Einleitung
Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist Gerechtigkeit wieder zu einem großen Thema, zu einem Leitbegriff der Politik, deröffentlichen Auseinandersetzung, der gesellschaftlichen Konflikte geworden. In Deutschland ist diese "Renaissance der Gerechtigkeit" besonders deutlich spürbar - was mindestens zweierlei bedeutet.
Erstens spitzt sich hier die Krise der klassischen Wohlfahrts- und Wohlstandsgesellschaften des nordatlantischen Raumes schärfer zu als bei vielen unserer Nachbarn. Das liegt auch an der deutschen Verspätung bei der Bearbeitung dieser Probleme, und dieser Verspätung wiederum liegt ein ganzes Bündel von historischen Ursachen zugrunde. Es reicht von einer obrigkeitlichen, auf staatliche Versorgung fixierten Sozialmentalität über das Erbe der Diktaturen des 20. Jahrhunderts (vor allem des Nationalsozialismus, sekundär auch des DDR-Regimes) bis zu den Folgen der Wiedervereinigung vor anderthalb Jahrzehnten.
Zweitens bedeutet die Renaissance der Gerechtigkeit "in Deutschland" aber auch, dass sich der Fokus der Debatte in bemerkenswerter Weise auf den nationalen Raum zurückverschoben hat. In den achtziger Jahren spielten globale Disparitäten, vor allem das Nord-Süd-Gefälle im weltweiten Wohlstand, eine viel wichtigere Rolle, obwohl dieses Gefälle in vieler Hinsicht, jedenfalls gegenüber großen Teilen Afrikas, seither größer und nicht kleiner geworden ist. Doch das politische Interesse und nicht zuletzt die subjektive Betroffenheit der Bürgerinnen und Bürger selbst richtet sich (im vermeintlich postnationalen Zeitalter) primär wieder auf den nationalen Binnenraum, was die Verteilung von Vermögen, Einkommen, Bildung und allgemeinen Lebenschancen betrifft. Das Gefühl ist weit verbreitet (und hat vermutlich sogar einen neuen historischen Höhepunkt erreicht), dass die neue Dynamik des Kapitalismus diese Lebenschancen weniger gerecht als zuvor verteilt, und mehr noch: dass die Reformen, die durch ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel erzwungen werden, zusätzlich Ungerechtigkeit verstärken, statt auf Ausgleich, Balance und Fairness hinzuwirken. Es dürfte inzwischen unbestritten sein, dass die erfolgsverwöhnten westlichen Nachkriegsgesellschaften, unter ihnen die Bundesrepublik, in eine neue und schwierigere Epoche eingetreten sind. Umstritten ist dagegen, welche Konsequenzen diese Entwicklung für jenes Ziel der "Gerechtigkeit" hat, das die großen Volksparteien in Deutschland seit langem gleichermaßen zum Kanon ihrer programmatischen Grundwerte zählen.
Auf der einen Seite führt die sozialökonomische Krise zu einer Wiederbelebung älterer Spannungslinien wie der zwischen "Arm" und "Reich". Auf der anderen Seite ist die neue Konstellation gerade dadurch gekennzeichnet, dass Konflikte ganz anderer Art auftauchen und zu einem Problem der Gerechtigkeit werden: ethnische Spannungen etwa oder ein neues Gefälle zwischen Generationen. Die Folge ist paradox: Gerechtigkeit wird gegenwärtig einerseits eindimensionaler, konventioneller verstanden - nämlich als Verteilungsgerechtigkeit in einem sozialökonomischen Klassensystem von "oben" und "unten"; andererseits ist sie vielschichtiger, komplizierter geworden und durch postklassische Konflikte geprägt. Steht auf diese Weise schon der Begriff der Gerechtigkeit selbst im Kreuzfeuer unterschiedlicher Definitionen, ist erst recht strittig, wie eine Politik der Gerechtigkeit aussehen kann, welche politischen Gestaltungsräume es für eine "gerechte" Gesellschaft überhaupt gibt, und vor allem, was die Instrumente einer zeitgemäßen Gerechtigkeitspolitik sein können.
Neue Klassengesellschaft
Wer seit den achtziger Jahren die angelsächsischen Gesellschaften, vor allem die USA, beobachtet hat, der konnte kaum von den Debatten über eine "neue Klassengesellschaft" überrascht werden, die seit einigen Jahren nach Deutschland geschwappt sind. In England hatte man sich ohnehin nie der Illusion hingegeben, eine stratifizierte Gesellschaft werde in langfristigem und unaufhaltsamem Trend durch eine relativ homogene Mittelklassengesellschaft abgelöst - die working class war nicht mehr die klassische Arbeiterklasse der hochindustriellen Phase, aber sie bewahrte ihre Eigenständigkeit bis in Lebensstil, Habitus und Sprache hinein. Die Vereinigten Staaten dagegen sind, Deutschland gar nicht so unähnlich, gemäß ihrem Selbstentwurf als Pionier- und Aufsteigergesellschaft ein Land der universalisierten Mittelklasse gewesen. Ein ganzes Stück weit waren sie dies auch in der sozialen Realität nach dem Zweiten Weltkrieg, als die (weiße) Arbeiterschaft auf dem Wege von Massenkonsum und Mobilität den Anschluss an die Mittelklassengesellschaft fand. Aber seit den späten siebziger Jahren kehrte sich dieser Angleichungstrend in vielerlei Hinsicht wieder um.
Seitdem wuchsen die Abstände zwischen Oben und Unten in Einkommen und Vermögen; die Selbständigen und die gebildeten professional classes erzielten Gewinne, mit denen sie sich von dem stagnierenden Status der normalen abhängig Beschäftigten abkoppelten. Außerdem bildete sich in den großen Städten, die immer schärfer rassisch und sozial getrennt waren, eine neue Armutsschicht außerhalb der Erwerbsarbeit heraus, eine urban underclass, in der soziale Probleme sich kumulierten: Arbeitslosigkeit und Gewalt, materielle Armut und Mangel an Bildung, Migration und die Erosion von Familienstrukturen. Diese Realität fand spätestens in den neunziger Jahren ihren Weg auch auf die politische Agenda - vor allem während der Präsidentschaft Bill Clintons -, doch nicht primär, wie im deutschen Fall, als ein Diskurs über Gerechtigkeit.
Etwas später als in England und Amerika, und fraglos schwächer als dort, wurde auch die Bundesrepublik Deutschland von diesem Trend zu einer neuen Polarisierung der Gesellschaft erfasst. Die Phänomene sind jedoch bis heute diffuser, nicht zuletzt deshalb, weil sozialstaatliche Kompensationsleistungen bis in das vergangene Jahrzehnt hinein ausgebaut wurden. Das gilt für den Westteil des Landes, in besonderer Weise aber auch für die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung: Große Teile der Bevölkerung - am erfolgreichsten wohl die Rentnerinnen und Rentner - wurden binnen kurzer Zeit durch massive Transferleistungen auf das Konsum- und Lebensniveau der westlichen unteren Mittelschicht gehoben. Andererseits waren jedoch die Zeichen der neuen Trennlinien kaum mehr übersehbar. Die Schere zwischen Einkommen aus selbständiger und aus abhängiger Arbeit vergrößerte sich.
Dauerhafte Erwerbslosigkeit und verfestigte Sozialhilfebedürftigkeit begründeten Zonen der neuen Armut, nachdem die "alte Armut" (vor allem Armut im Alter, Armut auf dem Land, proletarische Armut) besiegt war. Die Vision von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" und ihren relativ homogenen sozialen Verhältnissen erodierte schnell. Soziale Unterschiede manifestierten sich aber nicht nur in materiellen Verhältnissen, sondern zunehmend auch in Lebensstil und Konsum. Das Ideal einer auch räumlich integrierten Gesellschaft rückte in weite Ferne, die soziale Segregation des Wohnens nahm seit den achtziger Jahren zu, auch wenn sie nicht die Dimension der "Ghettobildung" anderer Länder annahm. Der Konsum spaltete sich in "Discount"- und "Premium"-Segmente. Und auch die Mediennutzung entwickelte sich sozial höchst unterschiedlich, seit sich nicht mehr ein einheitliches Volk vor den Programmen von ARD und ZDF versammelte. Daraus entstand eine lebhafte Debatte über eine neue Klassengesellschaft und "neue Unterschichten".
Gerade im Hinblick auf die Frage nach der Gerechtigkeit muss man an dieser Stelle zwei Dimensionen unterscheiden: Die erste ist die reale Entwicklung von sozialen Strukturen, seien es Vermögensverhältnisse oder Bildungschancen, Siedlungsstrukturen oder kulturelle Stilisierungen. Diese Entwicklung vollzog sich ein bis zwei Jahrzehnte lang, ohne dass sie zum Anlass für Gerechtigkeitsdebatten geworden wäre; vielfach blieb sie überhaupt (jedenfalls für eine breitere Öffentlichkeit) unbemerkt und wurde noch nicht zu einem politisch-moralischen Problem. In dieser Dimension kann man zum Beispiel nach den Strukturbedingungen für die Entstehung und Verfestigung der neuen Unterschichten fragen und dann Faktoren diskutieren wie Wandel der Erwerbsgesellschaft und Deindustrialisierung, Auflösung klassischer Familien (Stichwort: alleinerziehende Mütter), Zuwanderung und Integration, Bildung, Konsum und Mediennutzung.
Die zweite Dimension besteht in der Wahrnehmung, Analyse und Politisierung dieser Prozesse. Veränderungen müssen buchstäblich "zur Sprache" und "auf den Begriff" gebracht werden. Von einer Klassengesellschaft, von Ober-, Mittel- und Unterschichten zu sprechen galt vielen zunächst als unangemessen, ja als obszön. Das änderte sich relativ schnell. Parallel dazu verbreitete sich in den letzten Jahren das Empfinden, dass solche Unterschiede die Grenzen des Akzeptablen oder Gebotenen überschreiten - dass es, mit anderen Worten, in unserer Gesellschaft nicht gerecht zugeht. Jedoch ist dieser Schritt der Politisierung und Moralisierung von Ungleichheit nicht zwangsläufig, sondern in großem Umfang historisch und kulturell bedingt. In Deutschland liegt die Schwelle dafür, Ungleichheit - zumal materielle Ungleichheit - auch als ungerecht zu empfinden, niedriger als in vielen anderen Ländern. Auch ist die Neigung größer, die Milderung von Ungerechtigkeit als eine kollektive Maßnahme von der Politik, von staatlichen Institutionen zu erwarten. Insofern das eine strukturelle Überforderung des Staates unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft und einer Marktökonomie darstellt, führen enttäuschte Erwartungen wiederum zu politischer Frustration und Demokratieverdrossenheit. Das kennzeichnet die Situation Deutschlands im Jahre 2005.
Zwischenbetrachtung: Begriffe von Gerechtigkeit
Es gibt unendlich viele Versuche, Gerechtigkeit zu definieren und verschiedene Dimensionen der Gerechtigkeit zu unterscheiden. Gerechtigkeit ist ein Leitbegriff der abendländischen Tradition seit mehreren tausend Jahren, vielleicht sogar eine Kategorie menschlicher Existenz überhaupt. Zu unterschiedlichen Zeiten und Kulturen hat dieser Begriff ein breites Spektrum von Bedeutungen erschlossen, und bis heute wird kaum Einigkeit über ihn zu erzielen sein. Schon innerhalb des "Westens", der entwickelten euroatlantischen Demokratien, sind erhebliche Unterschiede feststellbar. Sie betreffen nicht nur verschiedene Aspekte der Gerechtigkeit oder Strategien der Gerechtigkeitspolitik, sondern auch den Stellenwert des Grundwerts Gerechtigkeit im Vergleich. So ist es zwar ein Gemeinplatz, aber dennoch zutreffend und folgenreich, dass in den USA die Freiheit unzweifelhaft den ersten Platz in der Werteskala einnimmt, während in Deutschland Gerechtigkeit bzw. Gleichheit oft ebenso wichtig sind. Oder man kann sagen (auch dies ist oft festgestellt worden), dass Gerechtigkeit sich in den angelsächsischen Gesellschaften eher auf die Gleichheit bzw. Fairness der Ausgangsbedingungen bezieht und deshalb in der Rechtsstellung des Invididuums begründet ist, während sie in Kontinentaleuropa mehr auf die Gleichheit der Resultate gerichtet ist und deshalb zum einen der "sozialen" Gerechtigkeit den Vorrang gibt und zum anderen dem Staat eine maßgebliche Rolle für die Erreichung des Ziels der Gerechtigkeit zuweist.
Man könnte sagen, dass Gerechtigkeit auf dreierlei zielt: auf Identität, auf Fairness und auf Gleichheit. Gerechtigkeit als Identität, das bedeutet den fundamentalen Anspruch, man selbst sein zu können, seine soziale und kulturelle Identität verwirklichen und ein Leben ohne Zwang und Entfremdung führen zu können. Ungerecht wäre es dann, einen wesentlichen Teil seines Lebens - zum Beispiel seine religiöse Identität - aufgeben zu müssen. Dieser Aspekt lässt sich auch als eine Dimension von Freiheit deuten. Aber er hat tatsächlich in der jüngeren Debatte über Gerechtigkeit eine zentrale Rolle gespielt, nämlich unter dem Stichwort der (kulturellen) "Anerkennung". In einer vielfältigen und pluralistischen Gesellschaft dürfen unterschiedliche Identitäten gerade nicht dem Zwang zur Gleichförmigkeit unterworfen werden, sondern sie haben ein Recht darauf, von der Gemeinschaft Anerkennung (und Respekt) zu erfahren und damit so bleiben zu dürfen, wie sie sind.
Gerechtigkeit als Fairness bedeutet, so behandelt zu werden, wie man es verdient hat: gemessen an ethischen Maßstäben oder politischen Übereinkünften, die gleichermaßen aushandlungsbedürftig sind. Während es bei der Identität darum geht, verschiedene Fälle auch verschieden sein zu lassen, lautet das Minimalkriterium bei der Fairness, gleiche (bzw. vergleichbare) Fälle auch gleich zu behandeln. Die Gleichheit von Staatsbürgern vor dem Gesetz und der Grundsatz, "ohne Ansehen der Person" beurteilt, nötigenfalls auch gerichtet zu werden, ist ein wichtiger Teil davon. Diese Dimension der Gerechtigkeit wird in westlichen Demokratien inzwischen für so selbstverständlich gehalten, dass wir wenig über ihre Grundlagen und historische Bedingtheit nachdenken. Aktuell ist sie gleichwohl noch, wie das Beispiel der "Wehrgerechtigkeit" zeigt: Angesichts eines geschrumpften Personalbedarfs wird die allgemeine Wehrpflicht möglicherweise nicht mehr nach fairen Kriterien gehandhabt. Davon sind die Lebenschancen junger Menschen nicht unwesentlich betroffen. Doch illustriert dieses Beispiel zugleich, dass dieser Aspekt der Gerechtigkeit nur über ein vergleichsweise geringes Mobilisierungs- und Politisierungspotenzial verfügt.
Schließlich richtet sich die Frage der Gerechtigkeit, drittens, auf den Maßstab der Gleichheit. Damit kann eine Gleichheit der Chancen ebenso gemeint sein wie eine Gleichheit der materiellen Ausstattung, wobeidieser Maßstab in der Regel nicht absolut, sondern nur als ein gedanklicher Fluchtpunkt in Anschlag gebracht wird. Die mindestens implizite Grundannahme dabei ist jedoch in der Tat eine Art fiktiver Naturzustand, wie man ihn aus vielen Vertragstheorien der bürgerlichen Gesellschaft kennt; namentlich ein Naturzustand vor Privateigentum und Arbeitsteilung. Wenn wir in einer arbeitsteilig differenzierten, das Privateigentum schützenden Gesellschaft unterschiedlichen Wohlstand und Status haben (und vererben), dann ist doch unverdiente oder ungerechtfertigte Ungleichheit auch (moralisch) ungerecht. Daran schließt sich heute meistens eine funktionale Rechtfertigung von Ungleichheit an: Aufgrund einer bestimmten Position, die Qualifikation und Verantwortung einschließt, ist zum Beispiel ein höheres Einkommen gerechtfertigt. In diesem Koordinatensystem bewegt sich letztlich auch die berühmteste sozialphilosophische Gerechtigkeitstheorie der letzten Jahrzehnte, die von John Rawls.
Diese drei Aspekte - Identität, Fairness und Gleichheit - lassen sich auch als Stufen der Gerechtigkeit verstehen, die aufeinander aufbauen und auf zunehmend komplexen Voraussetzungen beruhen. Zumal die Vorstellung von Gerechtigkeit als Gleichheit im Sinne einer (materiellen) Verteilungsgerechtigkeit eine Norm ist, die sich keineswegs universell durchgesetzt und auch in Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten ihren Höhepunkt erreicht hat. Man könnte sogar die These vertreten, dass das Ideal der Verteilungsgerechtigkeit gerade im historischen Moment der Krise des klassischen Sozialstaates und seiner Verteilungsspielräume am schärfsten formuliert und politisch-moralischeingefordert werden kann - was die gegenwärtige Renaissance der Verteilungsdebatte erklärt, aber auch die Spannungen, die sich zwischen öffentlicher Wahrnehmung und gesellschaftlicher Realität auftun. In der Hochphase der "alten Bundesrepublik" verstand sich Umverteilung von selbst, und derFluchtpunkt der Gerechtigkeitspolitik konnte diffus bleiben. So verfolgte die gewerkschaftliche Tarifpolitik jahrzehntelang das Ziel einer Angleichung von Lohn- und Gehaltsgruppen - Niedriglohngruppen entfielen, untere Lohngruppen erhielten stärkere Zuwächse -, ohne sich festlegen zu müssen, ob der Arbeiter und der Ingenieur am Ende gleich viel verdienen sollten. Erst die Krise des expansiven Wohlfahrtsstaates zwingt zu einer genaueren Bestimmung der politischen und moralischen Maßstäbe, die dem Ideal der Verteilungsgerechtigkeit zugrunde liegen.
Gleichzeitig jedoch wird immer klarer erkennbar, dass die klassischen Strategien der Gerechtigkeitspolitik, auch angesichts neuartiger gesellschaftlicher Probleme, insgesamt an Überzeugungs- und politischer Durchschlagskraft verlieren. Die multikulturelle "Politik der Anerkennung" in den achtziger und neunziger Jahren war bereits eine Antwort auf die Grenzen einer Verteilungspolitik, die implizit immer von dem Ideal einer ethnisch und kulturell homogenen Gesellschaft ausgegangen war. Inzwischen sind auch die Grenzen der Anerkennung ins Bewusstsein getreten - aus mindestens zwei Richtungen: Zum einen endet die Plausibilität der Anerkennung dort, wo grundlegende Werte des zivilen Zusammenlebens, des Rechtsstaates, der Freiheit und der Gleichberechtigung der Geschlechter in Frage gestellt werden. Zum anderen hört sie dort auf, wo kulturelle Verschiedenheit nicht in die offene Pluralität von Lebensstilen mündet, sondern Zonen der Benachteiligung, der Minderung von Lebenschancen zumal von Kindern etabliert und verfestigt. Insofern hat, in beiden Aspekten, das Prinzip universeller Normen zuletzt wieder verlorenes Terrain zurückgewonnen.
Dieser Befund einer doppelten Krise der Umverteilung und der Anerkennung steht am Beginn der Karriere eines neuen Begriffes: der Teilhabegerechtigkeit. Damit ist die Fähigkeit gemeint, an den allgemeinen Chancen der Gesellschaft teilnehmen zu können - nicht so sehr im Sinne einer materiellen Ausstattung etwa von sozialen Transferzahlungen derart, dass sie den Erwerb einer Theater- oder Kinokarte einschließen, sondern im Sinne der grundlegenden Lebenschancen in den Bereichen Bildung, Erwerbsarbeit und Gesundheit. Teilhabegerechtigkeit zielt auf die Stärkung von Ressourcen der selbständigen Lebensführung und damit wesentlich auf kulturelle Kompetenzen, die den Anschluss an die jeweils besten Möglichkeiten einer Gesellschaft sichern soll. Mit dieser Akzentverschiebung ist vor allem die Bildung in denMittelpunkt der Gerechtigkeitspolitik gerückt. Wenn Jugendliche etwa aus Migrantenfamilien ohne Schulabschluss bleiben und so auf Jahrzehnte Lebenschancen einbüßen, ist mit einer Politik der Umverteilung wenig geholfen; sie lindert höchstens noch die Symptome, ohne die Ursachen bekämpfen und den Kern der Ungerechtigkeit treffen zu können. Ob sich dieses Verständnis von Gerechtigkeit auch gesellschaftlich durchsetzt und politisch folgenreich wird, ist allerdings noch eine offene Frage. Sie wird nicht zuletzt an jenenneuen sozialen Spannungslinien zu entscheiden sein, die den klassischen Arm-Reich-Konflikt der industriellen Gesellschaft sprengen.
Neue Spannungslinien, neue Gerechtigkeit?
Mit der skizzierten Renaissance der Klassengesellschaft ist die Problemdiagnose unvollständig. Wohl hat sich die öffentliche Wahrnehmung und zumal die Moralisierung sozialer Spannungslinien seit 2003/04 in erheblichem Maße auf die traditionellen Verteilungsfragen, auf das "Arm-Reich-Problem" konzentriert. Doch die Geschichte entwickelt sich nicht rückwärts, und die Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts ist keine der Wiederauferstehung der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Vielmehr sind neue Spannungslinien entstanden, die sich mit den alten, aber auch gegenseitig auf komplizierte Weise überkreuzen. Insofern führt die Konzentration auf die Klassenfrage in die Irre, zumal wenn an dieser Stelle der einzige oder auch nur vorrangige Hebel der Gerechtigkeitspolitik angesetzt werden soll. Man könnte bei diesen neuen Spannungslinien zuerst an die Ungleichheit der Geschlechter denken - natürlich ein uraltes Problem, das gleichwohl immer noch offener ist, als man es vor wenigen Jahrzehnten erwarten konnte. Es ist "neu" und aktuell insofern, als Deutschland mittlerweile in vieler Hinsicht einen Rückstand gegenüber anderen westlichen Nationen aufweist: bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder bei der Präsenz von Frauen in Führungspositionen. Diese Ungleichheit wird jedoch inzwischen weniger scharf (und: weniger als "ungerecht") empfunden als zu den Hochzeiten der Frauenbewegung in den siebziger oder achtziger Jahren.
Bei den neuen Ungleichheiten, die zugleich als ungerecht thematisiert werden, steht der Konflikt der Generationen wohl an erster Stelle. Jede Gesellschaft beruht auf einem impliziten Generationenvertrag: Man sorgt für die Kinder, weil diese als Erwachsene für ihre eigenen Eltern, die dann Alten, sorgen, aber auch deshalb, weil die Kinder wiederum für ihre Kinder sorgen werden. Die mittleren Generationen (zugleich in der Regel der erwerbstätige Bevölkerungsteil) tragen oft eine doppelte Verantwortung gegenüber Kindern und Eltern, doch tun sie das vor dem Hintergrund, selbst versorgt worden zu sein (als Kinder), und in der Erwartung, später - im Alter, im Ruhestand, bei Krankheit - versorgt zu werden. Der deutsche Wohlfahrtsstaat hat bekanntlich, vor allem in den Sozialversicherungen mit ihrem Umlageverfahren, in erster Linie auf dieses Generationenprinzip gesetzt. Doch funktioniert es nur, und ist nur gerecht, unter mindestens konstanten Bedingungen, besser noch (und das war lange Zeit der Normalfall) unter Bedingungen der Expansion: der demografischen wie der ökonomischen.
Diese Situation existiert nicht mehr, und damit entstehen neue Disparitäten und Verteilungskonflikte. Die mittlere Generation kann selbst nicht mehr mit jenem Niveau der Absicherung rechnen, das sie gegenwärtig ihren Eltern finanziert. Aber auch die Bildungs- und Aufstiegschancen haben sich verändert, häufig verringert - quer durch die sozialen Schichten und Klassen: Der Sohn des lebenslang quasi unkündbar beschäftigten Facharbeiters kann nicht mehr mit einer ähnlich sicheren, und gut dotierten, Position rechnen, die Tochter des Studiendirektors oder Richters hat erhebliche Schwierigkeiten, eine vergleichbare Stellung im höheren Staatsdienst zu finden. Ungleiche Generationenchancen sind kein neues Phänomen. Doch bestand die Ungleichheit in den letzten hundert oder sogar zweihundert Jahren vor allem darin, dass es den Nachgeborenen besser ging als ihren Eltern, und an diese Erfahrung hatten wir uns gewöhnt. Von den Expansions- und Wohlstandsjahrzehnten der Bundesrepublik hat insbesondere eine Generation profitiert - die der um 1940 Geborenen -, die man als die "goldenen Kohorten" der Nachkriegszeit bezeichnen könnte. Ihr Leben war von stetigem Aufstieg und Wohlstandszuwachs gekennzeichnet, sie haben vom historisch größten Umfang der sozialen Sicherungssysteme und anderer öffentlicher Infrastruktur profitiert.
Aber diese Konstellation hat noch nicht zu einem offenen Generationenkampf geführt und wird es wohl auch nicht. Denn nur ein kleiner Teil dieses Konfliktpotenzials wird politisch bearbeitet - etwa durch die Rentenversicherung -, der größere Teil verbleibt im privaten Raum. Die Lösung besteht dann darin, dass die Eltern ihre längst erwachsenen Kinder materiell unterstützen (wie das inzwischen häufig der Fall ist), statt umgekehrt in der Altersknappheit von den Kindern unterstützt zu werden. Als "ungerecht" wird diese ungleiche generationelle Lagerung übrigens auch deshalb nicht empfunden, weil sie nicht so leicht kausal zurechenbar ist - anders gesagt: weil sich ein Schuldiger, dem die moralische Last der Ungerechtigkeitsfeststellung aufgebürdet würde, nur schwer finden lässt. Bei den Klassenunterschieden, also der klassischen Verteilungsungleichheit, ist diese Zurechnung leichter und seit langem etabliert: Sie geschieht auf "die Reichen" selbst, auf den Kapitalismus sowie auf den Staat, der vermeintlich unfähig ist, den Kapitalismus sozial zu bändigen. Damit aus Ungleichheit ein Gerechtigkeitsproblem wird, bedarf es also zum einen dieser moralisch aufgeladenen Kausalzurechnung, zum anderen der Definition eines Problems als öffentlich und gesellschaftlich statt bloß privat.
Auf ganz ähnliche Problemlagen stößt man bei einer weiteren "neuen Ungleichheit", die sich in den letzten Jahren vehement in den Vordergrund öffentlicher Debatten geschoben hat - und aus guten Gründen in Deutschland mehr als anderswo: nämlich bei der Differenz zwischen Eltern bzw. Familien und (dauerhaft) Kinderlosen. Hier steht ein gesellschaftlicher Strukturwandel von historischer Dimension am Anfang. Die Normalität der Familienbiografie löste sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts rapide auf; es wurde möglich, legitim und weit verbreitet, ein Leben (bewusst) ohne Kinder zu führen. Natürlich hat es biologisch oder kulturell-religiös bedingte Kinderlosigkeit immer schon gegeben, doch spielte sie erstens quantitativ eine marginale Rolle, und zweitens führte sie typischerweise auch in soziokulturelle Marginalität bzw. war deren Ausdruck: Man war zu arm, um zu heiraten und einen eigenen Haushalt zu führen; man fand keinen Partner und stand damit außerhalb des familienzentrierten bürgerlichen Mainstreams. Die neue Kinderlosigkeit dagegen etablierte sich selbstbewusst - mitunter sogar ausdrücklich als Entscheidung für eine "Befreiung" der eigenen Lebensführung - in der Mitte der Gesellschaft.
Damit war zunächst nur eine Differenz gegeben, die erst mit einer gewissen Verzögerung auch als Ungleichheit thematisiert wurde. Obwohl der staatliche "Familienlastenausgleich", vor allem durch das Steuersystem und durch direkte Transferleistungen wie das Kindergeld, seit den achtziger Jahren sogar ausgebaut wurde, verfestigte sich ein Eindruck der ungleichen Lebenschancen. Eltern übernehmen die - nicht nur private, sondern auch gesellschaftliche - Verantwortung für die Erziehung der nächsten Generation und nehmen dafür zugleich Einschränkungen ihrer Lebensgestaltung in Kauf: kulturelle Einschränkungen, soweit spontane Entscheidungsfreiheiten und der Wunsch nach individueller "Selbstverwirklichung" betroffen sind, aber eben auch materielle Einschränkungen durch ein signifikant niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen, zumal in Verbindung mit dem häufig entgangenen Erwerbseinkommen von Frauen in der Familienphase (mit Rückwirkungen bis in die Alterssicherung). In Deutschland als einem der Länder mit der weltweit niedrigsten Geburtenrate, und zugleich einer niedrigen Frauenerwerbsquote, ist diese Ungleichheit schärfer ausgeprägt als in den USA oder Frankreich. Zusätzlich verstärkt wird sie durch eine charakteristische Überschneidung mit sozialökonomischer Ungleichheit, weil viele Gebildete und Gutverdiendende, besonders Akademiker, viel eher auf Kinder verzichten als Angehörige ärmerer, zum Teil ohnehin schon transferbedürftiger Bevölkerungsschichten.
Ob in einem zweiten Schritt aus der (objektiven) Ungleichheit auch eine (intersubjektive, gesellschaftlich festgestellte) Ungerechtigkeit wird, ist gegenwärtig eine offene Frage. Die Transformation der beschriebenen Situation in eine Ungerechtigkeit setzt voraus, dass sie als ein politisches Problem, als ein Problem des Gemeinwesens (und nicht nur von privaten Individuen) empfunden wird und dass Strategien zu ihrem Abbau, also zu einer Politik für mehr Gerechtigkeit, mindestens diskutiert werden. Eine Zeitlang sah es so aus, als geschähe dies tatsächlich, doch der Politisierung des (vermeintlich?) Privaten scheinen enge Grenzen gezogen zu sein. Die Veränderung des kulturellen Klimas zugunsten von Familien ist jedenfalls politisch, und bisher auch demographisch, folgenlos geblieben. Und wie bei den meisten der "neuen" Ungleichheiten erweist sich auch hier: Die verschiedenen Interessen sind kaum organisierbar, obwohl durchaus handfeste materielle Interessen und Verteilungsfragen auf dem Spiel stehen. Ein Klassenkampf zwischen Eltern und Kinderlosen findet allenfalls gelegentlich in den Feuilletons statt. In der Steuerreformdiskussion zum Beispiel haben sich Vorschläge wie das Familiensplitting oder eine stärkere Spreizung der Steuerklassen nie wirklich durchgesetzt. Im Bundestagswahlkampf des Sommers 2005 spielten Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen eine erhebliche Rolle, doch die familien-, generations- und geschlechterpolitischen Aspekte traten fast vollkommen in den Hintergrund.
Die Liste der neuen Spannungslinien ließe sich fortsetzen und in ähnlicher Weise weiter erörtern. Einen prominenten Platz nimmt dabei die Unterscheidung von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung ein. Auch hier hat sich, ähnlich wie im Falle der Generationen und der Familien, ein Blickwechsel vollzogen, der soziale und kulturelle Differenz zugleich als Ungerechtigkeit erfahrbar macht. In einer ersten Stufe waren Migranten "Gastarbeiter". Sie hatten als solche entweder ohnehin keinen Anspruch auf die Gerechtigkeitskriterien der Mainstream-Gesellschaft, oder ihr Status war als bloß transitorisch gedacht: Mit der vollständigen Integration in der viel zitierten "dritten Generation" entfiele dann auch die Ungerechtigkeit begründende Differenz als solche. In einer zweiten Stufe - das alles natürlich holzschnittartig vereinfacht - wurde die Differenz nicht nur anerkannt, sondern unter dem Stichwort der "multikulturellen Gesellschaft" als gerecht und fortbestehenswürdig legitimiert, weil die Identität und Integrität von Lebensweisen nicht in Frage gestellt werden dürfe. Erst in einem dritten Schritt, der in der deutschen Debatte erst vor ganz wenigen Jahren vollzogen worden ist, wurde die Lebenssituation von Migranten primär als eine der Benachteiligung und des Ausschlusses begriffen, und damit als eine Situation der Ungerechtigkeit, der durch politische Intervention abgeholfen werden müsse. Dabei steht jedoch nicht die materielle Umverteilung im Vordergrund, sondern Sprach- und Bildungsförderung und andere Instrumente der Unterstützung soziokultureller Teilhabe.
Hier erweist sich erneut, was wir schon festgestellt haben: Erstens sind die entlang der neuen Spannungslinien verlaufenden Interessen nur äußerst schwer organisierbar - eine schlagkräftige Stimme türkischer oder russischer Einwanderer in Deutschland gibt es trotz der jahrelangen intensiven Diskussion über Bildungsrückstände, Sprachprobleme, Ghettobildung oder auch über den Stellenwert der islamischen Kultur im Alltag immer noch nicht. Zweitens fällt eine Gerechtigkeitspolitik, die auf andere Instrumente als das der materiellen Umverteilung setzt und wegen der spezifischen Ursachen von Benachteiligung, die sich mit Geld nicht kompensieren lassen, auch setzen muss, immer noch sehr schwer - erneut muss man sagen: trotz der jahrelangen Debatten über neue Ungleichheit und neue Gerechtigkeitspolitik.
So ist die Situation der Gerechtigkeit wahrhaftig paradox. Auf der einen Seite ist die Erkenntnis allgemein, dass die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts durch eine komplizierte Überlagerung von Spannungslinien und Ungleichheiten gekennzeichnet sind. Ungleichheit entsteht häufiger und krasser außerhalb der sozialökonomischen Leitdifferenz der klassischen industriellen Gesellschaft: jenseits von Reich und Arm, von Bürgertum und Proletariat, von Kapital und Arbeit. Und sie ist in diesen neuen Zonen nur teilweise, wenn überhaupt, mit den Mitteln der materiellen Umverteilung auszugleichen. Gerechtigkeitspolitik braucht deshalb andere, mindestens zusätzliche Instrumente wie das der Förderung von Bildung, von sprachlicher und kultureller Teilhabe, auch: von Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit als Schlüssel der sozialen Integration. Auf der anderen Seite verengt sich die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit in Krisensituationen immer wieder auf die Differenz von Arm und Reich, und Gerechtigkeitspolitik nimmt allzu rasch - angesichts immer neuer Ansprüche auf Kompensation - Zuflucht bei neuen Angeboten der Umverteilung, weil damit eine rasche, sofort wirksame Befriedigung von Interessen möglich scheint. Wer will schon Jahre, möglicherweise Jahrzehnte - bis in die Lebensgestaltung der nächsten Generation hinein - warten, bis sich die Resultate nachhaltiger Gerechtigkeitspolitik zum Beispiel in der Bildungsförderung erweisen können? Erst wenn es wenigstens in Ansätzen gelingt, diese Paradoxie aufzulösen, werden Fortschritte der Gerechtigkeit wieder möglich sein.