Als Jeanne Mélin am letzten Tag des Frauenfriedenskongresses endlich in Zürich eintraf, unterbrach dessen Präsidentin Jane Addams für einen Moment die Sitzung. Der französischen Pazifistin war von ihrer Regierung zunächst keine Ausreisegenehmigung erteilt worden,
Eine Weibliche Friedensordnung für die Welt
Die beiden Frauen kannten sich schon seit dem internationalen Frauenfriedenskongress von Den Haag, zu dem im April 1915 die Ärztin und Frauenrechtlerin Aletta Jacobs in die neutralen Niederlande geladen hatte. Damals hatten 1136 Delegierte aus zwölf Ländern eine Resolution verabschiedet, die neben dem Frauenwahlrecht und der Demokratisierung von Institutionen auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Abrüstung, einen Schlichtungsgerichtshof für internationale Konflikte in Den Haag, eine demokratisch legitimierte Kontrolle der Außenpolitik als ein Mittel gegen die Geheimdiplomatie und eine auf Pazifismus zielende Erziehung gefordert hatte.
Die Teilnehmerinnen der Konferenz gründeten das Internationale Frauenkomitee für den dauerhaften Frieden, das ein Büro in Amsterdam betrieb. Allerdings wurde es nach 1915 zunehmend schwieriger, transnational zusammenzuarbeiten. Auch in den Sektionen der einzelnen Länder war das nicht leicht, vor allem in Deutschland waren die Publikationsmöglichkeiten eingeschränkt. So berichtete etwa die deutsche Frauenrechtlerin und Herausgeberin der Zeitschrift "Die Frauenbewegung", Minna Cauer, von Zensurmaßnahmen. Doch das "Feuer am Herd der Internationale erlosch nicht",
Nach dem Waffenstillstand im November 1918 machten sich Addams und Jacobs daran, einen zweiten internationalen Frauenfriedenskongress zu organisieren. Vergeblich hatte die Inter-Allied Women’s Conference bei US-Präsident Wilson für die Friedenskonferenz in Paris die Einrichtung einer Frauenkommission angeregt. Nicht einmal eine beratende Funktion für Frauenfragen war ihr eingeräumt worden, das hatten die übrigen Siegermächte verhindert. Ziel des zweiten internationalen Frauenfriedenskongresses war es daher, aus der Ferne die Friedensverhandlungen im Sinne einer dauerhaften Friedenssicherung zu beeinflussen und dabei eine Ausweitung politischer und ziviler Frauenrechte zu erreichen. Friedenssicherung und die weltweite Ausweitung von Recht und Gerechtigkeit standen aus Sicht der Pazifistinnen in einem engen Zusammenhang.
Für den zunächst geplanten Termin im Februar 1919 war es auch wegen der ständigen Unterbrechungen des Postverkehrs jedoch bald zu spät, sodass man die Zusammenkunft auf den Mai verschieben musste. Damit fiel sie auf ein Datum, an dem die meisten Debatten in Paris bereits zum Abschluss gekommen waren. Nach einigem Hin und Her bot die schweizerische Sektion des Verbandes an, die Veranstaltung auszurichten. Paris kam als Tagungsort nämlich nicht infrage, weil dorthin nur Frauen aus den alliierten Staaten reisen konnten, die deutschen und österreichischen Frauen aber auch mitdiskutieren sollten.
Themen des Zürcher Kongresses waren neben dem Vertrag von Versailles, dessen Bedingungen unmittelbar vor der Konferenz bekanntgegeben worden waren, die Satzung und Ziele des Völkerbundes und der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), die Rechtsstellung der Frauen nach dem Krieg, die sogenannte Hungerblockade gegen Deutschland, das Ideal der "Rassengleichheit" sowie das Verhältnis von Revolution und Pazifismus.
Versöhnungsgesten und mentale Abrüstung
Durch symbolische Gesten wie den Blumenstrauß für Mélin und den Handschlag zwischen Delegierten aus Ländern, die gegeneinander Krieg geführt hatten, durch die Versicherung der gemeinsamen Trauer und des wechselseitigen Mitleids wie auch durch die Arbeit an einer Zukunftsvision schufen die Delegierten für die Konferenz, aber auch für ihren Verband eine "emotionale Gemeinschaft".
Das wurde sicherlich durch die vor hundert Jahren herrschenden bürgerlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit erleichtert: Frauen galten als das per se friedliebende und sanftmütige Geschlecht, viele der Teilnehmerinnen begründeten Forderungen nach Veränderungen der Friedensbedingungen wie etwa nach dem Ende der Hungerblockade mit der Fürsorglichkeit der Frau. Die Pazifistinnen in Zürich verstanden sich auch selbst ganz essenzialistisch als das friedlichere Geschlecht und beanspruchten mit diesem Argument ihre besondere Verantwortung für den Weltfrieden. Krieg war aus ihrer Sicht eine männliche Angelegenheit, Frauen hingegen waren die mütterlichen Hüterinnen des Lebens.
Die emotionale Gemeinschaft der Pazifistinnen, die sich in Zürich als "Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit" (IFFF) einen neuen Namen und eine neue Satzung gaben, machte die mentale Demobilisierung nach dem Krieg möglich. Neben den erwähnten symbolischen Versöhnungsgesten ging es auch um die konkrete Benennung beispielsweise der Gewalttaten deutscher Männer gegenüber französischen und belgischen Frauen und die Anerkennung des dadurch verursachten Leids.
Mehr Mitspracherechte für Frauen
Mit dem Kongress versuchten die Frauen, sich in internationalen politischen Angelegenheiten Gehör zu verschaffen. 1919 gewann ihr Anliegen auf einen Schlag neue Überzeugungskraft, weil Frauen in einer Reihe von Staaten inzwischen das Wahlrecht bekommen hatten.
Ein Teil der Beschlüsse der Konferenz sollte nach innen in die nationalen Sektionen wirken, ein zweiter Teil des Schlusskommuniqués wurde direkt zur Friedenskonferenz nach Paris geschickt. Mit eingeschlossen war der "Freibrief der Frauen", der am 14. Mai 1919 angenommen wurde und zur Aufnahme in den Friedensvertrag gedacht war. In diesem Brief forderten die Frauen: "Die vertragsschließenden Parteien erkennen an, dass die soziale, politische und ökonomische Stellung der Frau von höchster internationaler Bedeutung ist."
Der Forderungskatalog umfasste das Frauenwahlrecht sowie die Gleichstellung von Mann und Frau in nationalen wie internationalen Institutionen. Ehefrauen sollten Rechtspersonen bleiben und die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen behalten, Mütter das Recht der Vormundschaft bekommen. Dieser letzte Punkt war 1919 in noch keinem Staat erfüllt, selbst in Skandinavien erhielten Frauen erst Ende der 1920er Jahre das Vormundschaftsrecht.
Völkerbund als Instrument für mehr Gerechtigkeit
An die Verfassung des Völkerbundes
Die Völkerbundstaaten sollten darüber hinaus "auf gleicher Grundlage für alle Staaten" die Abrüstung vorantreiben und die Wehrpflicht abschaffen. Zudem forderten die Delegierten, den Minderheitenschutz zu verankern und "die bürgerlichen und politischen Rechte der nationalen Minderheiten eines jeden Landes" zu gewährleisten. Die radikalste Forderung betraf aber den Kolonialbesitz. Künftig sollten "alle rückständigen Rassen, die unter der Vormundschaft fortgeschrittener Nationen stehen, dem Schutz des Völkerbundes unterstellt werden und (…) die Mandatarmächte sich verpflichten, die Entwicklung und die Möglichkeit des Selbstbestimmungsrechtes der ihnen anvertrauten Völker zu fördern".
Gemeinsam gegen Rassismus?
Eine Forderung an die Pariser Konferenz stellte die Organisation jedoch nicht, obwohl die Vorsitzende der US-amerikanischen National Association of Colored Women, Mary Church Terrell, dazu in Zürich eine flammende Rede gehalten hatte: Von einer Verankerung der "Rassengleichheit", mit der auch Japan schon bei den Verhandlungen zum Völkerbund in Paris gescheitert war,
Diese "Ungerechtigkeit", diesen Rassismus skizzierte Terrell, die aus einer wohlhabenden Familie stammte, am renommierten Oberlin College klassische Literatur studiert hatte und als erste Frau dem Bildungsrat von Washington angehörte,
Bei der Bildungsarbeit der IFFF zum Frieden sei auch der gleichzeitige Kampf gegen den Rassismus unabdingbar. Dazu forderte Terrell ihre Mitstreiterinnen mit eindringlichen Worten auf: "Die farbigen Mütter bitten ihre weissen Schwestern, die hohen Prinzipien der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichberechtigung nie aus den Augen zu verlieren und ihre eigenen Kinder so zu erziehen, dass sie dieselben nicht vergessen. (…) Die farbigen Mütter bitten ihre weissen Schwestern, ihre Kinder zu lehren, dass der Mensch, wie immer auch seine Farbe sein mag, nicht nach dieser, sondern nach seinem inneren Werte nach beurteilt werden muss und dass Rasse, Klasse, Religion und alles andere bedeutungslos ist."
Ihre Forderungen schlugen sich im Programm für die nationalen Sektionen nieder, das von der Konferenz verabschiedet wurde. Die Mitglieder verpflichteten sich dazu, sich für bessere Bildungsmöglichkeiten sowie gegen Segregation und rassistische Benachteiligung einzusetzen. Im "Freibrief der Frauen" sowie im Kommentar zum Völkerbund und damit in den Dokumenten, die in Paris den Teilnehmern der Friedenskonferenz überreicht werden sollten, wurde das Thema jedoch nicht angesprochen. Dies war der Dominanz weißer Frauen aus der gebildeten Mittelschicht in einer Organisation geschuldet, in der Mary Church Terrell 1919 eine Ausnahme darstellte und die erst begann, sich mit Rassismus und Antisemitismus in den eigenen Reihen auseinanderzusetzen.
Pazifistische Kritik am Vertrag von Versailles
Mit deutlichen Worten kritisierten die Pazifistinnen den Friedensvertrag von Versailles. Sie bewerteten ihn vorrangig nach dem Kriterium, ob seine Bedingungen dazu geeignet waren, den Frieden in Europa und der Welt zu garantieren. Es ging ihnen um dessen pragmatischen Nutzen, nicht um nationale Ressentiments. Im Zentrum stand die Frage, wie Friede, Gerechtigkeit und Freiheit weltweit langfristig gesichert werden könnten. Ziel war es, Krieg und Gewalt langfristig zu ächten.
Gewalt aber war das, was die Kongressteilnehmerinnen unter allen Umständen vermeiden wollten. Vor allem waren sie der Ansicht, einen Frieden könne es ohne die Beteiligung von Frauen nicht geben. Um ihrer Resolution Gehör zu verschaffen, reisten führende Mitglieder persönlich nach Paris, darunter Jane Addams, die Britinnen Charlotte Despard und Chrystal Macmillan, die Französin Gabrielle Duchêne sowie die Italienerin Rosa Genoni – es handelte sich also ausschließlich um Frauen aus den Siegerstaaten. Eine Änderung der Friedensbedingungen erreichten sie bekanntermaßen nicht. Obwohl Frauen inzwischen in einer Reihe von Staaten das Wahlrecht besaßen und sich viele Frauenorganisationen mit den in Paris behandelten Themen beschäftigten, entschieden auf der Friedenskonferenz dort 1919 ausschließlich Männer.
Ausblick
Die IFFF bezog noch im gleichen Jahr ihr Ständiges Sekretariat im Maison Internationale in Genf. Damit wurde die Organisation zum Prototyp einer Nichtregierungsorganisation: Sie lieferte Beweise für Missstände, wirkte auf Repräsentanten ein und versuchte, Entscheidungsträger zu beeinflussen. Finanziert wurde die Organisation vornehmlich aus Mitgliedsbeiträgen, sodass sie häufig unter Geldnöten zu leiden hatte. Zum Agendasetting der IFFF gehörte es nicht zuletzt, das Politikfeld des Völkerbundes um die Themen Gesundheit, Bildung und Frauenrechte zu erweitern.
Ihre Mitglieder bildeten schon in der Zwischenkriegszeit eine Identität aus, die nicht in der Nationalität, sondern in dem internationalen Netzwerk verankert war, in dem die Frauen für universale Rechte kämpften. Sie nahmen vorweg, was Virginia Woolf 1938 in ihrem Essay "Drei Guineen" schrieb: "In Wahrheit habe ich als Frau kein Land. Als Frau will ich kein Land haben. Als Frau ist mein Land die ganze Welt."
Auch wenn die Teilnehmerinnen der Zürcher Konferenz noch keinen großen Einfluss auf Institutionen und Friedensverträge nehmen konnten, war ihre internationale Ausrichtung und ihre Haltung, Nationalismus zu überwinden und konsequent eine globale Sichtweise einzunehmen, wegweisend für die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die IFFF hat heute Beraterstatus bei den Vereinten Nationen und einen Sonderberaterstatus bei UNICEF, Welternährungsorganisation und der IAO.