Einleitung
Seitdem am 22. Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen die letzte rot-grüne Landesregierung abgewählt wurde und der SPD-Vorsitzende Müntefering und Bundeskanzler Schröder ankündigten, eine vorzeitige Neuwahl des Bundestags anzustreben, befindet sich die seit 1998 amtierende Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen in Agonie. Das selbsterklärte Scheitern der Regierung ist in einem gewissen Sinne als das Scheitern einer politischen Generation zu verstehen.
Seit Jahrzehnten hat sich in Deutschland mit unterschiedlichen ideologischen Begründungen ein Politikverständnis ausgebreitet, das von rationalistisch-bürokratischer Selbstüberschätzung gekennzeichnet war. Lange Zeit herrschte ein überzogenes Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung detailliert steuern zu können. Immer mehr Entscheidungen wurden politisiert und kollektiviert, und immer mehr wandelte sich die Staatstätigkeit von der klug begrenzten, gegenüber der eigenen Gestaltungskraft skeptischen Regelsetzung hin zu einer immer umfassender, kleinteiliger und sprunghafter werdenden Kultur des Dirigismus. Schon seit Ende der fünfziger Jahre gerieten daher die ordnungspolitischen Gründungsentscheidungen Ludwig Erhards in die Defensive.
Im fortwährenden Abwehrkampf gegen einen wirtschafts- und sozialpolitischen Interventionismus unterschiedlichster Provenienz weichten die Dämme der Ordnungspolitik im Laufe der Jahrzehnte auf, das Sickerwasser des Wohlfahrtsstaats drang an vielen Stellen ein und unterspülte schließlich die Fundamente des "Wirtschaftswunders". Die Liste der Sündenfälle ist lang und bedrückend: der Ausbau einer Sozialbürokratie, die den Menschen die Fähigkeit und das Recht auf Eigenvorsorge absprach und deren Verheißungen sich - bei Licht besehen - auf das fragwürdige Prinzip des Kettenbriefes verließen, weil sie von der Hoffnung lebten, dass künftige Generationen schon für die in der Gegenwart eingegangenen Verbindlichkeiten aufkommen würden; die Anmaßung einer Politik, die unverdrossen daran glaubte, durch eine ausufernde Finanzpolitik wirtschaftliche Entwicklung planvoll lenken zu können, und deshalb nicht von den "Drogen" Staatsverschuldung und Währungsaufweichung lassen konnte; die Ausgrenzung des marktwirtschaftlichen Prinzips aus der Arbeitswelt oder aus dem Gesundheitswesen und die Ersetzung durch halbherzige Planwirtschaften, die nichts weiter als Mangel und Erstarrung verwalteten; eine Staatstätigkeit, die nicht nur quantitativ völlig aus dem Ruder lief, sondern sich auch durch zahllose Subventionierungs-, Planungs- und Regulierungstatbestände heillos verzettelte; und nicht zuletzt die Ausdünnung von Verantwortungssinn und die Entwöhnung von der Freiheit.
Im Namen des "Sozialen" glaubte man, andauernd Sand in das Ordnungs- und Anreizsystem der Marktwirtschaft streuen zu können, und beschwor damit eine wirtschaftliche und mentale Erstarrung herauf, die in Wohlstandsverlusten, Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten enden musste. Korporatistische Arrangements zwischen Politik, Wirtschaft und Verbänden waren ebenso wie die politischen Wettbewerb und Verantwortung unterlaufenden Kartellstrukturen des deutschen Föderalismus darauf ausgerichtet, wohlaustarierte Pfründe zu verteidigen und staatliche Umverteilungspolitik einzelnen Interessengruppen auf Kosten aller zuzuschanzen.
Während sich die Welt ringsherum im Aufbruch befindet und viele Länder verstanden haben, dass das Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Globalisierung ihnen ungeheure Chancen für Prosperität und Wohlstand gewährte, gehört Deutschland in die erste Reihe einiger müder und veränderungsunwilliger Staaten, in denen die kulturellen und institutionellen Voraussetzungen der Freiheit verdorrt sind. An die Stelle ökonomischen und sozialen Verantwortungssinns und an die Stelle von Mut und Zutrauen trat schlichte Angst vor der Freiheit, welche die Menschen apathisch werden ließ. Marktwirtschaft und Freiheit haben ihre kulturelle und soziale Verankerung verloren - und das in einem Land, das sein Selbstbewusstsein lange Zeit nur aus seinem ökonomischen Erfolg beziehen mochte. Chronische Arbeitslosigkeit, bankrotte soziale Sicherungssysteme, unkontrollierbare Verschuldungspolitik sowie Wachstums- und Innovationsschwäche sind die zutiefst unsozialen Kosten ordnungspolitischer Unvernunft.
Die Regierung Kohl hatte diesen Tendenzen nach 1982 nur wenig entgegenzusetzen, am ehesten noch gelang ihr dies unter der Ägide Gerhard Stoltenbergs in der Finanzpolitik. Nach 1990 stand aber nicht die Revision und Reform dieses Politikmodells im Vordergrund, sondern dessen Erweiterung auf das Gebiet der DDR. Als sie sich 1995 zaghaft und halbherzig auf Reformen der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsrechts besann, gelang es ihr nach Jahren der Problemverdrängung nicht, für diese unpopulären Maßnahmen Vertrauen und Zustimmung einzuwerben. Schon lange vor dem Regierungswechsel des Jahres 1998 zeichnete sich ein Bedarf nach "politischer Führung"
Rot-Grün: Regieren ohne Kompass
An einer solchen Entschlossenheit und Geschlossenheit hat es der Regierung Schröder von Anbeginn gemangelt.
Allerdings wurden die anerkennenswerten Teilerfolge immer wieder durch Fehlentscheidungen und Unterlassungssünden an anderer Stelle durchkreuzt. Die Regierung kam mit plötzlichen Herausforderungen besser zurecht als mit der Formulierung eines langfristigen, zusammenhängenden Programms. Allzu oft verlor sich ihr Handeln durch das beständige Pendeln zwischen Erneuerung und Beschwichtigung in Widersprüchen. So gelang es ihr letztlich nicht, ein attraktives, Vertrauen und Selbstvertrauen stiftendes Leitbild zu formulieren, in dem einzelne Maßnahmen verständlich gemacht werden konnten. Immer wieder ließ die Koalition ihre Vorhaben als von äußeren Umständen erzwungene, nur mit erheblichen Skrupeln durchgeführte Anpassungen erscheinen. Auch die "Agenda 2010" geriet nicht zu einem verspäteten Auftakt für ein umfassendes, langfristig angelegtes Reformprogramm, sondern wurde - insbesondere seit der Übernahme des SPD-Parteivorsitzes durch Franz Müntefering - durch programmatische Gegensignale entwertet.
Schröders Führungsstil haftete immer etwas Spielerisches, Lauerndes und Spontanistisches an.
Handlungsfelder und Herausforderungen
Wenn das Land aus seiner hartnäckigen Strukturkrise herausfinden will, muss ein neuer Wertekonsens etabliert werden, der die Begriffe der Freiheit und Eigenverantwortung rehabilitiert. Allzu viele Institutionen und Regulierungen der Wirtschafts- und Sozialordnung sind auf die Einschränkung von Freiheit, Wettbewerb und Eigenverantwortung und damit auf die Einengung der kreativen Kräfte einer freien Gesellschaft angelegt. Nur aus der beständigen Fähigkeit zur Innovation und Kreativität und damit auch zur Infragestellung vorhandener Routinen und Institutionen heraus können Wohlstand und Stabilität erwachsen.
Das setzt auch eine Neubestimmung des Politischen voraus: Nach Jahrzehnten der Selbstüberschätzung und Überlastung der Politik muss die Einsicht dafür geweckt werden, dass Politik sich klugerweise auf die Bereitstellung von Ordnungsregeln konzentrieren muss, dass sie jedoch überall dort versagt und die offene Gesellschaft behindert, wo sie selbst definieren will, welche unternehmerischen oder wissenschaftlichen Innovationen wünschenswert und förderungswürdig sind, und wo sie materielle Verteilungsergebnisse konkret bestimmen will.
Um Vertrauen in ein solches Leitbild zu stiften, wird es allerdings nicht ausreichen, unter Verweis auf globalen Konkurrenzdruck die Notwendigkeit von Anpassungen zu betonen und sich als wider Willen getriebenes Land zu begreifen. Nur wenn diese Ordnung der Freiheit als Chance und nicht nur als Zumutung verstanden wird und wenn zugleich deutlich wird, dass im Rahmen einer solchen offenen Gesellschaft auch soziale Nothilfe und Zugang zu Bildungschancen gewährleistet sind, besteht Aussicht darauf, dass sich ein erneuerter ordnungspolitischer Konsens herausbildet. Eine solche Wertedebatte wird misslingen, wenn sie rein ökonomistisch angelegt wäre und nicht die auch für eine Marktwirtschaft grundlegenden Fragen aufgreifen würde, die Wilhelm Röpke einst "jenseits von Angebot und Nachfrage"
Nachhaltige Finanzpolitik
Der Regierung Schröder hat es wie schon der Vorgängerregierung nach 1989 an der Fähigkeit und auch an dem Willen zu einer verantwortlichen und nachhaltigen Haushaltspolitik gemangelt. Anstatt das von Finanzminister Eichel 1999/2000 propagierte Programm einer nachhaltigen Haushaltspolitik konsequent weiterzuverfolgen, erlahmte der politische Wille der Koalition und kehrte sich sogar um, als Deutschland nach 2002 in Zusammenarbeit mit Frankreich zur treibenden Kraft bei der Demontage der Sanktionsmechanismen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts wurde.
Eine neue Regierung wird daran zu messen sein, inwieweit es ihr gelingt, die seit dreieinhalb Jahrzehnten andauernde Verschuldungspolitik einzudämmen und mittelfristig ausgeglichene Haushalte erreichbar zu machen. Angesichts der für die nächsten Jahre absehbaren Haushaltsrisiken bei Bund und Ländern ist dies eine Aufgabe, die ohne eine umfängliche Staatstätigkeits- und Aufgabenkritik nicht zu lösen sein wird. Die Suche nach einmaligen Einnahmen oder die Erhöhung der Abgabenbelastungen für die Bürger wird hierfür nicht ausreichen, erst recht wird man die Notwendigkeit zur Sanierung der Staatsfinanzen nicht weiterhin mit dem Verweis auf konjunkturpolitische Ausgabenprogramme hinausschieben dürfen. Es wird auch nicht damit getan sein, dass man direkte und indirekte Steuern, also Einkommens- und Mehrwertsteuer, neu gewichtet, sondern das Ziel der Finanzpolitik wird darin bestehen müssen, mittelfristig Ausgaben und Staatsquote deutlich zurückzuführen. Die wirtschaftliche Dauerkrise des Landes ist nicht durch einen strikten Sparkurs der letzten Jahre ausgelöst worden, sondern dadurch, dass der Staat über Jahrzehnte über seine Verhältnisse gelebt hat und damit die Sphäre der wirtschaftlichen Freiheit eingeengt hat.
Deregulierung der Arbeits- und Wirtschaftspolitik
Die ersten Jahre der Regierung Schröder waren in der Arbeits- und Wirtschaftspolitik durch eine Fülle von handwerklich unzulänglichen Gesetzgebungsaktivitäten geprägt, die sich beschäftigungspolitisch insgesamt als kontraproduktiv erwiesen, weil sie die Verkrustung und Überregulierung des Arbeitsmarktes eher noch erhöhten. Erst mit dem Job-Aqtiv-Gesetz und den nach 2002 größtenteils umgesetzten Vorschlägen der Hartz-Kommission setzten sich tragfähigere Vorstellungen durch. Allerdings zielten die vor allem in die "Agenda 2010" eingeflossenen Maßnahmen vornehmlich auf die Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose und auf die Verbesserung der Vermittlungsaktivitäten. Diese blieben jedoch nur Fragmente einer echten Arbeitsmarktreform und daher auch in ihrer Wirkung enttäuschend. Als wegweisend dürfte sich hingegen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe erweisen, welche die Tür zu einer viel versprechenden Regionalisierung und Kommunalisierung dieser Aufgaben geöffnet hat.
Die politischen Akzeptanzprobleme bei der bisherigen Arbeitsmarktpolitik lassen erwarten, dass eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Arbeitspolitik, die darauf abzielt, die Verkrustungen des deutschen Arbeitsmarktes aufzubrechen und durch Flexibilisierung des Arbeits-, Betriebsverfassungs- und Tarifrechts neue Anreize für Beschäftigung zu setzen, ausgesprochen unpopulär sein wird. Wie die Erfahrungen mit dem "Bündnis für Arbeit" lehren, wird für solche Entscheidungen ein vorheriger Konsens der betroffenen Verbände nicht einzuwerben sein. Hier wird es darauf ankommen, ob eine neue Regierung den Mut hat, in den hier berührten Gesetzgebungsfragen ihre institutionell nur wenig eingeschränkte Handlungsfähigkeit frühzeitig und umfassend auszuspielen, um konsequente Deregulierungsschritte zu unternehmen und den Auswüchsen der teuren, von profitierenden Verbänden hartnäckig verteidigten, allerdings erfolglosen "aktiven Arbeitsmarktpolitik" zu Leibe zu rücken. Für solche Maßnahmen wird sich Akzeptanz erst nachträglich einwerben lassen, indem messbare und überzeugende Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erkennbar werden.
Die Zukunft der sozialen Sicherung im demographischen Wandel
Bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme hat die Regierung Schröder aus Mangel an Problembewusstsein anfänglich viel Zeit verschenkt, indem sie zunächst den "demographischen Faktor" der Blüm'schen Rentenreform rückgängig machte und sich mit Hilfe der so genannten "Ökosteuer" auf eine zusätzliche Steuersubventionierung verließ. Erst durch die Einführung des so genannten "Nachhaltigkeitsfaktors" bekannte sich die Regierung zu den demographischen Herausforderungen der sozialen Sicherungssysteme. Als wegweisender Paradigmenwechsel dürfte sich trotz aller Unzulänglichkeiten die Einführung der so genannten "Riester-Rente" erweisen, weil die Regierung mit ihr vom Dogma der paritätischen Finanzierung der sozialen Sicherung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber abrückte und die Bedeutung privater Vorsorgeinstrumente anerkannte.
Entscheidend wird sein, ob eine künftige Regierung die sozialen Sicherungssysteme rasch genug dem demographischen Wandel anpassen wird. Die Entkopplung der Finanzierung von den Arbeitskosten ist zwar mit Blick auf eine Dynamisierung des Arbeitsmarktes geboten, löst aber an sich die Steuerungsprobleme der Vorsorgesysteme nicht. Angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Umlagefinanzierung stellt sich nicht die Frage nach systemerhaltenden Reformen, sondern nach rechtzeitigen Systemwechseln. Das Modell der "Bürgerversicherung" bedeutet die umfassende Kollektivierung der Vorsorge auf steuerfinanzierter Basis, mithin also die Vervollständigung einer staatlichen Planwirtschaft, wie man sie vom britischen National Health Service mit entsprechenden Folgen kennt. Ein solches Modell wird nicht tragfähig sein. Als unzulänglich und inkonsequent dürfte sich auch das Modell einer "solidarischen Bürgerprämie" erweisen, die weiterhin dem Gedanken einer staatlichen Zwangsvorsorge verhaftet bleibt. Zukunftsweisende Modelle werden ohne die wesentliche Stärkung von Freiheit, Wettbewerb und Eigenverantwortung nicht auskommen und sich in ihrer Struktur an privaten Versicherungsmärkten orientieren müssen.
Föderalismusreform
Mit dem Scheitern der Föderalismus-Kommission, das Regierung und Opposition zu gleichen Teilen anzulasten ist, wurde im Jahr 2004 eine große Chance vergeben. Die künftige Regierung wird nicht zuletzt daran zu messen sein, ob es ihr in einem neuen Versuch gelingt, eine Einigung zu erzielen, die über das in der Kommission ausgehandelte Beinahe-Ergebnis hinaus auch weiter gehende Vorschläge zur Reform der Finanzverfassung beinhaltet. Die Stärkung von Freiheit, Verantwortung und Wettbewerb ist nicht nur in wirtschaftlich-sozialer Hinsicht geboten, sondern nicht zuletzt auch mit Blick auf die politischen Institutionen. Der deutsche Föderalismus hat sich über Jahrzehnte hinweg zu einem politischen Kartell verformt, in dem der Wettbewerbsgedanke und die Zuweisung von politischer Verantwortung konsequent verdrängt wurde. Unabdingbar ist daher eine institutionelle Reform des deutschen Föderalismus, die die Entflechtung der Zuständigkeiten, die Stärkung autonomer Entscheidungsspielräume aller Ebenen und eine spürbare Dezentralisierung erreicht. Die zahlreichen Konsenszwänge müssen minimiert und der Wettbewerb der Politik gestärkt werden, um die Kreativitäts- und Innovationsvorteile, die ein echter Föderalismus oder Non-Zentralismus bietet, zu nutzen. Wie alle Erfahrung lehrt, setzt eine ernst zu nehmende Föderalismusreform voraus, dass die entscheidenden Akteure für einen Augenblick bereit sind, die eingeschliffene Handlungslogik außer Kraft zu setzen und neuen Regeln zuzustimmen, die ihre politischen Risiken erhöhen. Nur wenn dies gelingt, ist zu erwarten, dass Bewegung auch in solche Politikfelder kommt, die bereits seit Jahrzehnten festgefahren sind.
Die europäische Frage
Für eine Neuausrichtung der innenpolitischen Handlungsfelder wird es nicht zuletzt darauf ankommen, die bisherigen Leitlinien der Europapolitik zu revidieren. Unter der Ägide der beiden "kranken Männer Europas", Deutschland und Frankreich, wurde in den letzten Jahren eine Integrationspolitik betrieben, die allzu oft darauf abzielte, nicht lösbare Strukturprobleme der nationalen Wohlfahrtsstaaten zu europäisieren, um damit institutionellen Reformbedarf zu unterlaufen. Das Scheitern des europäischen Verfassungsgebungsprozesses hat der bisherigen Integrationspolitik unmissverständlich die Grenzen aufgezeigt und grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Zwar wird angesichts der Integrationsdynamik der letzten Jahre inzwischen vielerorts ein europäisches Demokratiedefizit beklagt, aber über die in einigen Politikfeldern unübersehbare Überintegration sehen die politischen Verantwortlichen ebenso hinweg wie über die höchst intransparenten und damit unverantwortlichen Entscheidungsprozesse in den europäischen Institutionen. Europa wird als Idee und als Realität nicht bestehen können, wenn es sich als sicherheits- oder gesellschaftspolitisches Gegenbild zum kapitalistischen Amerika oder als Wagenburg gegen die Angriffe der Globalisierung begreift, sondern nur, wenn es marktwirtschaftliche Freiheiten durchsetzt, die Wettbewerbsfähigkeit seiner Mitgliedsstaaten stärkt und in diesem Sinne eine europäische Ordnungspolitik etabliert. Nach Jahrzehnten einer unkritisch gepflegten deutsch-französischen Führungsrolle stellt sich ernstlich die Frage, ob die künftige deutsche Europapolitik nicht besser beraten wäre, wenn siesich die Integrationsperspektiven des britischen Premierministers Blair oder des tschechischen Präsidenten Klaus zu Eigen machte.
Perspektiven
Die Regierung Schröder ist nicht gescheitert, weil sie für ein konsistentes, zukunftweisendes und richtiges Programm kein Vertrauen mehr einwerben konnte, sondern weil sie über sieben Jahre hinweg in den entscheidenden Handlungsfeldern nicht fähig war, das Richtige und Notwendige zu tun und bei den Menschen Vertrauen und Einsicht in schwierige, aber lohnenswerte Veränderungsprozesse zu wecken. Die bei einer Neuwahl des Bundestages zu klärende Alternative lautet daher nicht, ob das Reformtempo der letzten Jahre beschleunigt oder gedrosselt werden müsse, sondern ob in der stabilitätsverwöhnten und veränderungsscheuen Bundesrepublik überhaupt eine politische Formation die Kraft und die Ausdauer für eine grundlegende Neuorientierung findet. Es ist offen, ob durch die mögliche Bundestagswahl und die entsprechende Regierungsbildung im Herbst 2005 ein politischer Paradigmenwechsel und ein Abschied vom altbundesrepublikanischen Politikverständnis eingeleitet werden wird.
Fraglich ist zunächst, ob die beiden bisherigen Regierungsparteien die Kraft zu einer grundlegenden Neuorientierung aufbringen. Bündnis 90/Die Grünen, die nach Lage der Dinge am wenigsten Aussicht haben, an einer künftigen Regierung beteiligt zu sein, haben sich in den vergangenen sieben Jahren zu sehr in den eigenen Ressorts eingerichtet und es innerhalb der Koalition - zumal nach dem Verzicht auf das Gesundheitsministerium im Jahre 2001 - versäumt, Gestaltungsanspruch in den großen Gebieten der Wirtschafts-, Arbeits-, Finanz- und Sozialpolitik geltend zu machen. Vor allem aber blieb die Partei in diesen Fragen mehrheitlich nach wie vor von spätkeynesianischen und etatistischen Vorstellungen der siebziger Jahre geprägt. Ob sich in der Partei diejenigen durchsetzen können, die ein anderes Verständnis von Staat und Freiheit pflegen und das erhebliche Potenzial einer grünen, im Begriff der Nachhaltigkeit wurzelnden Ordnungsökonomik aktivieren wollen,
Es ist nicht leicht zu prognostizieren, inwieweit sich die Sozialdemokraten, etwa als Partner der CDU in einer großen Koalition, einer erneuerten Regierungsverantwortung stellen könnten. Der vorhersehbare Abtritt der "Enkel-Generation", welche die Partei seit den siebziger Jahren geprägt hat, könnte sogar eine neue, verjüngte Parteiführung ins Amt bringen, die sich bislang vornehmlich in kritischer Auseinandersetzung mit der Regierung Schröder profiliert hat. Insbesondere das aktuelle Wahlmanifest gibt Hinweise darauf, dass sich in der Partei das Bedürfnis durchsetzt, Selbstvergewisserung in der Opposition zu suchen und ein programmatisches roll back einzuleiten.
Fraglich ist auch, ob die FDP im Falle einer Regierungsbeteiligung derzeit die Kraft aufbrächte, einer Koalition in entscheidenden Sachfragen ihren Stempel aufzuprägen. Zwar ist sie programmatisch in vielerlei Hinsicht besser als die Konkurrenz auf die kommenden Herausforderungen vorbereitet, allerdings ist die Partei seit der verunglückten Bundestagswahl 2002 nach wie vor tief verunsichert. Die FDP könnte ihr inhaltliches Potenzial verspielen, weil ihr mehr daran gelegen sein könnte, durch Besetzung von unanstößigen Ressorts in der Regierungsbeteiligung Seriosität, Sympathie und Ansehen zurückzugewinnen, als sich - etwa gegenüber einer wankelmütigen Union - als treibende Kraft ordnungspolitischer Erneuerung zu profilieren und Verantwortung auch dort zu übernehmen, wo es wehtut.
Ungewiss ist allerdings auch, ob unter Führung der Union, die nach Lage der Dinge die größten Chancen auf die Übernahme der Regierungsverantwortung hat, ein etwaiger Regierungswechsel auch zu einem tief greifenden Politikwechsel führen würde. Dafür spräche, abgesehen von der dominanten Stellung, welche die Union auf absehbare Zeit im Bundesrat innehat, zunächst, dass mit Angela Merkel eine Kanzlerkandidatin bereit steht, die ihren Aufstieg nicht den gängigen Rekrutierungsmustern der Parteiendemokratie verdankt, sondern als Seiteneinsteigerin undAußenseiterin aufgestiegen ist. Ihre außergewöhnliche Sozialisation könnte die Voraussetzung dafür bieten, dass sie sich einen offeneren und kritischeren Blick für Verschleißerscheinungen und Fehlentwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik bewahrt hat. Ihre machtpolitische Durchsetzungskraft hat sie gelegentlich unter Beweis gestellt, und sie unterscheidet sich in ihrem Führungsstil sowohl von Helmut Kohl als auch von Gerhard Schröder. Ihre entscheidende Machtressource ist weder die beharrliche Durchdringung der eigenen Partei durch personelle Netzwerke noch die überlegene mediale Inszenierungskunst. Sie scheint eher in ihrer analytisch-strategischen Überlegenheit zu liegen, in ihrem durch Vorsicht und Vorausschau geprägten Sinn für das Machbare und Durchsetzbare. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass sie den Willen hat, diese Fähigkeiten auch in den Dienst einer durchgreifenden Agenda zu stellen und in den ersten beiden Jahren einer möglichen Kanzlerschaft das notwendige Risiko raumgreifender und rasch aufeinander folgender Reformschritte einzugehen.
Rhetorische Bekenntnisse zu einer "Politik aus einem Guss" müssen dazu substanziell gefüllt werden, doch scheint die Union von den vorgezogenen Neuwahlen konzeptionell überrumpelt worden zu sein. Notwendige programmatische Klärungsprozesse sind - namentlich in der Steuer- oder Sozialpolitik - keineswegs abgeschlossen, zumal die Union in diesen Fragen wieder hinter einen zwischenzeitlich erreichten Diskussionsstand zurückgefallen ist. Nicht zuletzt der Rückzug von Friedrich Merz hat eine personelle Lücke gerissen, so dass nicht erkennbar ist, wer in der Lage wäre, als "neuer Erhard" oder wenigstens "neuer Stoltenberg" das ordnungspolitische Profil an verantwortlicher Stelle zu prägen und zugleich in Vertrauen und Loyalität mit einer etwaigen Kanzlerin verbunden zu sein. Nicht jeder Ministerpräsident empfiehlt sich für diese Planstelle. Aus verschiedenen Gründen ist also längst nicht ausgemacht, ob die Union einen ausreichenden Verantwortungswillen für eine Reformstrategie mitbringt, die nicht zuletzt auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Erbe der Ära Kohl bedeuten müsste. Das "Regierungsprogramm" stellt jedenfalls noch keine bahnbrechende Agenda dar. Neben Hilfreichem enthält es auch vieles, das der Konkretisierung bedarf, und einiges, das dem Belastungstest der politischen Realität nicht standhalten dürfte.
Vor einigen Jahren stellte Peter Hennessy eine Rangliste der britischen Premierminister seit 1945 auf. An Clement Attlee und Margaret Thatcher verlieh er, dem einen voller Sympathie, der anderen eher zähneknirschend-respektvoll, als "Wettermacher" ("Wheathermaker") die Höchstauszeichnung. Es folgten als passable Reformer ("nation or system shifters") Ted Heath und Tony Blair, als solide Krisenmanager ihrer Zeit ("seasoned copers") Winston Churchill und James Callaghan. Insgesamt negativ urteilte er über Harold Macmillan und Harold Wilson, welche die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllt hätten ("promise unfulfilled"), sowie über den von widrigen Umständen überwältigten ("overwhelmed") Regierungschef John Major und schließlich die katastrophale ("catastrophic") Amtszeit Anthony Edens.
Wollte man diese Skala auf die deutschen Bundeskanzler übertragen, spräche vieles dafür, Gerhard Schröder in die Kategorie "Versprechen unerfüllt" einzustufen, auch wenn seine Selbsteinschätzung bei der Begründung der Vertrauensfrage eher auf die Kategorie "von widrigen Umständen überwältigt" zielt. Wer auch immer ab Herbst 2005 im Kanzleramt residieren wird, sollte sich vor Augen halten, dass in der Bundesrepublik die Zeit für einen neuen "Wettermacher" reif ist, der das Land weit über die eigene Regierungszeit hinaus prägt, indem er mit Durchsetzungsvermögen, Überzeugungskraft und Mut die Weichen für einen neuen ordnungspolitischen Konsens stellt, der auch von nachfolgenden Regierungswechseln nicht in Frage gestellt wird.