Einleitung
Alles, was im sozialen Leben geschieht, kann als Bildung, als Kultur und als elementare Sozialität betrachtet werden. Die Bildungs- und Gestaltungswissenschaften, wozu ich auch die Politologie rechne, sowie die Kulturwissenschaften sind heute attraktive Studienfächer. Demgegenüber hat die Soziologie an Interesse verloren. Das mag viele Gründe haben. Einer könnte im langjährigen Bemühen der Soziologen liegen, sich als Kulturwissenschaftler von den Naturwissenschaftlern abzugrenzen. Im Ergebnis ist die Soziologie in den Kulturwissenschaften aufgegangen; sie hat sich - überspitzt formuliert - aufgegeben. Heute ist ihr alles zur Kultur geworden: vom Kampf der Kulturen bis zur Diskurskultur.
In vorliegendem Beitrag geht es darum, Gegenstand und Perspektive der Soziologie im engeren Sinne wieder zu finden: im Geiste von Emile Durkheim und Georg Simmel, angehaucht auch von Niklas Luhmann, aber diese nicht rezipierend, sondern eher - in den sozialen Verhältnissen von heute - wieder entdeckend. Ich greife dazu auf Gedanken der Gründerväter zurück, weniger auf deren Begriffe, und entwickle so das Konzept der elementaren sozialen Prozesse. Mit deren Hilfe versuche ich, die Erkenntnisse, ja die Gesetze der Soziologie zu begreifen und von denen der Kultur- und Bildungswissenschaften zu unterscheiden.
Zwischen Bildung, Kultur und den elementaren Sozialprozessen sehe ich ein Machtverhältnis, wobei ich die elementaren sozialen Prozesse für mächtiger halte als Bildungsanstrengungen und kulturelle Gegebenheiten. Alle politischen Gestaltungsversuche und alle kulturellen Wandlungen müssen "durch diese Sozialprozesse hindurch" und stoßen dabei an ihre Grenzen. Die elementaren sozialen Prozesse stellen eine Macht dar: hinter Politik, Bildung und Kultur. Diese Macht des Sozialen aufzuzeigen, betrachte ich als die Aufgabe der Soziologie. Wenn sie, als Wissenschaft, auch eine politische Funktion hat, dann jene, die relative Ohnmacht politologischer und kulturologischer Argumente zu erhellen und ihnen damit etwas von ihrem Relevanzanspruch zu nehmen.
In Bezug auf das Beitrittsbegehren der Türkei zur Europäischen Union, das hier als Beispiel dienen soll, heißt das: Es mag so oder so entschieden werden. In jedem Falle sorgen die elementaren sozialen Prozesse aber dafür, dass auch das Gegenläufige geschieht. Die nicht intendierten Folgen der einen oder der anderen Entscheidung liegen also nicht so weit auseinander, wie wir in unserer Aufregung als Handelnde und Mitentscheidende glauben. Lapidar formuliert: Es ist im Grunde gleichgültig, wie die politische Entscheidung ausfällt; in den elementaren sozialen Prozessen entscheidet sich das soziale Leben ohnehin noch einmal anders, als wir Handelnde entscheiden.
Elementare Sozialprozesse
Alle drei Begriffe - Bildung, Kultur und elementare soziale Prozesse - haben in der Neuzeit eine aktivistische, rationalistische Färbung angenommen. Am stärksten trifft das für den Begriff der Bildung zu. Für Johann Wolfgang Goethe war Bildung noch ein vorbewusstes Sichselbstformen und ein kontemplatives Erkennen der Form. Nicht erst der Akademiker ist gebildet; gebildet ist schon jedes Stück Natur in unserer Hand, auch der Stein ist ein Gegenstand "zarter Empirie". Leider haben wir verlernt, Bildung so elementar zu verstehen, schreibt Adolf Muschg dazu. Als Bildungssoziologen, so vermute ich, folgen wir den Strömungen der Politik und des Zeitgeistes. Bildung ist zum Ziel und Reformprojekt geworden, und zu den Bildungszielen gehört die Gleichheit der Bildungschancen. Bildungssoziologen evaluieren den Grad der Zielerreichung und erklären uns, welche kulturellen Prägungen - Klasse, Geschlecht, Ethnizität - dem Bildungserfolg im Wege stehen.
Hinter Bildung als Intention erscheint damit Kultur als nichtintentionale Lebensform und normatives Regelwerk. Sie ist vor und unabhängig von bewussten Bildungsbestrebungen gewachsen. Bildung und Kultur, aus der Sicht des deutschen Bildungsbürgers fast identisch, stehen sich oft genug konträr gegenüber. Es ist der Konflikt zwischen dem willentlich Gestalteten und dem unwillkürlich, quasi naturhaft Wachsenden. Und doch enthält gerade der moderne Begriff der Kultur auch ein gestalterisches, willentliches Element: Das wird deutlich, wenn wir Natur und Kultur gegenüberstellen wie etwa in der Redeweise von Natur- und Kulturlandschaften. Dabei wird Kultur zu etwas Menschengemachtem, Kontrafaktischem, Normativem. "Nur dadurch hat der Mensch Kultur, dass er nicht so sein will, wie er ist" (Immanuel Kant). Da ertönt schon das ganze Pathos der Aufklärung, der Wille zum Besseren und Höheren - und etwas Anti-Empirisches.
Während im Begriff der Kultur noch der menschliche Wille mitschwingt, spielt er im Begriff der elementaren sozialen Prozesse keine Rolle mehr. Diese laufen zwischen Lebewesen - von deren Willen ganz und gar entrückt - ab (obwohl die individuellen Willen und Handlungen der Stoff sind, mit dem die elementaren Sozialprozesse arbeiten). Menschliche Handlungen und Kulturen sind Erscheinungsweisen von Sozialprozessen. Grundbegriffe der Soziologie wie sinnhaftes Handeln und Sinnsysteme, Normen und Werte sind Ausfluss dieser Erscheinungsweisen. Sie sind Kulturprodukte. Sie bilden die Paradigmen, die uns professionell in Fleisch und Blut übergegangen sind. Sie leiten und fesseln unser soziologisches Denken in kulturell (vor)geschlagenen Schneisen. Das Nachdenken über elementare soziale Prozesse betrachte ich als einen Befreiungsversuch aus diesem ehernen Gehäuse professioneller Hörigkeit.
Ich unterscheide fünf elementare Sozialprozesse: Erwidern (Austauschen), Werten (Urteilen), Teilen, Bergen (Ver-Bergen) und Bestimmen (Entscheiden). Jeder dieser Prozesse steht für ein Charakteristikum, das auch allen anderen Prozessen und dem sozialen Leben insgesamt eigen ist.
Erwidern steht für die Dialektik sozialer Prozesse. Es ist ein Hin und Her, Hin und Wider, eine Bewegung und Gegenbewegung. Bewegung bringt Gegenbewegung hervor und begrenzt damit das Fortschreiten in nur eine Richtung. Alle sozialen Prozesse sind selbstbegrenzend. Sie setzen damit auch Bildungsanstrengungen und kulturellen Entwicklungen Grenzen. Das ist der entscheidende Gedanke. Die empirische Beobachtung von sozialen Phänomenen, die sich uns immer als gebildete und kulturell gewachsene präsentieren, lässt per se solche Grenzen nicht erkennen. Empirie, insbesondere empirische Kulturwissenschaft, ist deshalb mit allen möglichen Hoffnungen und Utopien vereinbar. Aber erst mit der Einsicht in Grenzen, die durch elementare Sozialprozesse selbst gegeben sind, beginnt die Soziologik: eine dialektische Logik.
Im Prozess des Wertens liegt die Dialektik auf der Hand. Jedes Aufwerten impliziert ein Abwerten, entweder derselben Beziehung oder anderer Beziehungen. "Jetzt noch besser mit neuer Rezeptur" steht auf einem Fruchtjoghurt im Supermarkt. Der Kunde stutzt. Dieselbe Marke, die er bisher gekauft hat, war also vorher schlechter!
Der Schauspieler und Entwicklungshelfer Karlheinz Böhm wurde in einer Talkshow mit seiner jungen afrikanischen Frau danach gefragt, wie er denn die Kulturunterschiede in seiner Ehe empfinde. Sie seien der Harmonie förderlich, antwortete er sinngemäß; er habe nie zuvor so innige Liebe verspürt. Nichts lag ihm sicher ferner als frühere Beziehungen herabzusetzen; und doch war unwillkürlich genau dies geschehen. Im Prozess des Wertens bzw. Urteilens findet die moralische Ur-Teilung der sozialen Welt statt: in nein und ja, schlechter und besser. Er ist die unaufhörliche Quelle der Moral. Von ihm beziehen alle anderen Gesetze und Prozesse ihre moralische Tönung. Es sind soziomoralische Prozesse.
Im Prozess des Teilens teilt sich das soziale Leben in diejenigen Beziehungen, die etwas gemein haben, und solche die nicht dazu gehören. Die dialektische Bewegung ist die des Einschließens und Ausschließens. Produziert werden kollektive Identitäten und Konflikte zwischen ihnen: zwischen Insidern und Außenseitern, zwischen Mehrheiten und Minderheiten und zwischen Kollektiv und Individuum. Alle sozialen Prozesse sind kollektive. Sie spiegeln sich in den Individuen, die sie hervorbringen. Sie werden nicht von Individuen gemacht, sondern bringen Individualität, wie Georg Simmel gezeigt hat, erst hervor. Der Prozess des Teilens erzeugt auch einen Konformitätsdruck: Wenn 25 Länder Mitglieder der EU sind, dann unterliegt jedes weitere Mitglied, auch die große Türkei, dem Zwang, sich der Mehrheit anzupassen.
Elementare soziale Prozesse laufen unbewusst ab. Im Prozess des Bergens teilt sich die soziale Welt in eine Oberwelt des Sichtbaren und eine Unterwelt des Unsichtbaren; in das, was sich mitteilt, bewusst wird, manifestiert, und das, was sich verbirgt, unbewusst und latent wird. Dass mit jeder Manifestation sozialer Beziehungen andere Beziehungen oder Beziehungsaspekte in die Latenz sinken, und umgekehrt - darin besteht die dialektische Bewegung dieses Prozesses. Sie sorgt dafür, dass aus der Unterwelt der Sozialität jeweils nur ein begrenzter Ausschnitt in die Oberwelt unserer Wahrnehmung gerät.
Im Prozess des Bestimmens schließlich verwandelt das soziale Leben die Unbestimmtheit der Zukunft in eine bestimmte Herkunft - und erzeugt zugleich wieder neues Unbestimmtes, unbeabsichtigte Folgen, die uns oftmals zufällig oder schicksalhaft erscheinen. Es ist doppelt unbestimmt: durch das Aufeinanderstoßen unendlicher Zukunfts- und Herkunftszeiten im winzigen Zeitpunkt der Gegenwart; und durch das Zusammentreffen einer Vielzahl von Beziehungen und Handlungen, ebenfalls im winzigen Nadelöhr der Gegenwart.
Das Handeln der Individuen, die in dieser gewaltigen Selbstbestimmungsmaschinerie der Sozialität einen Zipfel erhaschen und ihrerseits, handelnd, selbst bestimmen wollen, hat hier seinen Platz. Es wäre auch der Platz einer Theorie des Handelns, die in der Soziologie einen so großen Stellenwert hat. Aber wie klein wird dieser Stellenwert angesichts der Gesamtheit des sozialen Geschehens mit seinen unbestimmten, vom Willen der Handelnden unbeeindruckten Folgen!
Die Dialektik der Moral
Das soziale Leben entfaltet und begrenzt sich, aus der Sicht der hier skizzierten fünf Prozesse, als dialektisches, moralisches, kollektives, unbewusstes und unwillkürliches Geschehen. Ihren Bezugspunkt und ihre Funktion haben die sich selbst begrenzenden elementaren Prozesse in der Kontinuität des Zusammenlebens. Sie sind für das soziale Leben in seinen verschiedenen kulturellen Ausbildungen überlebensnotwendig. Jedem der fünf Prozesse wohnt, unausgesprochen, eine Moral inne: Du sollst - Gleiches mit Gleichem, angemessen - erwidern! Das ist die Moral der Reziprozität. Du sollst - das Eigene - vorziehen! Darin kommt die Moral der Präferenz zum Ausdruck. Du sollst übereinstimmen, - mit anderen - eins sein. So lässt sich die Moral kollektiver Identität in Worte fassen. Du sollst das Verborgene nicht enthüllen, an das Heilige nicht rühren! Darin liegt die Moral des Tabus. Du sollst dich in das unbestimmte Geschehen fügen! Das ist die Moral der Grenzen menschlicher Macht gegenüber Schöpfung und Schicksal.
Aber die Moral der fünf Prozesse hat auch etwas Brisantes und Empörendes: Es rührt aus der Dialektik der Prozesse her. Erwidern heißt auch: Gewalt erwidern. Vorziehen des Eigenen impliziert Benachteiligungen des anderen. Übereinstimmen der einen trennt von den anderen. Tabuieren steht gegen Erkennen. Sich ins Unbestimmte fügen heißt auf Gestaltung und Bildung verzichten.
Das alles ist für moderne Menschen höchst ärgerlich. Es hat eine moralische Gegenbewegung hervorgerufen: eine Dialektik gegen die Dialektik der fünf Prozesse, eine Moral des Aussteigens aus der Dialektik des Sozialen. Ich paraphrasiere Kant: Weil der Mensch die Wirklichkeit der elementaren sozialen Prozesse nicht so akzeptieren will, wie sie ist, hat er Kultur als Gegenmoral entworfen.
Gegen die Gegenseitigkeit des Gebens setzt die christliche Gegenmoral das einseitige "Du sollst vergeben, freigeben, freigiebig sein. Liebe deine Feinde!"; gegen das Präferieren und Diskriminieren: die Idee der Gleichwertigkeit der Kulturen oder der Wertneutralität; gegen kollektive Identitäten: Personalität und Universalität des Individuums; gegen Tabu: Aufklärung; gegen Schicksalhaftigkeit: selbstverantwortliches, bestimmendes, bildendes Handeln.
Aber die elementaren Sozialprozesse erlauben kein Aussteigen. Wie Naturgesetze zwingen sie alles Bildungs-Handeln und alle Kulturen in ihre Dialektik: auch den Versuch, eine Europäische Union zu bilden.
Die Ost-Erweiterung der EU impliziert eine gewaltige, doppelte Bildungs-Anstrengung: Die Union als Ganzes bildet sich. Und einzelne Beitrittsländer wie die Türkei sollen dergestalt lernen, also gebildet werden, dass sie hineinpassen.
Bildung von Differenzen durch Aufhebung von Differenzen
"So lang mussten wir nicht mal in der DDR Schlange stehn", sagt einer Anfang der neunziger Jahre an der Kasse eines Münchner Supermarktes. Ein kleiner schnauzbärtiger Mann dreht sich zu ihm um: "Wir dich nicht gerufen."
Ein alter Witz. "Wir dich nicht gerufen" - in diesem "Wir" kommt eine kollektive Identität zum Ausdruck, die sich nichtintentional fast unbemerkt gebildet hat: Wir in Westdeutschland, wir Westdeutsche, wir Wessis - das schließt, nach deren eigenem Empfinden, auch die ehemaligen Gastarbeiter ein, die hier ansässig geworden sind und nun als Einheimische zusammen mit den gebürtigen Deutschen ein Wir gegen die Neuankömmlinge aus Ostdeutschland bilden. Ziel der offiziellen Politik ist die Bildung einer umfassenden, gesamtdeutschen Identität. Viele Indikatoren weisen darauf hin, dass dies tatsächlich geschieht. Und doch: Unter der Oberfläche des offiziellen Zusammenwachsens, das ja den hohen Anspruch der Einheit enthält, entzweien sich Ossis und Wessis (unter Einschluss der Deutsch-Türken) und bewahren und erneuern die in knapp 50 Jahren gewachsenen Unterschiede der zwei Kulturen auf deutschem Boden. Kurz: In der Osterweiterung der Bundesrepublik, welche die Aufhebung von Differenz bezweckt, bilden sich innere Differenzen neu.
Weil hochgespannte Erwartungen an Gleichheit und Einheitlichkeit enttäuscht wurden, wenden sich die enttäuschten kollektiven Gefühle, als negative, gegen das aufnehmende und bestimmende Kollektiv - und werden dort, ebenfalls negativ, erwidert. Das einseitige Bestimmenwollen wird von elementarer Gegenseitigkeit begrenzt - und von unbestimmten, ungewollten Folgen. Die Erwartung der Einheit und Gleichheit als Wert hat den Unwert einer neuen Uneinigkeit hervorgebracht. Die Aufhebung der innerdeutschen Grenze als politischer Akt hat, im Innern und nach außen, andere Grenzen entstehen lassen. Verantwortlich dafür sind die elementaren sozialen Prozesse.
Das Gleiche passiert bei der Osterweiterung der Europäischen Union. Sie weckt Erwartungen, die sogleich wieder gedämpft werden sollen: Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ja, aber Beitritt frühestens in zehn bis fünfzehn Jahren. So werden Zeitgrenzen gesetzt. Auch der erstrebten Freizügigkeit werden Grenzen gezogen. Und zugleich wird angekündigt, dass die bisher noch lockenden Subventionen begrenzt werden.
Was hier bei der Strategie der politischen Erwartungsbegrenzungen deutlich die Feder führt, das ist die Präferenz für eigene, zentraleuropäische, ja nationale Interessen. Die Rückbesinnung auf diese Interessen bekommt gerade im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen Auftrieb.
Wo Einigkeits- und Gleichheitserwartungen in der EU nicht durch politische Entscheidungen bzw. Bildungsprozesse eingegrenzt werden, übernehmen kulturelle Grenzziehungen diese Funktion. Sie bedienen sich der elementaren Sozialprozesse, u.a. der Präferenz für das Eigene und der kollektiven Herkunftsidentitäten. Oder sollten wir sagen: Die elementaren Sozialprozesse bedienen sich der kulturellen Phänomene? Auf alle Fälle: Wo politische Regulations- und Schließungsprozesse nach außen preisgegeben werden, bildet sich kulturelle Selbstregulation und Schließung im Innern, oftmals als ethnische Gruppenbildung oder Isolation. Dies zeigt sich in folgendem Beispiel: Ein junger, liberal-multikulturell engagierter Mann erzählt, er wolle mit seiner Familie aus dem teuren Frankfurt in den kleineren Ort XY umziehen; die Sache habe aber einen Haken: Es gäbe in der Schule dieses Ortes Schulklassen, die zu 70 bis 80 Prozent türkisch-marokkanisch seien; das gehe einfach nicht für seine Kinder, weshalb er sich nach einer Waldorfschule umschaue.
Es wird deutlich, wie durch ethisch wohl begründete politische Entscheidungen, diese zum Teil durchkreuzend, und ebenso durch kulturbildende Prozesse hindurch, die elementaren soziomoralischen Prozesse ihr Wesen treiben. Wir erwidern, werten auf und werten ab, schließen ein und schließen aus - und tun dies alles eher im Verborgenen.
Kulturelle Differenzen - unsterblich?
Die Europäer fürchten kulturelle Differenzen. Die kulturelle Andersartigkeit der Türkei ist das Hauptargument gegen deren Beitritt. Es ist - im Augenblick - die große Stunde der Kulturwissenschaftler und Historiker, um diese Differenz bis in die Tiefe der Herkunftsbindungen auszuloten. Wir wissen, dass politische Bildung die kulturellen Unterschiede nicht einfach einebnen kann. Aber wir setzen unsere Hoffnung auf eine Theorie der Modernisierung: Wirtschaftliche Entwicklung führt zu Urbanisierung, Säkularisierung, Individualisierung, Egalisierung der Geschlechterrollen usw. Die kulturellen Differenzen wachsen sich aus.
Das ist richtig - und immer falsch. Denn auch wenn sie scheinbar verschwinden, reproduzieren sich kulturelle Differenzen, indem sie sich sublimieren. Sie sind unsterblich. Die Bildungssoziologie weiß das. Wir schaffen in den Schulen Chancengleichheit für Arbeiterkinder und junge Türkinnen - und dann, spätestens in der Berufskarriere, reproduziert sich die Chancenungleichheit, indem sie auf kulturelle Feinunterschiede in den Herkunftsmilieus zurückgreift und diese aufwertet. (Bildung und Kultur sind tatsächlich Ausgleichsmittel und Generator von Ungleichheit.) Die Türkei wird sich in ihrer materiellen Kultur immer mehr angleichen - und zugleich wird sich unser Sensorium für die in Primärbeziehungen sich fortsetzenden Unterschiede familialer und religiöser Herkunft schärfen.
Das ist von den Bildungssoziologen zu lernen. Aber fragen sie auch nach den Gründen? Wir alle kennen die Gründe. Aber wir wagen nicht, sie zu benennen und in die weihevollen Hallen soziologischer Theorie aufzunehmen, passen sie doch nicht zu unserem modernen Lebensgefühl. Sie liegen in den elementaren Prozessen der Sozialität: - im sozialen Prozess des Teilens, der uns kollektive Identitäten beschert; - im Prozess des Wertens, der uns als moralisches Urgestein die Präferenz für die vertrauten kollektiven Identitäten einprägt; - im Prozess des Bergens, der dies als Vor-Gänge ablaufen lässt, bevor wir bewusst urteilen und selbst bestimmen können; - im Prozess des Bestimmens, der unsere Versuche, dem sinnhaft handelnd und politisch bildend entgegenzusteuern, ins Unbestimmte, ja Gegenläufige laufen lässt; - im Prozess des Erwiderns, der die Bildung kollektiver Identitäten zu einem wechselseitigen Vorgang macht und die Akteure zu gegnerischer Kooperation verbindet.
So hartnäckig sich kulturelle Differenzen auch halten, sie sind nicht unverrückbar. Und sie sind nicht an sich bedeutsam. Sie können unbedeutend werden angesichts größerer Unterschiede und bedeutend angesichts kleinerer. Die Wertunterschiede, welche die Europäische Union vom islamisch-arabischen Terrorismus trennen, empfinden Europäer als gewaltig. Türken teilen diese Empfindung; für sie ist der islamische Terrorismus im eigenen Land zumindest ebenso bedrohlich. Alles was es an Unterschieden zwischen Europa und der Türkei sonst auch geben mag, wird von der gemeinsam empfundenen Bedrohung durch den Terrorismus zumindest zeitweise eingeschmolzen. Unterschiede erscheinen unbedeutend im Lichte gemeinsamer Sicherheitsinteressen.
Europa und die Türkei
Dabei zeigt sich, dass die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei in ein größeres Beziehungsgeflecht eingebunden sind, zu dem, grob vereinfachend, die USA, Russland und die islamischen Staaten des vorderen Orients gehören. Gerade dort gibt es angesichts marodierender und terroristischer Gewalt gemeinsame Sicherheitsinteressen. In Bezug auf die Ordnung dieser Gewalt ist Europa längst Teil eines Gewaltkartells, das von den USA angeführt wird. Während die USA Ordnungskriege führen (Stichworte Bosnien, Afghanistan, Irak), schwankt Europa zwischen der Klage über seine eigene militärische Schwäche und der Genugtuung, der blanken Gewalt der Amerikaner kulturell höherwertige Ordnungsleistungen entgegenzuhalten.
Nüchtern betrachtet ist es erstaunlich, wie weit die Sicherheitsinteressen Europas und der Türkei übereinstimmen. Als traditionell zuverlässiger militärischer Partner verstärkt die Türkei das militärische Element, zu dem die Mitteleuropäer seit dem Zweiten Weltkrieg ein so ambivalentes Verhältnis haben. Beide Seiten haben im islamischen Fundamentalismus einen gemeinsamen Feind. Beide haben in den USA auch einen gemeinsamen Freund, von dessen plumper Gewaltanwendung, zuletzt im Irak-Krieg, sie sich aber gemeinsam absetzen. Dasselbe lässt sich auch mit Blick auf den etwas weniger engen gemeinsamen Freund Russland sagen. Beide, Europa ebenso wie die im vorderen Orient vorsichtig agierende Türkei, suchen Lösungen für internationale Konflikte nicht über Gewalt, sondern über Verhandlung, Vermittlung, Legitimation. Ein Mitglied Türkei würde zu allem, was Europa beschließt oder tut, eine Legitimation beisteuern, über die kein christlicher Staat und kein christliches Europa verfügt. Es ist dies eine islamische Legitimität.
Mit einer europäischen Türkei stünde ein Europa im Kampf der Kulturen nicht mehr auf einer Seite, sondern in der Rolle, in der es sich in der Welt am liebsten sieht: als Legitimator, nicht als Terminator; als gewaltloser Vermittler, nationale und religiöse Identitäten in einer übergreifenden universalistischen Moral aufbrechend.
Eine solche weltpolitische Funktion übernehmen Gesellschaften nicht altruistisch. Sie wächst ihnen zu, durch eigene Interessen und davon geleitetes Handeln; und - sofern dieses Handeln erfolgreich ist - durch die Anerkennung von dritter Seite. Die Chancen der Anerkennung und des Erfolges wachsen, sofern die europäischen Länder untereinander und mit der Türkei übereinstimmen. Über den Beitritt der Türkei mag Europa, in eine weltpolitische Funktion hineinwachsend, eine Identität finden, die es ansonsten immer noch sucht.
Auch dabei können die elementaren sozialen Prozesse ihre Macht entfalten. Denn sie bewirken nicht nur, dass kulturelle Grenzen gezogen werden, sondern auch, dass diese sich auflösen. Voraussetzung dafür ist, dass die übergreifenden Übereinstimmungen stark genug sind, dass Interessen, Aufgaben, Feinde, Freunde, Distanz gegenüber gefährlichen Freunden geteilt werden. Das ist viel an Gemeinsamkeit, und das ist ausbaufähig. Daraus kann ein europäisches Wir-Gefühl werden - unter Einschluss der Türkei -, das es ohne die Türkei so nicht gäbe. Es folgt den Interessen, aber es weist darüber hinaus. Es ist schwächer als ein Nationalgefühl, aber stärker als eine Vergesellschaftung bloß über wirtschaftliche und politische Interessen.
Das hört sich an wie Begeisterung für die Möglichkeiten Europas. Aber wenn denn Begeisterung spürbar sein sollte - dann doch mehr noch für die Möglichkeiten der Soziologie.