte es auf Basis des neuen Gesetzes verhandelt, hätte es dieses von vornherein praktisch gar nicht überprüfen können. Dies nahm die Regierung zum Anlass, etwas Unerhörtes zu tun: Sie weigerte sich, das Urteil im offiziellen Amtsblatt zu veröffentlichen. Damit war das Urteil offiziell nicht in der Welt. Beides, die Vereidigung der gewählten Richter und die Veröffentlichung gefällter Urteile, hatten bis dato als bloße Formalien gegolten – als rituelle Handlungen, die der Richterwahl beziehungsweise dem Urteilsspruch ihre offiziöse Würde und Gültigkeit geben, aber mit keinerlei rechtlichem oder gar politischem Ermessen verknüpft sind – so die Erwartung. Doch die PiS schuf einfach Fakten.

Die PiS besaß keine Macht, die Verfassung zu ändern und die Institution Verfassungsgericht umzugestalten. Aber sie besaß die Macht, der Legitimation des Gerichts sozusagen einen Sprengsatz einzupflanzen und ihn zur Explosion zu bringen: drei Richterposten gleichzeitig doppelt und überhaupt nicht besetzt; die Verfahrensregeln des Gerichts gleichzeitig verfassungswidrig und nicht verfassungswidrig; die Urteile des Gerichts gleichzeitig gesprochen und nicht in der Welt. Ein so mit Paradoxie geimpftes Gericht kann per se schon nicht mehr viel ausrichten. Drei Jahre und zahlreiche weitere Attacken auf die Integrität des Gerichts später ist das einstmals international hoch angesehene polnische Verfassungsgericht heute kaum mehr als ein Schatten seiner selbst.

Lektionen für das Grundgesetz

In Polen waren weder ein offener Staatsstreich noch eine verfassungsändernde Mehrheit nötig, um eine solch zentrale Institution wie die Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Gefüge der Verfassungsordnung de facto herauszubrechen. Wie robust wäre die deutsche Verfassungsordnung in einem entsprechenden Szenario?

Dass es das Bundesverfassungsgericht gibt und in welchen Fällen es aktiv wird, steht direkt im Grundgesetz und ist damit nur mit Zweidrittelmehrheit abänderbar, ebenso dass seine Mitglieder je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Aber alles andere, von den Details der Richterwahl bis zum Verfahren, überlässt die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BVerfGG) legt unter anderem fest, dass das Gericht seinen Sitz in Karlsruhe hat, dass es aus zwei Senaten zu je acht Richtern besteht, dass deren Amtszeit zwölf Jahre und die Altersgrenze 68 beträgt und die Wiederwahl ausgeschlossen ist. Es legt außerdem fest, dass die Richter vom Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. All das entspringt nicht dem Willen des Verfassungsgebers, sondern dem des einfachen Gesetzgebers. Und der kann sich ändern, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ändern. Er entsteht in der politischen Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Minderheit.

Das bedeutet beispielsweise: Eine einfache Mehrheit im Bundestag wäre befugt dazu, das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Richter einfach aus dem Gesetz zu streichen. Sie könnte die Besetzung der Stellen sich selbst vorbehalten, ohne künftig die Opposition zu beteiligen. Sie könnte auch die Zahl der Richter in den Senaten erhöhen und sich so die Gelegenheit verschaffen, auf einen Schlag eine größere Zahl von Stellen mit eigenen Leuten zu besetzen – ein court packing scheme, wie es Viktor Orbán in Ungarn vorgemacht hat. Schließlich könnte sie die Zahl der Senate von zwei auf drei erhöhen (klagt nicht das Gericht seit Langem über seine zu hohe Arbeitsbelastung?) und sich so erstens die Gelegenheit verschaffen, gleich einen ganzen Senat mit neuen Leuten zu besetzen (die Hälfte davon wäre freilich der Wahl durch den Bundesrat vorbehalten) und zweitens die Geschäftsverteilung zwischen den Senaten auf eine Weise neu zu regeln, die die Gefahr verfassungsgerichtlicher Interventionen beim Umsetzen ihres politischen Programms möglichst minimiert.

Die Parlamentsmehrheit könnte aber auch noch auf andere Gedanken kommen. Heute sind im Senat fünf von acht Stimmen notwendig, um ein Gesetz für verfassungswidrig und/oder nichtig zu erklären. Warum nicht aus der absoluten eine Zweidrittelmehrheit machen? Dann müssten schon sechs von acht Senatsmitgliedern der gleichen Meinung sein, um ein Gesetz als verfassungswidrig zu kippen. Eine Sperrminorität von drei Richtern reicht aus, und das Gesetz kommt durch. Das kann sehr nützlich sein, wenn man sich auf verfassungsrechtlich bedenkliches Gelände wagen möchte. Dass der Senat für bestimmte Entscheidungen eine qualifizierte Mehrheit braucht, gibt es bei einigen, selten praktisch werdenden Verfahrensarten schon jetzt, etwa beim Parteiverbotsverfahren oder bei der Präsidentenanklage. Dazu kommt: Dem Bundesverfassungsgericht bei sogenannten normverwerfenden Urteilen eine Zweidrittelmehrheit abzuverlangen, ist eine uralte Forderung nicht zuletzt von Rechtspolitikerinnen und -politikern der CDU. Und warum auch nicht? Bei Verfassungsänderungen besteht man schließlich auch auf einer Zweidrittelmehrheit, warum also nicht auch bei Verfassungsinterpretation mit rechtsverändernder Wirkung?

Nun würde das Bundesverfassungsgericht solchen Manipulationen vermutlich nicht tatenlos zuschauen wollen. Wenn die Opposition das Änderungsgesetz per Normenkontrollantrag in Karlsruhe zur Überprüfung vorlegt, könnte das Gericht es für verfassungswidrig und nichtig erklären. Das ist allerdings nicht naheliegend. Denn erstens hat das Gericht den Spielraum des Gesetzgebers, die Verfahrensdetails nach eigenem Gutdünken zu regeln, einst selbst sehr großzügig bestimmt. Zweitens wären manche Änderungen verfassungsgeschichtlich gar nicht unbedingt so vorbildlos, wie man meinen möchte: Bis 1970 betrug beispielsweise die Amtszeit der Richter acht Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl – darauf könnte sich die Parlamentsmehrheit berufen. In den Anfangsjahren vor 1956 betrug die Zahl der Richter pro Senat zwölf statt acht – was ein court packing scheme als bloße Rückkehr zu früheren Zuständen erscheinen ließe. Drittens geriete das Gericht, wenn es Änderungen an seiner eigenen gesetzlichen Verhandlungsgrundlage auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, in das gleiche Dilemma wie einst die Kollegen in Polen: Müssen für dieses Verfahren nicht bereits die neuen Regeln angewandt werden, um deren Verfassungsmäßigkeit es gerade geht? In jedem Fall befände sich das Gericht in der peinlichen Situation, in eigener Sache urteilen zu müssen – was gerade dann, wenn es darum geht, sich der Politisierung durch die Regierungsmehrheit zu erwehren, kaum ohne Autoritätsverlust vonstattenginge.

Zugriff auf Wahl-, Parteien- und Parlamentsrecht

Ist das Verfassungsgericht als Hindernis erst einmal eliminiert, bliebe nicht mehr allzu viel, was sich dem De-facto-Umbau der Verfassungsordnung durch einfache Parlamentsmehrheit noch in den Weg stellen könnte. Das Bundeswahlgesetz, das Parteiengesetz, die Geschäftsordnung des Bundestages lassen sich sämtlich ebenfalls mit einfacher Mehrheit ändern. Damit hätte die Parlamentsmehrheit Zugriff auf das Wahlsystem, auf die Parteienfinanzierung, auf die parlamentarischen Rechte der Opposition und könnte diese – wiederum nach polnischem und ungarischem Vorbild – in weitem Umfang als Hebel einsetzen, die politische Konkurrenz zu schwächen, zu zersplittern und zu neutralisieren.

Ein gewisses Maß an Robustheit würden dem Grundgesetz möglicherweise noch zwei Institutionen verleihen, die eigentlich demokratietheoretisch nicht den besten Ruf genießen: der Bundespräsident und der Föderalismus. Das Staatsoberhaupt hat einem verfassungswidrig zustande gekommenen Gesetz die formelle Ausfertigung und Verkündung zu verweigern. Allerdings sind die Grenzen der verfassungsrechtlichen Prüfungsbefugnis des Bundespräsidenten in höchstem Maße unklar und verfassungspolitisch heikel. Als Hemmschuh beim De-facto-Umbau der Verfassungsordnung könnte sich auch die föderale Verwaltungsexekutive in den Bundesländern erweisen, die über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mitwirkt und deren Existenz es unwahrscheinlicher macht, dass eine politische Kraft das gesamte staatliche Machtgefüge unipolar auf sich ausrichtet, wie es in Ungarn der Fall ist. Und auch dieser Faktor hat eine Kehrseite: Auf Landesebene kann die Exekutivgewalt ihrerseits in die Hände von Kräften fallen, die es mit der liberalen demokratischen Verfassung nicht gut meinen.

Schluss

Ob das Grundgesetz robust genug wäre, um einem Angriff wie in Polen oder Ungarn standzuhalten, erscheint somit zumindest zweifelhaft. Ließe sich die Robustheit des Grundgesetzes stärken, indem der Spielraum des einfachen zugunsten des verfassungsändernden Gesetzgebers weiter eingeschränkt wird? Es wäre naiv zu glauben, dass das Grundgesetz durch die weitere Konstitutionalisierung politischer Mehrheitsentscheidungen notwendig robuster würde: Denn erstens wird das Funktionieren der demokratischen Verfassung immer davon abhängig bleiben, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am politischen Wettbewerb an konventionelle Fairnessregeln gebunden fühlen, die gerade nicht kodifiziert sind. Und zweitens stärkt jedes Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit umgekehrt dann auch den Hebel einer potenziell autoritären Sperrminorität.

Dennoch kann und sollte aus den polnischen und ungarischen Erfahrungen gelernt werden. Das gilt insbesondere und ganz generell für die – verfassungspolitische, nicht verfassungsrechtliche – Frage, nach welchen Kriterien sich eigentlich unterscheidet, was dem verfassungsändernden Gesetzgeber mit Zweidrittelmehrheit und was dem einfachen Gesetzgeber mit einfacher Mehrheit überlassen sein soll. Wenn man als Gedankenexperiment das polnische Szenario im deutschen Verfassungskontext durchspielt, dann werden die potenziellen Risse im Panzer des Grundgesetzes sichtbar. Besonders eklatant: Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter lässt sich mit einfacher Mehrheit abschaffen. Jedenfalls dieser Schwachpunkt sollte möglichst rasch behoben werden – solange die dafür nötige Zweidrittelmehrheit noch vorhanden ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), 2, 1; BVerfGE 5, 85.

  2. Vgl. Maximilian Steinbeis/Marion Detjen/Stephan Detjen, Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, München 2008, S. 143ff., 155–194.

  3. BVerfGE, 144, 20.

  4. Zur Position und Entstehungsgeschichte des ungarischen Verfassungsgerichts sowie zur Vorbildwirkung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vgl. Christian Boulanger, Hüten, richten, gründen: Zur Rolle der Verfassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns, Berlin 2013; Kriszta Kovács/Gábor Attila Tóth, Aufstieg und Krise: Wirkung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit auf Ungarn, in: Christian Boulanger/Anna Schulze/Michael Wrase (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, Baden-Baden 2013, S. 317–342.

  5. Vgl. Miklós Bánkuti/Gábor Halmai/Kim Lane Scheppele, Hungary’s Illiberal Turn: Disabling the Constitution, in: Journal of Democracy 3/2012, S. 138–147.

  6. Vgl. Gábor Halmai, Ungarns Verfassungsgericht: Das Imperium schlägt zurück, 4.2.2013, Externer Link: https://verfassungsblog.de/ungarns-verfassungsgericht-das-imperium-schlagt-zuruck.

  7. Zuletzt erklärte im Februar 2019 das Verfassungsgericht das "Stop-Soros-Gesetz", das die Unterstützung von Flüchtlingen unter Strafe stellt, für verfassungsgemäß. Vgl. Viktor Kazai, Stop Soros Law Left on the Book – The Return of the "Red Tail"?, 5.3.2019, Externer Link: https://verfassungsblog.de/stop-soros-law-left-on-the-books-the-return-of-the-red-tail.

  8. Vgl. Rénata Uitz, National Constitutional Identity in the European Constitutional Project: A Recipe for Exposing Cover Ups and Masquerades, 11.11.2016, Externer Link: https://verfassungsblog.de/national-constitutional-identity-in-the-european-constitutional-project-a-recipe-for-exposing-cover-ups-and-masquerades.

  9. Vgl. Tímea Drinóczi, The Hungarian Constitutional Court on the Limits of EU Law in the Hungarian Legal System, 29.12.2016, Externer Link: http://www.iconnectblog.com/2016/12/the-hungarian-constitutional-court-on-the-limits-of-eu-law-in-the-hungarian-legal-system; Gábor Halmai, The Hungarian Constitutional Court and Constitutional Identity, 10.1.2017, Externer Link: https://verfassungsblog.de/the-hungarian-constitutional-court-and-constitutional-identity.

  10. Vgl. zur korrosiven Wirkung des Topos der Verfassungsidentität generell Zsolt Körtvélyesi/Bálazs Majtényi, Game of Values: The Threat of Exclusive Constitutional Identity, the EU and Hungary, in: German Law Journal 7/2018, S. 1722–1744.

  11. Zum Ausnutzen rechtsstaatlicher und demokratischer Institutionen zu autokratischen Zwecken vgl. Kim Lane Scheppele, Autocratic Legalism, in: The University of Chicago Law Review 2/2018, S. 545–584; Özan Varol, Stealth Authoritarianism, in: Iowa Law Review 4/2015, S. 1673–1742.

  12. Vgl. Anna Śledzińska-Simon, Midnight Judges: Poland’s Constitutional Tribunal Caught Between Political Fronts, 23.11.2015, Externer Link: https://verfassungsblog.de/midnight-judges-polands-constitutional-tribunal-caught-between-political-fronts.

  13. Vgl. Anna Śledińska-Simon, Poland’s Constitutional Tribunal under Siege, 4.12.2015, Externer Link: https://verfassungsblog.de/polands-constitutional-tribunal-under-siege. Die Expertenkommission des Europarats (Venedig-Kommission) kam in ihrem Bericht zu dem Schluss, dass das Gesetz "nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, sondern das Funktionieren des demokratischen Systems" in Gefahr bringen würde. Gutachten Nr. 833/2015 vom 11.3.2016, S. 24.

  14. Vgl. Paulina Starski, The Power of the Rule of Law: The Polish Constitutional Tribunal’s Forceful Reaction, 17.3.2016, Externer Link: https://verfassungsblog.de/the-power-of-the-rule-of-law-the-polish-constitutional-tribunals-forceful-reaction.

  15. Eine Zusammenfassung der Ereignisse und Bestandsaufnahme des aktuellen Zustands des polnischen Verfassungsgerichts bietet Tomasz Tadeusz Koncewicz, From Constitutional to Political Justice: The Tragic Trajectories of the Polish Constitutional Court, 27.2.2019, Externer Link: https://verfassungsblog.de/from-constitutional-to-political-justice-the-tragic-trajectories-of-the-polish-constitutional-court.

  16. Die Strategie der PiS-Regierung in Polen, durch Verfassungsverstöße und einfache Gesetzesänderungen die Verfassungsordnung faktisch umzugestalten, reicht weit über die Unterwerfung des Verfassungsgerichts hinaus. Vgl. Wojciech Sadurski, Constitutional Crisis in Poland, in: Mark Graber/Sanford Levinson/Mark Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis, New York 2018, S. 257–275.

  17. Nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz (der sog. Ewigkeitsklausel) ist die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 auch mit verfassungsändernder Mehrheit nicht abänderbar. Das impliziert, dass es irgendeine Art von justizförmigem Grundrechtsschutz geben muss, aber nicht notwendig eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit. Vgl. Horst Dreier, Kommentierung zu Art. 79 III, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Tübingen 20153, Bd. II, S. 2046.

  18. Die Verlegung des Sitzes des russischen Verfassungsgerichts von Moskau nach St. Petersburg 2008 führte dazu, dass das Gericht seinen gesamten personellen Unterbau verlor, und war für den folgenden Statusverlust des Gerichts durchaus maßgeblich. Vgl. Ivan S. Grigoriev: Law Clerks as an Instrument of Court–Government Accommodation Under Autocracy: The Case of the Russian Constitutional Court, in: Post-Soviet Affairs 1/2018, S. 17–34.

  19. Diese Forderung wurde schon 1970 von dem CDU-Bundestagsabgeordneten Hans Dichgans vertreten und in den 1990er Jahren von prominenten Unions-Rechtspolitikern wie Horst Eylmann und Rupert Scholz aufgegriffen. Vgl. mit weiteren Nachweisen Thomas von Danwitz, Qualifizierte Mehrheiten für normverwerfende Entscheidungen des BVerfG? Thesen zur Gewährleistung des judicial self-restraints, in: Juristenzeitung 10/1996, S. 481–498, hier S. 481f.

  20. Das "Grundgesetz (enthält) – von Art. 94 Abs. 1 Satz 1 abgesehen – keine Bestimmung über die Organisation des Bundesverfassungsgerichts (…), insbesondere nicht über die Spruchkörper, durch die es entscheidet, und ebenfalls nicht über die Zahl der zur Mitwirkung berufenen Richter; durch Art. 94 Abs. 2 GG ist vielmehr die Regelung der Verfassung und des Verfahrens des Bundesverfassungsgerichts einem Bundesgesetz vorbehalten worden (…)." Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 7, S. 241ff., S. 243; Bd. 18, S. 440f., S. 441.

  21. Vgl. dazu das Online-Symposium "Constitutional Resilience" auf dem Verfassungsblog, 6.–18.12.2018, Externer Link: https://verfassungsblog.de/category/debates/constitutional-resilience-debates.

  22. Zur Doppelgesichtigkeit der föderalen Gewaltenteilung vgl. Sujit Choudhry, Rezension zu Tom Ginsburg/Aziz Z. Huq, How to Save a Constitutional Democracy 10.3.2019, Externer Link: https://verfassungsblog.de/how-to-save-a-constitutional-democracy-a-comment-by-sujit-choudhry.

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ist Jurist, Schriftsteller und Journalist sowie Gründer und Herausgeber des Verfassungsblogs. E-Mail Link: ms@verfassungsblog.de