Einleitung
Am 29. Mai 2005 brach das französische "non" zum Verfassungsvertrag ein großes europäisches Tabu: Das Abstimmungsergebnis stellt den Sinn und den Wunsch nach einer immer stärkeren politischen Integration in Frage, obwohl für den Ausgang des Referendums andere Faktoren wie die Unzufriedenheit mit den nationalen politischen Eliten ganz wesentlich waren.
Dies ist ein herber Schlag für die einstigeWirtschaftsgemeinschaft, die sich selbst mittlerweile als "Europa der Bürger" neu erfunden hat, vor allem da sich die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in Form der organisierten Zivilgesellschaft inzwischen als fester Topos der europäischen Agenda etabliert hat. Spätestens seit der Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Rolle der organisierten Zivilgesellschaft im europäischen Einigungswerk versuchte die EU gezielt,
Die Arbeit des Verfassungskonvents muss hier besonders hervorgehoben werden, da dieser nicht nur auf eine öffentliche Debatte, sondern auch auf die Einbeziehung solcher Organisationen verpflichtet wurde, die als Repräsentanten der Zivilgesellschaft geeignet schienen.
Eine europäische Zivilgesellschaft existiert noch nicht. Dennoch gibt es Aspekte, die positiv oder negativ auf ihre Entstehung einwirken können. Dieser Beitrag will thesenartig Chancen und Probleme der Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft verdeutlichen.
Die Zivilgesellschaft
Die Vorstellung, dass ohne die Bürger kein Staat zu machen ist, gehört zum Fundament antiker Staatsphilosophie - so z.B. im aristotelischen Bild des Menschen als zoon politikón, das sich auf ein Zusammenleben im Staat hin entwickelt. Auch der Gedanke der Mischverfassung zielt auf einen wesentlichen Aspekt der Zivilgesellschaft, da es dabei um die breite Integration der (Voll)-Bürger geht. Selbst wenn Partizipationsrechte vor allem auf die beiden großen Gruppen des Volkes - Arme und Reiche - verkürzt bleiben, ist Aristoteles' Kerngedanke grundmodern: Das Gemeinsame soll sich in der Konkurrenz gesellschaftlicher Kräfte herausbilden.
In der Moderne greift der liberale Vertragstheoretiker John Locke den Gedanken auf, dass sich der Staat als Funktion der bürgerlichen Gesellschaft ausbildet. Diese konstituiert sich selbst durch den Gesellschaftsvertrag und begründet durch kollektiven, gleichmäßigen Machtverzicht eine Staatlichkeit, die ihrerseits an den Vertrag gebunden ist. Ziel des Staates ist die Absicherung der bürgerlichen Sphäre. Insofern ist er der Adressat in Streitfragen - gerade auch, wenn es um die Möglichkeit und Notwendigkeit geht, allgemeingültige Regelungen zu treffen.
Der Begriff Zivilgesellschaft bezeichnet allgemein "eine Sphäre kollektiven Handelns und öffentliche Diskurse, die zwischen Privatbereich und Staat wirksam" sind und durch staatlich gewährte Freiheitsrechte abgesichert werden.
Zivilgesellschaft definiert einen gesellschaftlichen Bereich, der dreifach abgegrenzt ist: gegenüber dem Staat, der Wirtschaft und dem Privaten. Wie Frank Adloff herausstellt, verbindet der Begriff "dreierlei: einen gesellschaftlichen Bereich von Organisationen und Institutionen, zivile Umgangsformen und ein utopisches Projekt".
Der Europäische Bürger - ein gescheitertes Konzept
Als eine wesentliche Grundbedingung für die Zivilgesellschaft nennt Ralf Dahrendorf den Bürgerstatus, der verschiedene Rechte - bürgerliche Freiheitsrechte, soziale und politische Rechte - umfasst.
Die Einbindung der Bürger auf europäischer Ebene erreichte bei der Direktwahl des Europäischen Parlaments (EP) im Juni 1979 einen ersten Höhepunkt. Allerdings dauerte es rund 13 Jahre, bis die Unionsbürgerschaft in Maastricht in das Vertragswerk aufgenommen wurde. 1996 bekräftigte die Kommission erneut den Wunsch nach einer stärkeren Integration der Bürger und berücksichtigte in ihrem Jahresprogramm den "Aufbau eines Europas der Bürger unter besonderer Betonung bürgernaher Politiken, die dazu beitragen, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft zu stärken"
Mit der Unionsbürgerschaft schuf die EU eine notwendige Grundlage der Zivilgesellschaft. Die Bürger wurden sukzessive mit Rechten ausgestattet, die in der europäischen Grundrechtecharta niedergelegt wurden und Eingang in den Verfassungsvertrag fanden, darunter: die bürgerlichen Grundfreiheitenwie Meinungs- und Pressefreiheit sowieVersammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 und 12 der Grundrechtecharta),
Trotz dieser vielfachen Bemühungen ringt Europa heute immer noch um seine Bürger, in deren Bewusstsein die europäische Staatsbürgerschaft bislang wenig verankert ist.
Zu diesem Problem tritt die Intransparenz politischer Entscheidungswege hinzu. Deutet man die rückläufige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen von 63 Prozent im Jahr 1979 auf 45,7 Prozent im Jahr 2004 nicht als konstant sinkendes Interesse der Bürger an der EU, sondern als Ratlosigkeit und Resignation über Einflussmöglichkeiten auf die politischen Steuerungsprozesse der EU, so zeigen sich weitere Probleme einer europäischen Zivilgesellschaft, die sich aus der inneren Struktur der EU ergeben.
Gründe des Scheiterns
Eine wesentliche Ursache für das gescheiterte Konzept des "europäischen Bürgers" wird in der Ohnmacht und Sprachlosigkeit der Bürger gesehen und häufig auf die mangelnde Transparenz der Zuweisbarkeit politischen Entscheidens und Handelns zurückgeführt.
Das weitgehende Fehlen genuin europäischer Parteien trägt zu diesem Vermittlungsdilemma bei. Die Parteibündnisse des Europäischen Parlaments sind in der Regel nach wie vor als Fraktionen nationaler Parteien organisiert. Dies liegt in erster Linie an der schwachen Position des Parlaments, die aufgrund des geringen politischen Einflusses kaum Anreize für Parteigründungen bietet.
Europa als Wertegemeinschaft?
Das Bild einer europäischen Wertegemeinschaft wurde vor allem im Zuge der bilateralen Sanktionierung Österreichs durch die EU-Mitgliedstaaten bemüht, die anlässlich der Bildung einer ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung nach den Nationalratswahlen 1999 einsetzte. Der Begriff der Wertegemeinschaft reflektiert die Suche nach der eigenen Identität, für die gerade eine Abgrenzung zum Anderenkonstitutiv ist. Diese kann grundsätzlich in zwei Richtungen erfolgen: Das Beispiel Österreichs kann als Reaktion auf Entwicklungen in den Mitgliedstaaten verstanden werden.
Integration durch Abgrenzung
Das Bild der Wertegemeinschaft blieb zunächst den politischen Rednern vorbehalten.
In der gegenwärtigen Diskussion wird das Europäische zweifach nach außen hin abgegrenzt: zum einen gegenüber der islamischen Welt, etwa in der Frage, ob die Türkei zur EU passt. Insoweit folgt die europäische Debatte jenen Überlegungen, die davon ausgehen, dass an die Stelle des Ost-West- Konflikts die Kluft zwischen den säkularen westlichen Demokratien und den religiös geprägten islamischen Staaten getreten ist, wie dies Samuel Huntington in seinem "Kampf der Kulturen" vertritt. Zum anderen ist die Abgrenzung gegenüber der amerikanischen Außenpolitik nach 9/11 zu nennen. Jacques Derrida und Jürgen Habermas gingen in einem gemeinsamen Beitrag gar so weit, festzustellen, dass die "großen Antikriegsdemonstrationen vom 15. Februar ... als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichte eingehen" werden.
Bürger und Werte
Bricht man die Frage nach einer europäischen Wertegemeinschaft auf die Ebene der Mitgliedstaaten herunter, so kommt man mit Stefan Immerfall zu dem Befund, dass "die Divergenz zwischen den europäischen Gesellschaften ... doch beträchtlich" ist.
Im Wertekatalog der EU, der durch den Verfassungsvertrag kodifiziert werden sollte, ergibt sich wenigstens ein europäischer Minimalkonsens hinsichtlich eines justiziablen Kernbestands an bürgerlichen, politischen und sozialen Grundrechten, wobei Letztere umstritten waren und bei Abfassung der Grundrechtecharta eher dürftig ausfielen.
Es überrascht daher wenig, dass die nationalen Identitäten in den meisten EU-Staaten dominant bleiben. Zwar weisen die gemittelten Werte des Eurobarometers einen relativ hohen Bevölkerungsanteil aus, der sich selbst in irgendeiner Form als Europäer beschreibt, doch täuschen sie darüber hinweg, dass gravierende Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen (vgl. Abbildung 1 der PDF-Version). Das Europa der Bürger bleibt somit trotz verschiedener identitätsstiftender Momente, etwa der Europahymne, der Europaflagge und der gemeinsamen Währung, überwiegend Fiktion.
Fehlende Öffentlichkeit
Auch hinsichtlich einer gemeinsamen Öffentlichkeit zeigen sich Defizite, die einen transnationalen Diskurs behindern. Die Gründe sind evident: Versteht man Öffentlichkeit als Thematisierungsraum, in dem sich Gesellschaften selbst einschließlich ihrer kulturellen Deutungen und ihrer institutionalisierten Strukturen zum Thema machen,
Gleichzeitig besteht eine Trennlinie zwischen elitärer und populärer Öffentlichkeit.
Aus diesem Segment themenorientierter Akteure rekrutierten sich die Ansprechpartner der EU bei der Beteiligung der Zivilgesellschaft im Verfassungskonvent, wie der Blick in die Datenbank "Coneccs" zeigt. Diese enthält 735 Einträge von Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft, darunter Organisationen, die sich wie das "Europäische Bürger-Forum - Europa jetzt!" genuin europäischen Themen verschrieben haben, oder Kooperationsplattformen themenzentrierter Gruppen etwa in den Bereichen Umwelt, Frieden oder Menschenrechte.
Betrachtet man die registrierten Organisationen genauer, so relativiert sich jedoch der Eindruck, dass es sich hierbei ausschließlich um Vertreter einer europäischen Zivilgesellschaft handelt: Allein 472 Gruppen - rund 64 Prozent - vertreten reine Wirtschaftsinteressen und gehören somit nicht zur Zivilgesellschaft. Es ist höchst fraglich, ob die europäischen Verbände der Fleischerzeuger (EMA), der Tätowiertintenhersteller (TIME) oder der Latexproduzenten (Eurolatex) tatsächlich die Interessen der europäischen Zivilgesellschaft repräsentieren und der EU einen Zugewinn an Legitimation eintragen. Von den übrigen 263 Organisationen befassen sich gerade einmal 39 (5,3 Prozent aller Einträge) mit europäischen Themen. Im Detail zeigt sich in diesem Segment jedoch, dass auch länderübergreifende Koordinationsgremien aufgenommen wurden, die von staatlichen Akteuren getragen werden - etwa die Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (Arge Alp),
Institutionelle Problemeder Zivilgesellschaft
Ein weiteres Hemmnis auf dem Weg zur europäischen Zivilgesellschaft liegt in der Komplexität des europäischen Mehrebenensystems.
Es verwundert daher nicht, dass der Bürger das Parlament als wichtigste Institution einstuft und damit seine tatsächliche Bedeutung überschätzt.
Auch die chronisch offene Frage nach der Finalität Europas erweist sich als Problem der europäischen Zivilgesellschaft. Denn wenn Zivilgesellschaft ein utopisches Moment beinhaltet, nämlich die Vorstellung einer demokratischen gesellschaftlichen Selbstregulierung, und auf einem Minimalkonsens beruht, so muss zunächst geklärt werden, welche Bereiche der Selbstregulierung auf europäischer Ebene angesiedelt sein sollen. Erst dann ist es möglich, jenen Minimalkonsens zu definieren, der für diese Art der Selbstregulation notwendig ist. Dass es dabei gravierende Unterschiede gibt, verdeutlicht die aktuelle Diskussion, die das Projekt "Europa" zwischen den Polen "Wirtschaftsverein" und "vertiefte politische Union" oszillieren lässt.
Schlussbemerkungen
Als positive Errungenschaften einer europäischen Zivilgesellschaft lassen sich gegenwärtig nur wenige Aspekte anführen - allen voran die europäische Bürgerschaft, die mit wesentlichen Rechten ausgestattet und deren Bezugspunkt der Normenkontext der EU ist. Darüber hinaus bestehen formalisierte, normierte Handlungsstrukturen und -verfahren, die grundsätzlich geeignet sind, die Ansprechpartner im policy-Prozess auszumachen. Doch liegen gerade hier große Hemmnisse, weil die Bürger noch immer nur unzureichend über die EU-Bürgerschaft einerseits und das politische System der EU andererseits informiert sind, so dass beide Aspekte nur bedingt konstitutiv wirken können.
Auf der Ebene der Wertorientierungen lässt sich gegenwärtig kein konsistenter europäischer Konsens feststellen. Denn obwohl viele europäische Nationen durch gemeinsame historische Erfahrungen und kulturelle Entwicklungen verbunden sind, erfolgt eine Diskussion dieser Themen häufig vor dem Hintergrund der spezifisch nationalen Erfahrungen.
Das Fehlen einer gemeinsamen identitätsstiftenden Kultur auf europäischer Ebene bedingt, dass sich die Bürger der Mitgliedstaaten weiterhin überwiegend über ihre jeweilige Nationalität identifizieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die europäische Ebene bei den Bürgern meist nur als vermitteltes Phänomen in Erscheinung tritt, das vorher die Transformations- und Selektionsmechanismen nationaler Akteure durchlaufen hat, etwa in der medialen Berichterstattung oder in der Deutung nationaler politischer Eliten. Dies liegt vor allem daran, dass sich eine eigenständige europäische Öffentlichkeit, besonders wegen der Sprachproblematik, bislang nicht entwickelt hat. Europäische Öffentlichkeit existiert in Form verschiedener elitärer und populärer Teilöffentlichkeiten, die sich zum Teil zu zivilgesellschaftlichen Akteuren verdichten, im politischen Prozess aber meist deutlich output-orientiert agieren. Daher erweist sich das Bemühen der EU, die Bürger in Form der organisierten Zivilgesellschaft in den politischen Prozess mit einzubeziehen, auch als problematisch. Denn die Konsultationspartner sind überwiegend entweder keine Vertreter der Zivilgesellschaft oder aber keine Vertreter einer genuin europäischen Zivilgesellschaft.
Das größte Problem der europäischen Zivilgesellschaft ist jedoch das Versagen der politischen Eliten bei der Vermittlung einer Vorstellung davon, was Europa künftig sinnvoller Weise sein kann und sein soll. Behält man eine kontraktualistische Sichtweise bei, so ist der Staat der rückgebundene, kollektiv begründete Machtbereich einer selbst verfassten Bürgergesellschaft. Er ist damit im Verhältnis zu seinen Bürgern Objekt und Subjekt. Das System der Europäischen Union greift zwar als regulierendes Subjekt in die Lebenssphäre aller EU-Bürger ein. Es bleibt jedoch allzu oft und in erster Linie Objekt der politischen Eliten, auf dessen Gestaltung die Bürger meist keinen Einfluss haben.