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Die Kriege nach dem Krieg | Pariser Friedensordnung | bpb.de

Pariser Friedensordnung Editorial Erwartung und Überforderung. Die Pariser Friedenskonferenz 1919 Friedensmacherinnen. Der Frauenfriedenskongress in Zürich 1919 Die Kriege nach dem Krieg. Zum Kontinuum der Gewalt von 1917/18 bis 1923 Krieg gewonnen, Friedensschluss verloren? Frankreichs und Großbritanniens Kolonialreiche nach dem Ersten Weltkrieg "Mit Dynamit geladen". Das Prinzip nationaler Selbstbestimmung und sein globales Vermächtnis Versailler Vertrag: Ein Frieden, der kein Frieden war Verhasster Vertrag. "Versailles" als Propagandawaffe gegen die Weimarer Republik "Schmach" und "Schande". Parlamentsdebatten zum Versailler Vertrag

Die Kriege nach dem Krieg Zum Kontinuum der Gewalt von 1917/18 bis 1923

Robert Gerwarth

/ 14 Minuten zu lesen

In Westeuropa ist der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis stärker präsent als die Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden. Im östlichen Europa sind hingegen die bitteren Jahre zwischen 1917 und 1923 prägend, die bis heute in Denkmustern und Mentalitäten nachwirken.

Endete der Erste Weltkrieg am 11. November 1918, als der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne in Kraft trat? Die Antwort auf diese Frage hängt von der geografischen Perspektive ab. Für die Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges, insbesondere für Frankreich, begann im Herbst 1918 tatsächlich eine Zeit des Friedens, wobei selbst Paris in den 1920er und 1930er Jahren regelmäßig in Kolonialkonflikte verwickelt sein sollte. Für die Verliererstaaten hingegen ist die Frage eindeutig zu verneinen.

Zwischen 1917/18 und 1923 starben auf den Territorien der besiegten und zerfallenen Landimperien Europas über vier Millionen Menschen durch Gewalt – mehr als die zusammengerechneten Weltkriegstoten Frankreichs, Großbritanniens und der USA. Insbesondere in Russland, der Ukraine, Finnland, den baltischen Staaten, Polen, Ungarn, Teilen Deutschlands, Italien, Anatolien und dem Kaukasus gab es ein bemerkenswertes Kontinuum der Gewalt über 1918 hinweg. Seit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert hatte Europa keine solch verheerenden und sich gegenseitig befeuernden Konflikte mehr erlebt wie in dieser Zeit. Mit den Bürgerkriegen, Revolutionen, Gegenrevolutionen, "ethnischen Säuberungen", Pogromen und Grenzkonflikten zwischen neugegründeten Staaten ohne klar definierte Grenzen oder international anerkannte Regierungen war Europa nach dem formellen Ende des Ersten Weltkrieges und bis zum Lausanner Abkommen von 1923 die mit Abstand gewalttätigste Region der Welt.

Auch die Periodisierung der Zwischenkriegszeit auf die Jahre 1918 bis 1939 ist somit im Grunde nur für die primären Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges sinnvoll, also für Großbritannien – sieht man vom irischen Unabhängigkeitskrieg ab – und für Frankreich. Für all jene aber, die in Riga, Kiew, Smyrna und anderen Orten Ost-, Mittel- und Südosteuropas lebten, brachte der Waffenstillstand vom 11. November 1918 keinen Frieden. Streitkräfte unterschiedlicher Größe und politischer Ausrichtung prallten in den Folgejahren an vielen Stellen Ost- und Mitteleuropas aufeinander, neue Regierungen kamen und gingen. Allein zwischen 1917 und 1920 gab es in Europa nicht weniger als 27 gewaltsame Regimewechsel, oftmals begleitet von schwelenden oder offenen Bürgerkriegen. Am dramatischsten war die Lage in Russland, wo Lenins bolschewistischer Putsch 1917 rasch einen Bürgerkrieg von historisch nie dagewesenen Ausmaßen nach sich zog.

Sieg oder Niederlage?

Wer am Ende des Ersten Weltkrieges zu den Verlierern und wer zu den Gewinnern zählte, ist dabei weniger offensichtlich, als man zunächst denken mag. Griechenland etwa gehörte im Herbst 1918 fraglos zu den Siegerstaaten. Wenige Jahre später allerdings verkehrte sich dieser Sieg in eine dramatische Niederlage, als der von 1919 bis 1922 dauernde Griechisch-Türkische Krieg für Athen in einer "Großen Katastrophe" endete. Während Griechenland durch die gescheiterte Militärkampagne in Kleinasien zu einem Verliererstaat wurde, stieg die 1923 gegründete Türkische Republik unter Mustafa Kemal "Atatürk" zu einem Siegerstaat der sogenannten Nachkriegszeit auf, dessen territorialer Anspruch auf das anatolische Kernland nach dem Ende des Osmanischen Reiches nun nicht mehr international angezweifelt wurde.

Auch in Italien sollte der militärische Sieg an der Isonzo-Front von 1918 schon bald einen bitteren Beigeschmack bekommen. Denn viele Italienerinnen und Italiener gewannen angesichts der Pariser Friedensverhandlungen von 1919 den Eindruck, für den teuer erkämpften Sieg an der Alpenfront nicht gebührend belohnt worden zu sein. Der Verdruss über die vermeintlich unzureichende Wiedergutmachung für rund 600000 Weltkriegstote, der in der verbreiteten Vorstellung des vittoria mutilata, des "verstümmelten" Sieges, wie er von dem Dichter Gabriele d’Annunzio genannt wurde, seinen Niederschlag fand, war gewaltig. Gleichzeitig erzeugten schwere Arbeitskämpfe und gewaltsame Landnahmen bei vielen den Eindruck, Italien stehe kurz vor einer bolschewistischen Revolution. In mancherlei Hinsicht glich Italiens Nachkriegserfahrung, die 1922 in der Ernennung Benito Mussolinis zum ersten faschistischen Ministerpräsidenten Europas gipfelte, viel mehr jener der mittel- und osteuropäischen Verliererstaaten als der Frankreichs oder Großbritanniens.

Ungeachtet dessen haben die Konflikte der unmittelbaren "Nachkriegszeit" in Westeuropa längst nicht so viel Beachtung gefunden wie das Kriegsgeschehen an der Westfront in den vier Jahren davor. Zeitgenössische britische Beobachter wie Winston Churchill haben die Auseinandersetzungen nach 1918 als "Kriege der Pygmäen" abgetan – eine herablassende Bemerkung, die die orientalisierende und implizit koloniale Wahrnehmung Osteuropas offenbarte, die noch Jahrzehnte später in westeuropäischen Schulbüchern anzutreffen sein sollte. Zudem spiegelte sie die seit der Balkankrise der 1870er Jahre und erst recht seit den zwei Balkankriegen von 1912 und 1913 verbreitete Vorstellung, Osteuropa sei im Gegensatz zum zivilisierten und friedliebenden Westen gewissermaßen "inhärent" gewalttätig. Derartige Vorurteile machten die westliche Öffentlichkeit weitgehend blind oder gleichgültig gegenüber den sich in Mittel-, Ost-, und Südosteuropa nach 1918 abspielenden Katastrophen, selbst wenn diese Gegenden erfassten, die vor dem Weltkrieg politisch stabil, kulturell hoch entwickelt und friedlich gewesen waren.

Drei Konflikttypen

Das komplexe Bild Europas am Ende des Ersten Weltkrieges, der fast zehn Millionen Tote und über zwanzig Millionen Verletzte allein unter den Soldaten gefordert hatte, macht die Kategorisierung oder Definition der darauf folgenden gewaltsamen Erschütterungen ausgesprochen schwierig. Dennoch ist es möglich, zumindest drei unterschiedliche, sich gegenseitig jedoch verstärkende und oftmals überlappende Konflikttypen innerhalb dieses einsetzenden ostmitteleuropäischen Flächenbrandes zu identifizieren.

Erstens erlebte Europa in der sogenannten Nachkriegszeit neu aufflammende Auseinandersetzungen zwischen regulären oder im Entstehen begriffenen nationalen Armeen, also zwischenstaatliche Kriege – etwa den Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921, den bereits erwähnten Griechisch-Türkischen Krieg oder den Einmarsch der Rumänen in Ungarn, der 1919 zum Ende der kurzlebigen Diktatur Béla Kuns führte. Solche Konflikte spielten sich vor allem dort ab, wo der Zerfall der alten Großreiche die Entstehung neuer und oftmals nervös-aggressiver Nationalstaaten begünstigte. Diese suchten ihre Territorien mit aller Macht und Gewalt zu behaupten oder gar zu vergrößern. Der im Zuge solcher Bestrebungen ausgetragene Konflikt zwischen Sowjetrussland und Polen hinterließ 250000 Tote und Vermisste, und im militärischen Ringen zwischen Griechen und Türken dürfte es bis zu 200000 Tote gegeben haben.

Zweitens brachen in den wenigen Jahren zwischen 1917 und 1923 allenthalben Bürgerkriege aus – in Finnland, Ungarn, in Teilen Deutschlands, in Russland, aber auch in Irland. Insbesondere auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreiches, wo sich verschiedene miteinander verwobene Konflikte überlagerten und dadurch noch verschärften, waren reguläre zwischenstaatliche Kriege von Bürgerkriegen kaum noch zu unterscheiden. Die Rote Armee führte Krieg gegen Polen und versuchte zugleich, die Loslösung der abtrünnigen Republiken in den westlichen Grenzgebieten und dem Kaukasus mit aller Gewalt zu verhindern. Darüber hinaus befand Lenin sich in einem erbitterten Kampf gegen seine "weißen" Widersacher und eine Reihe weiterer realer und eingebildeter Feinde – von den Kulaken bis zu den Anarchisten und den gemäßigten Sozialisten, die er allesamt verdächtigte, die bolschewistische Revolution zu unterwandern. Die Einmischung externer Kräfte machte die Lage in Russland noch unübersichtlicher, egal ob es sich um die alliierte Intervention aufseiten der antibolschewistischen Weißen oder um deutsche Freikorpsmilizionäre handelte, die nach 1918 marodierend durch das Baltikum zogen, wobei sie zunächst an der Seite lettischer und estnischer Nationalisten kämpften und später gegen sie.

Drittens waren diese Bürgerkriege, von denen Europa zwischen 1917 und 1923 heimgesucht wurde, in aller Regel die Folge sozial und national motivierter Revolutionen, die diese Periode entscheidend prägten. Nachdem es in der Endphase des Krieges aufgrund von Mangelversorgung und Kriegsmüdigkeit in vielen Ländern bereits zu Arbeitsniederlegungen und Streiks gekommen war, ging das Kriegsende in allen europäischen Verliererstaaten mit offenen Revolutionen und gewaltsamen Machtwechseln einher. Diese zwischen 1917 und 1923 ausbrechenden Revolutionen waren entweder sozioökonomischer Natur, sprich auf die Neuverteilung von Land, Macht und Vermögen ausgerichtet, wie in Russland, Ungarn oder Bulgarien, oder es waren nationale Revolutionen auf den Trümmern der besiegten multiethnischen Reiche der Habsburger, Romanows und Osmanen. Inspiriert vom Diskurs über nationale Selbstbestimmung, wie er unter gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen sowohl von Lenin als auch von US-Präsident Woodrow Wilson vorangetrieben wurde, drängten verschiedenartige nationale Bewegungen auf Selbstverwirklichung. Die Gleichzeitigkeit und regelmäßige Überschneidung dieser zwei revolutionären Diskurse und Strömungen waren eine der Besonderheiten der Jahre 1917 bis 1923.

Verrohte Veteranen, brutalisierte Politik?

Historiker verschiedener Generationen und Nationalitäten haben eine Reihe von Erklärungsmustern geliefert, um das Kontinuum der Gewalt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu deuten. Die wohl einflussreichste Deutung dieser Art – zumindest für den deutschen Fall – lieferte der Historiker George Mosse mit seiner "Brutalisierungsthese", der einflussreichen, vieldiskutierten und in den vergangenen Jahren auch auf andere Staaten Europas ausgeweiteten Idee, dass die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges zu einer Verrohung der Kriegsteilnehmer führte und so eine entscheidende Voraussetzung für den Aufstieg totalitärer Bewegungen wie die Bolschewiki in Russland, die italienischen Faschisten oder die deutschen Nationalsozialisten darstellte.

Obwohl sich kaum bestreiten lässt, dass die Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Verhältnis der Kombattanten zur Anwendung von Gewalt verändert haben dürfte, sind in den vergangenen Jahren doch zwei zentrale Kritikpunkte gegen die Brutalisierungsthese artikuliert worden: Zum einen kehrte die überwältigende Mehrheit der Veteranen, die den Ersten Weltkrieg überlebt hatten, im November 1918 ins Zivilleben zurück. Ein großer Teil der Veteranenverbände in den meisten europäischen Staaten nach 1918 waren pazifistisch, nicht bellizistisch ausgerichtet. Ihre zentralen Themen waren Versorgungsansprüche von Kriegsversehrten oder Witwenrenten, nicht die Hetze für einen neuen Krieg, um dessen Schrecken die Veteranen, anders als die Kriegsverherrlicher der Heimatfront, nur zu gut wussten.

Zum anderen hat die stärker komparativ oder transnational arbeitende Geschichtswissenschaft seit den 1990er Jahren angemerkt, dass sich das Fronterlebnis britischer oder französischer Soldaten nicht fundamental von dem deutscher Kriegsteilnehmer unterschieden hat. Eine Erklärung dafür, warum die Politik sich in einigen der früheren Kombattantenstaaten nach 1918 brutalisierte, in anderen hingegen nicht, kann aus rein nationalen Perspektiven nicht abgeleitet werden. Die Brutalisierungsthese erklärt auch nicht, warum es in Ländern wie Spanien oder Finnland, die nicht am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, nach 1918 ebenfalls zu einem massiven Anstieg an politischer Gewalt kam.

Auch wenn sich die signifikanten Gewaltausbrüche der Nachkriegszeit ohne den Hintergrund des Ersten Weltkrieges kaum erklären lassen, scheint es sinnvoller, den Krieg eher als Katalysator neuer Konflikte zu deuten. Gerade zum Ende hin begann der Charakter des Krieges sich zu verändern, als die Oktoberrevolution von 1917 das Ausscheiden Russlands aus dem Völkerringen zur Folge hatte und die Westalliierten – gestärkt durch den ins selbe Jahr fallenden Kriegseintritt der Vereinigten Staaten – zunehmend die Zerschlagung der europäischen Landimperien als Kriegsziel formulierten. Gerade die Geschehnisse in Russland wirkten sich nun dramatisch aus, und zwar auf zweierlei Weise: Petrograds Eingeständnis der Niederlage im März 1918 schürte bei den Mittelmächten die Hoffnung auf einen baldigen Sieg – und das nur wenige Monate, bevor deren totaler Zusammenbruch im Herbst 1918 eine Suche nach den vermeintlich dafür verantwortlichen "inneren Feinden" auslöste. Daraus erwuchsen neue Auseinandersetzungen, die aufgrund ihrer Logik und Zielsetzung noch weitaus mehr Zündstoff bargen als der Erste Weltkrieg, in dem immerhin noch ein klar definiertes Ziel verfolgt wurde: den jeweiligen Feind zur Annahme von durchaus drastischen Friedensbedingungen zu zwingen. Sobald der Gegner diese akzeptierte, wie das Deutsche Reich die Waffenstillstandsbedingungen vom November 1918, wurde der Krieg beendet.

Die Gewalt in den Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg war dagegen kaum noch beherrschbar. Zum einen maßen sich in Ermangelung funktionstüchtiger Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen europäischen Großreiche Milizen unterschiedlichster politischer Couleur die Rolle von Nationalheeren an, und die Trennlinien zwischen Freund und Feind, Soldaten und Zivilisten verschwammen zusehends – mit fatalen Folgen. Zum anderen drehten sich die Konflikte um vermeintlich existenzielle Fragen – den Fortbestand oder die "Wiederauferstehung" der eigenen Nation beziehungsweise Klasse – oder darum, die Gegner auszulöschen, ganz gleich ob es sich dabei um Mitglieder einer anderen Ethnie oder um "Klassenfeinde" handelte. Diese genozidale Logik sollte in den Jahren zwischen 1939 und 1945 in Mittel- und Osteuropa schließlich die Oberhand gewinnen.

Im Gegensatz zu Mosses allumfassender, aber letztlich irreführender Brutalisierungsthese ließe sich somit zusammenfassend argumentieren, dass der Schlüssel zum Verständnis des weiteren gewaltsamen Verlaufs der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert – Russland und die ehemals osmanischen Länder des Nahen Ostens inbegriffen – nicht zwingend in den Kriegserfahrungen von 1914 bis 1918 zu finden ist, sondern in der Art und Weise, wie dieser Krieg für die europäischen Verliererstaaten zu Ende ging: mit Niederlagen und Revolutionswirren.

Zerfall der Großreiche

Neben den Schrecken des Krieges und der Erfahrung der Niederlage war ein weiterer maßgeblicher Faktor für den Anstieg der Gewalt nach 1918 der plötzliche Zerfall der europäischen Landimperien und die schwierige Geburt ihrer Nachfolgestaaten. Die Pariser Friedensverträge wiesen Millionen von Menschen neugeschaffenen Nationalstaaten zu, die sich einem fundamentalen Widerspruch gegenübersahen: Obgleich sie danach strebten, ethnisch homogen zu sein, handelte es sich bei Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei um Vielvölkerreiche im Miniaturformat. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und ihrem Vorgänger, der k.u.k. Monarchie, bestand nicht in der "ethnischen Reinheit", sondern vielmehr darin, dass die ethnischen Hierarchien sich umgekehrt hatten.

So befand sich das Epizentrum des territorialen Revisionismus in Europa in den folgenden Jahrzehnten nicht von ungefähr auf dem Gebiet der alten multinationalen Imperien, deren Auflösung neue "Grenzen der Gewalt" schuf. Das "Heimholen" von 1918 verlorenen Volksgruppen und die Rückgewinnung "historischer" Gebiete spielte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und zuweilen auch noch nach 1945 eine entscheidende Rolle in der Außen- und Innenpolitik ostmitteleuropäischer Staaten – insbesondere in Ungarn, Bulgarien und Deutschland. Ebenso galt das für die Sowjetunion, die nicht nur kurzzeitige russische Eroberungen des Ersten Weltkrieges eingebüßt hatte, sondern auch die westlichen Grenzgebiete des Zarenreiches. Moskaus Bemühungen um Wiederaneignung "verlorener" Territorien und die gewaltsame Festigung seines Einflusses in Osteuropa im Allgemeinen sollten sich bis in die 1940er Jahre und darüber hinaus hinziehen.

Die diversen Revolutionen, die Niederlage der Mittelmächte und die territoriale Neuordnung eines bis 1918 von imperialen Großreichen beherrschten Kontinents schufen ideale Bedingungen für neue und anhaltende Auseinandersetzungen. Selbstverständlich muss jede Erklärung für deren Eskalation auch die Bedeutung regionaler, oft auf viel ältere Konflikte zurückgehender Traditionen und Umstände im Blick behalten, da aus diesen ebenfalls die Gewalt erwachsen konnte, die sich nach dem Krieg vielerorts Bahn brach. Als typische Beispiele für derartige Einflüsse können hier etwa die Tschetnik-Tradition des Guerillakrieges auf dem Balkan und die revolutionären Spannungen im Russland der Vorkriegszeit gelten oder mit Blick auf Irland die bereits vor 1914 existierende republikanische Bewegung.

Zusammengenommen waren aber Revolution, Niederlage und nationale "Wiedergeburt" aus den Trümmern der untergegangenen Reiche Europas die entscheidenden Auslöser der länderübergreifenden Welle bewaffneter Auseinandersetzungen, die sich in einigen Teilen Europas bis 1923 hinzogen. Einen vorläufigen Schlusspunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen markierten das Ende des Russischen Bürgerkrieges 1922 und der Vertrag von Lausanne von 1923. Dieser schrieb 1923 das Staatsgebiet der neuen Türkischen Republik fest und beseitigte die griechischen Gebietsansprüche in Kleinasien durch einen erzwungenen Bevölkerungsaustausch enormen Ausmaßes.

Lange Linien

Nach Lausanne erfuhr Europa zwischen 1924 und 1929 eine kurze Phase der Stabilisierung. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 drängten jedoch die zwischen 1917 und 1923 aufgeworfenen, aber nicht gelösten Probleme mit aller Macht auf die außen- und innenpolitische Agenda zurück. Irredentismus, Vertragsrevision und die Anfechtung der 1918/19 gezogenen Grenzen wurden erneut zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Politik.

Während in der westeuropäischen Wahrnehmung die Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden in Europa weit weniger präsent ist als die des Weltkrieges selbst, prägen die bitteren Jahre zwischen 1917 und 1923 das kollektive Gedächtnis Ost- und Südeuropas wie auch des Nahen Ostens und Irlands bis heute. Diese Erinnerung überlagert sogar die Geschichte des Ersten Weltkrieges, und bisweilen verdrängen die Erzählungen von Staatsgründungen, Unabhängigkeitskriegen, nationalen Befreiungsbewegungen und revolutionären Umwälzungen sie sogar.

In der heutigen Ukraine ist die – ausgesprochen kurze – Phase staatlicher Unabhängigkeit 1918 in den aktuellen politischen Debatten über die geopolitische Gefährdung des Landes durch Russland allgegenwärtig. In Finnland, das im Ersten Weltkrieg seine Neutralität wahrte, überschattet der Bürgerkrieg von 1918, der in weniger als drei Monaten etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung hinwegraffte, noch heute jede politische Diskussion, während in Irland die Allianzen und Dilemmata des Bürgerkrieges von 1922/23 das parteipolitische System bis in die Gegenwart prägen. Nur ihre Gegnerschaft während des Bürgerkrieges vermag zu erklären, warum die zwei programmatisch nahezu identischen konservativen Volksparteien Irlands, Fianna Fáil und Fine Gael, sich bis heute strikt weigern, eine Koalition auf nationaler Ebene einzugehen.

Auch im Nahen Osten ist es weniger der Erste Weltkrieg als vielmehr seine Folgen ab 1918, die den Diskurs bis heute bestimmen: das Ende der osmanischen Herrschaft und des Kalifats, die "Erfindung" neuer Staaten, wie der Irak, Jordanien oder Syrien, sowie die vom Völkerbund verhängte Mandatsverwaltung und der Beginn des Konflikts um Palästina. Dieser geht nach Ansicht vieler Araber auf die Deklaration des britischen Außenministers Lord Arthur Balfour von 1917 zurück, in der er Londons Unterstützung für die "Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" verkündet hatte.

Hier, in den einstmals osmanisch beherrschten arabischen Gebieten, sollten sich die postimperialen Konflikte der Jahre nach 1918 als besonders dauerhaft erweisen. Seit über einem Jahrhundert kommt es in der Region mit großer Regelmäßigkeit zum Ausbruch von Gewalt – unter rhetorischem Rückgriff auf die "ungelösten Fragen" und Ungerechtigkeiten seit 1918. Und es darf durchaus als bittere Ironie der Geschichte gelten, dass die hundertsten Jahrestage des Ersten Weltkrieges vom Kriegsausbruch 1914 bis zum offiziellen Kriegsende 1918 von Bürgerkriegen in Syrien und im Irak, einer Revolution in Ägypten sowie gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Juden und Arabern wegen der Palästinafrage begleitet wurden – als gelte es zu beweisen, dass einige der damals aufgeworfenen, aber nie gelösten Streitpunkte ihre Aktualität noch immer nicht verloren haben.

Die Entwicklungen der Jahre 1917 bis 1923 sind deshalb nicht nur entscheidend für das Verständnis jener Gewaltzyklen, die den Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, sondern auch für das Verständnis von Denkmustern und Mentalitäten, die in Teilen der Welt bis heute aktuell sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017.

  2. Die neuere Literatur zu einigen dieser Konflikte umfasst unter anderem Serhy Yekelchyk, Ukraine: Birth of a Modern Nation, Oxford 2007; Peter Hart, The IRA at War, 1916–1923, Oxford 2003; Michael Reynolds, Native Sons: Post-Imperial Politics, Islam, and Identity in the North Caucasus, 1917–1918, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2/2008, S. 221–247; ders., Shattering Empires: The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires, 1908–1918, Cambridge–New York 2011; Norman Davies, White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War, 1919–20, London 20042. Siehe auch Peter Gatrell, War after the War: Conflicts, 1919–23, in: John Horne (Hrsg.), A Companion to World War I, Oxford 2010, S. 558–575; Alexander V. Prusin, The Lands Between: Conflict in the East European Borderlands, 1870–1992, Oxford 2010, S. 72ff.; Christoph Mick, Vielerlei Kriege. Osteuropa 1918–1921, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dietrich Langewiesche (Hrsg.), Formen des Krieges: Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 311–326; Piotr Wróbel, The Revival of Poland and Paramilitary Violence, 1918–1920, in: Rüdiger Bergien/Ralf Pröve (Hrsg.), Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, Göttingen 2010, S. 281–303.

  3. Vgl. Peter Calvert, A Study of Revolution, Oxford 1970, S. 183f.

  4. Winston Churchill, zit. nach Davies (Anm. 2), S. 21. Vgl. Robert Gerwarth/John Horne (Hrsg.), War in Peace: Paramilitary Violence after the Great War, Oxford–New York 2012; Gerwarth (Anm. 1).

  5. Zum Polnisch-Sowjetischen Krieg siehe neuerdings Jochen Boehler, Civil War in Central Europe, 1918–1921, Oxford–New York 2018. Zur Gewalt gegen Zivilisten in Anatolien siehe etwa Ryan Gingeras, Sorrowful Shores: Violence, Ethnicity, and the End of the Ottoman Empire, 1912–1923, Oxford–New York 2011.

  6. Vgl. Reynolds 2011(Anm. 2); Prusin (Anm. 2); Piotr Wróbel,The Seeds of Violence: The Brutalization of an East European Region, 1917–1921, in: Journal of Modern European History 1/2003, S. 125–149; Peter Gatrell, Wars after the War: Conflicts, 1919–1923, in: Horne (Anm. 2), S. 558–75; Richard Bessel, Revolution, in: Jay Winter (Hrsg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 2, Cambridge–New York 2014, S. 126–144, hier S. 138. Siehe auch den Beitrag von Alan Sharp in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  7. Siehe dazu vor allem das Themenheft "1918–19: From War to Peace" des Journal of Contemporary History 4/1968 und die Fortsetzung der Diskussion im Sonderheft "The Limits of Demobilization" des Journal of Contemporary History 1/2015.

  8. Vgl. George Mosse, Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars, Oxford 1990. Anwendung auf andere Staaten West- und Osteuropas fand Mosses Konzept in den vergangenen beiden Jahrzehnten, siehe etwa Enzo Traverso, Fire and Blood: The European Civil War, 1914–1945, New York 2016.

  9. Vgl. Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993; ders., The Great War in German Memory: The Soldiers of the First World War, Demobilization and Weimar Political Culture, in: German History 1/1988, S. 20–34; Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997.

  10. Vgl. Bessel (Anm. 9); Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014; Horne/Gerwarth (Anm. 4).

  11. Vgl. Michael Provence, Ottoman Modernity, Colonialism, and Insurgency in the Arab Middle East, in: International Journal of Middle East Studies 2/2011, S. 205–225, hier S. 206; Dietrich Beyrau/Pavel P. Shcherbinin, Alles für die Front: Russland im Krieg 1914–1922, in: Horst Bauerkämper/Elise Julien (Hrsg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, S. 151–177, hier S. 151.

  12. Zum Kontext vgl. Provence (Anm. 11); Eugene Rogan, The Fall of the Ottomans: The Great War in the Middle East, 1914–1920, London 2015.

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ist Professor für Moderne Geschichte und leitet das Centre for War Studies am University College Dublin, Irland. E-Mail Link: robert.gerwarth@ucd.ie