Einleitung
Wer sich mit sozialer Ungleichheit und ihrem - wie sich erweisen wird, manchmal nur scheinbaren - Gegenteil: der Gleichheit, oder gar mit Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit beschäftigt, begibt sich auf ein theoretisch wie empirisch schwer zu begehendes, bisweilen normativ "vermintes" Gelände: Schon ein kurzer Blick auf einigeaktuelle, gerechtigkeitsstheoretisch getönte Veröffentlichungen zeigt, dass sich sowohl für (ein "Mehr" an) Gleichheit wie auch für (ein "Mehr" an) Ungleichheit jeweils moralphilosophisch durchaus anspruchsvolle und plausible, teilweise jedoch auch widersprüchliche Begründungen und Rechtfertigungen liefern lassen.
Angesichts dieser eher unübersichtlichen Diskussionslage könnte es wünschenswert erscheinen, wenn wenigstens die Betroffenen selbst eine halbwegs einheitliche Position zu Fragen der (Un-)Gleichheit und (Un-)Gerechtigkeit einnehmen würden. Wie man allerdings den Ergebnissen einer 2003 im Rahmen des "Sozio-ökonomischen Panels" (SOEP) durchgeführten Sonderumfrage entnehmen kann, ist dies in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs der Fall: So stimmten zwar 33 Prozent der Befragten "voll" und 34 Prozent "eher" dem Statement "Soziale Gerechtigkeit bedeutet, dass alle Bürger die gleichen Lebensbedingungen haben" zu - rund zwei Drittel gaben damit eine Präferenz für (mehr) "Gleichheit" zu erkennen.
Noch größer war allerdings mit rund 70 Prozent die Zustimmung zu dem Satz "Ein Anreiz für Leistung besteht nur dann, wenn die Unterschiede im Einkommen groß genug sind", wobei 28 Prozent mit diesem Statement "voll" und 42 Prozent "eher" übereinstimmten. Die überwiegende Mehrheit scheint also noch nach der Jahrtausendwende mit der schon 1945 von Davis Kingsley und Wilbert E. Moore formulierten funktionalistischen Schichtungstheorie übereinzustimmen: Es wird davon ausgegangen, dass ungleiche "Belohnungen" nötig seien, um Menschen zur Übernahme unterschiedlich "wichtiger" und/ oder anstrengender Tätigkeiten zu motivieren - und dass damit zugleich Ungleichheiten durch den Verweis auf Differenzen von Leistungsbereitschaft und -fähigkeit gerechtfertigt werden könnten. Freilich will eine noch größere Mehrheit eine allumfassende, strikt leistungsgesellschaftliche Orientierung auch gleich wieder eingeschränkt wissen, denn immerhin traf die Aussage, dass "der Staat (...) für alle einen Mindestlebensstandard garantieren" sollte, bei 53 Prozent der Befragten auf "volle" und bei 30 Prozent "eher" auf Zustimmung.
Im internationalen Vergleich fiel dabei übrigens in Deutschland noch Ende der neunziger Jahre die so genannte "Gerechtigkeitslücke", die im Rahmen des "International Social Survey Program" (ISSP) als Differenz zwischen dem geschätzten und dem als angemessen erachteten Einkommensunterschieden zwischen "gelernten Fabrikarbeitern" und "Vorstandsvorsitzenden großer nationaler Unternehmen" gemessen wird, eher klein aus.
Offen bleibt bei derartigen Umfragen häufig, was die Befragten unter (Un-)Gleicheit und (Un-)Gerechtigkeit verstehen - und vor allem, auf welche Art(en) von Ungleichheiten bzw. auf welche Dimensionen sozialer Ungleichheit sie sich beziehen: So deutlich etwa im Rahmen des ISSP Einkommen als Ungleichheitsdimension im Mittelpunkt steht, so vage bleibt in der eben zitierten SOEP-Sonderumfrage, was mit "gleichen Lebensbedingungen" gemeint sein könnte. Hinzu kommt, dass solche Urteile ja u.U. auf der Basis höchst divergierender Alltagserfahrungen mit Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten gefällt und zugleich durch bisweilen hochselektive Informationen der Massenmedien mitgeformt werden. Vor diesem Hintergrund dürfte es daher kaum überraschen, wenn Alltagswahrnehmungen und öffentliche Meinung über Art und Ausmaß vorhandener Ungleichheiten sowie über deren Veränderungen im Zeitverlauf eher selten mit dem übereinstimmen, was die Sozialwissenschaften von einem Beobachterstandpunkt aus und mithilfe objektivierender Methoden registrieren können.
Noch komplizierter dürften die Verhältnisse mit Blick auf verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit liegen: Während in der Meinung, der Sozialstaat habe einen "Mindestlebensstandard" zu garantieren, ein Konzept der Bedarfsgerechtigkeit zum Vorschein kommt und dann trefflich darüber gestritten werden kann, welcher Bedarf bzw. welche Bedürfnisse als "angemessen" oder gar als "standesgemäß" gelten können, dürften der verbreiteten Forderung nach "gleichen Lebensbedingungen" eher Vorstellungen von Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit zugrunde liegen, die nicht nur im Alltag oftmals diffus bleiben, sondern auch im Rahmen bildungspolitischer oder gerechtigkeitstheoretischer Diskussionen durchaus strittig sein können. Akzeptiert man schließlich "Einkommensunterschiede" als notwendige Anreize, geht es letztlich um normative Vorstellungen von Leistungsgerechtigkeit - und auch hier wird bei näherem Hinsehen schnell deutlich, dass sich es sich bei der "Verrechnung" von Aufwand, Ertrag und Belohnung um einen hochkomplexen sozialen Vorgang handelt, bei dem das Verhältnis von "Leistung" und "Gegenleistung" nicht ein für allemal festgestellt werden kann, sondern in den vielfältigsten Arenen immer wieder aufs Neue zu bewerten und auszuhandeln ist.
Bildungsungleichheit
Die Institutionalisierung des Leistungsprinzips als weithin akzeptierter Mechanismus der ungleichen Verteilung von "Belohnungen" gilt nun gemeinhin als eine zentrale Errungenschaft moderner Gesellschaften: Nicht mehr die Geburt, wie in feudal-ständischen Gesellschaften, oder andere, durch eigenes Zutun nicht veränderbare, zugeschriebene oder "askriptive" Merkmale, sondern durch eigenes Handeln erworbene Eigenschaften, also insbesondere (Aus-)Bildungsqualifikationen, sollen darüber entscheiden, welche (beruflichen) Positionen Menschen einnehmen können - und welche (ungleichen) Möglichkeiten der Einkommenserzielung ihnen damit offen stehen oder verschlossen bleiben.
Reinhard Kreckel hat dies als "meritokratische Triade" beschrieben: Als "legitim" gelten in diesem idealtypischen Modell Einflüsse, die zwischen (ungleichen) Qualifikationen und (ungleichen) beruflichen Stellungen und von dort weiter auf (ungleiche) Einkommen wirken; als "illegitim" werden dagegen jene Einflüsse betrachtet, die auf kategorialen "Zugehörigkeiten" (wie z.B. dem Geschlecht) und darauf aufbauenden Prozessen der "sozialen Schließung" beruhen. Damit steht die Vorstellung einer "Meritokratie" aber nicht nur im Zentrum der Legitimation von Ungleichheit(en) in modernen Gesellschaften. Zugleich verlagert sich die wissenschaftliche wie politische Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten und Mechanismen des Erwerbs von Qualifikationen, von so genanntem "Humankapital" oder "kulturellem Kapital", mithin auf die (ungleichen) Chancen des Zugangs zu bzw. des Erwerbs von Bildung.
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht verständlich, weshalb die von Ralf Dahrendorf in den sechziger Jahren erhobene Forderung nach einem "Bürgerrecht auf Bildung" in Form der Bildungsexpansion eine so massive wie nachhaltige Wirkung entfalten konnte. So stieg etwa die Abiturientenquote in(West)- deutschland von 1958 bis 2002 von gut 5 Prozent der 19- bis 20-Jährigen auf knapp 25 Prozent. Und die Studierendenquote - hier gemessen als Anteil Studierender an den 20- bis 30-Jährigen - wuchs in Westdeutschland zwischen 1950 und 2002 von rund 10 Prozent auf knapp 16 Prozent bei den Männern und von unter 6 Prozent auf ebenfalls knapp 16 Prozent bei den Frauen. Dabei ist es vor allem auch zu einer Angleichung der Bildungschancen zwischen den Geschlechtern gekommen: So stieg der Anteil der Mädchen unter den Abiturienten von 37 Prozent in den sechziger Jahren (knapp 50 Prozent in der DDR) auf etwa 55 Prozent seit dem Jahr 2000 (Ostdeutschland: knapp 60 Prozent). Im gleichen Zeitraum hat sich auch der Frauenanteil unter den Studierenden Westdeutschlands von 28 Prozent auf etwas über 50 Prozent und in den neuen Bundesländern von 25 Prozent auf 52 bis 53 Prozent erhöht.
Allerdings haben nicht zuletzt die PISA-Studien ein Paradox der Bildungsexpansion wenigstens ansatzweise wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben: Die Ausweitung der Bildungschancen hat zwar nicht nur die Chancen der Mädchen bzw. Frauen auf mehr Bildung erheblich verbessert, sondern auch - zumindest unter den Deutschen - die Bildungschancen über alle beruflichen Stellungen hinweg erhöht. Gleichzeitig konnten jedoch die Kinder aus "höheren" Berufsgruppen ihre Vorsprünge noch weiter ausbauen, so dass sich nach wie vor deutliche Chancenungleichheiten nach sozialer Herkunft abzeichnen (vgl. Abbildung 1 der PDF-Version). Und obwohl es im längerfristigen historischen Vergleich insgesamt zu einer größeren "sozialen Durchlässigkeit" in der westdeutschen Gesellschaft gekommen ist, die Stärke des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und eigener Position also tendenziell abgenommen hat, sind diese Zusammenhänge im internationalen Vergleich besonders eng geblieben.
Im Anschluss an Max Webers Überlegungen zum Widerstreit ständischer Prozesse sozialer Schließung und Abgrenzung einerseits - darin drücken sich "illegitime" Einflüsse von Zugehörigkeiten aus - und ökonomisch-klassenförmiger Ungleichheiten, die in "legitimer" Weise von "Marktlagen" sowie von individuellen "Leistungen" abhängen, anderseits hat Michael Vester jüngst diesen Sachverhalt als Ausdruck einer sich möglicherweise wieder verstärkenden, auf alle Fälle jedoch nach wie vor wirkungsmächtigen "ständischen Regulierung" milieuspezifischer Bildungschancen in Deutschland interpretiert. Ständische Regulierungsmechanismen und die sie regelmäßig begleitenden sozialen Konstruktionen kategorialer Zugehörigkeiten und Grenzziehungen zwischen "Insidern" und "Outsidern" können freilich nicht nur die Persistenz ungleicher Bildungschancen erhellen. Bedenkt man, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat im internationalen Vergleich zu den eher "konservativen" Systemen, die auf"Statussicherung" setzen, zu rechnen ist, dann ist darüber hinaus zu vermuten, dass vergleichbare Regulierungsmechanismen auch der großen Konstanz von Vermögens- und Einkommensungleichheiten, für die im Folgenden einige Indizien beizubringen sind, zugrunde liegen.
Vermögens- und Einkommensungleichheit
Das gesamte Nettovermögen (inklusive des Immobilienbesitzes) privater Haushalte in Deutschland wird für 1998 auf knapp 4,3 Billionen Euro geschätzt - und es ist in Westdeutschland seit 1983 um fast das Zweieinhalbfache angewachsen. Im Jahre 1998 belief sich das durchschnittliche Geldvermögen westdeutscher Haushalte auf fast 38 000 Euro, und auch ostdeutsche Haushalte konnten gegen Ende der neunziger Jahre im Durchschnitt über etwas mehr als 20 000 Euro verfügen. Werden die Haushalte nach der beruflichen Stellung der so genannten "Bezugsperson" aufgegliedert, so haben Selbständige in Westdeutschland im Jahre 2003 das 1,7fache des Durchschnitts(netto)vermögens, was einem Wert von gut 300 000 Euro entspricht. In Ostdeutschland kommen sie fast auf das 2,5fache des durchschnittlichen Vermögens in den neuen Bundesländern; dies entspricht rund 140 000 Euro. Arbeitnehmer weisen im Westen etwa drei Viertel des Durchschnittsvermögens auf (das entspricht 130 000 Euro), im Osten liegen sie dagegen mit dem etwa 1,2fachen über dem Durchschnitt der Vermögen in den neuen Bundesländern (entsprechend beläuft sich das durchschnittliche Nettovermögen dieser Gruppe auf etwa 67 000 Euro). Rentner verfügen in beiden Teilen Deutschlands über gut 80 Prozent des durchschnittlichen Vermögens, und als "Schlusslichter" können sowohl in den alten wie in den neuen Bundesländern die Arbeitslosen gelten, die im Westen nur knapp ein Drittel, im Osten allerdings etwas mehr als die Hälfte des jeweiligen Durchschnitts erreichen.
Wirft man noch einen kurzen Blick auf Veränderungen von Vermögensungleichheiten, so besaßen z.B. 1983 die obersten 10 Prozent der (westdeutschen) Haushalte fast 50 Prozent des statistisch erfassten Vermögens, die ärmere Hälfte der Haushalte jedoch nur etwas mehr als 3,3 Prozent. 1998, also 15 Jahre später, konnte das obere Zehntel aller deutschen Haushalte dann mit rund 44 Prozent des gesamten Vermögens etwas weniger auf sich vereinigen; die untere Hälfte verfügte dagegen mit gut 4 Prozent über einen marginal höheren Anteil. Im Jahre 2003 belaufen sich dann die entsprechenden Anteile auf knapp 47 Prozent für die "reichsten" 10 Prozent (wobei deren durchschnittliches Vermögen bei mehr als 600 000 Euro liegt) und auf knapp 4 Prozent für die "ärmeren" 50 Prozent - bei einem Durchschnitt von etwa 10 000 Euro, hinter dem sich jedoch z. T. hohe "Negativvermögen", also Verschuldungen, verbergen. Da sich jedoch schon früher Schwankungen in diesen Anteilswerten gezeigt haben, muss an dieser Stelle offen bleiben, ob sich hinter den Veränderungen zwischen 1998 und 2003 eine dauerhafte "Trendwende" in der Ungleichverteilung von Vermögen verbirgt und wir zukünftig eventuell mit einem erneuten Anwachsen entsprechender Ungleichheiten rechnen müssen.
Eine der Vermögensverteilung ähnliche, etwas weniger deutlich ausgeprägte, gleichwohl jedoch über rund drei Jahrzehnte ziemlich stabile Ungleichverteilung ergibt sich für Westdeutschland, wenn man das verfügbare (Haushaltsnetto-)Einkommen betrachtet - wobei hier die Daten bis in die sechziger Jahre zurückreichen: So konnten etwa 1969 die untersten 10 Prozent der Haushalte über 4,5 Prozent und die obersten 10 Prozent der Haushalte über 22,3 Prozent der gesamten Haushaltseinkommen verfügen; 1998 lagen die entsprechenden Anteile bei 4,0 Prozent und 22,2 Prozent. Fragt man auch hier nach Zusammenhängen zwischen beruflicher Stellung und dem Haushaltsnettoeinkommen, stellt sich ebenfalls eher der Eindruck langfristiger Konstanz ein. So konnten die Haushalte von Selbständigen im Jahre 1969 zwar noch rund das 1,6fache des Durchschnittseinkommens erzielen, sind aber bis 1998 auf das 1,4fache "zurückgefallen". Leichte Verluste (vom 0,9fachen auf das gut 0,8fache) mussten in diesem Zeitraum auch Landwirte hinnehmen, während Beamte (vom 1,1fachen auf das 1,2fache) leichte Gewinne in ihrer relativen Einkommensposition verbuchen konnten. Angestellte lagen fast durchgängig bei dem 1,1fachen, Arbeiter beim 0,8fachen und Rentner bzw. Pensionäre beim gut 0,9fachen des durchschnittlichen Einkommens.
Wird die westdeutsche Bevölkerung auf der Datengrundlage des SOEP weiter nach den relativen Abständen zum "Nettoäquivalenzeinkommen" in fünf Einkommenssegmente untergliedert, so weist die Einkommensverteilung in Westdeutschland in den achtziger und neunziger Jahren eine hohe Stabilität auf: Rund 4 Prozent der Haushalte beziehen fast im ganzen Zeitraum mehr als das Doppelte des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens - dieser Einkommensbereich wird häufig auch als "reich" bezeichnet. Gut zwei Fünftel befinden sich in diesem Zeitraum in einer "mittleren" Einkommenslage, und 9 bis 12 Prozentverfügen über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens und können deshalb als (relativ) "arm" gelten. Bei einer etwas anderen Einteilung nach Einkommensschichten ergibt sich für den Zeitraum von 1991 bis 2002 schließlich das in Abbildung 2 (PDF-Version) wiedergegebene Bild: Im Westen verändert sich der Anteil derjenigen, die aufgrund ihrer Einkommenssituation in "relativem Wohlstand" leben (sie beziehen mehr als 150 Prozent des durchschnittlichen westdeutschen Haushaltsnettoeinkommens) kaum; im Osten nimmt er dagegen - gemessen am ostdeutschen Durchschnitt - zu. Mit rund 10 Prozent in den alten und 12 bis 11 Prozent in den neuen Bundesländern scheint auch der Anteil derjenigen, die sich in einer "gehobenen" Einkommenslage befinden, eher konstant zu bleiben. Ein relatives "Schrumpfen" lässt sich jedoch im Bereich mittlerer Einkommen beobachten: in Westdeutschland von 42 Prozent auf 40 Prozent und in Ostdeutschland von fast 57,5 Prozent auf 51 Prozent. Zu wachsen scheint dagegen jener Einkommensbereich - und zwar sowohl in West- wie in Ostdeutschland -, für den der Begriff "relative Armut" verwendet werden kann.
Zusammen mit der Beobachtung, dass seit der Jahrtausendwende der "Gini-Index" wieder ansteigt, kann dies als ein Indiz für ein neuerliches Anwachsen von Einkommensungleichheiten in Deutschland gewertet werden. Da die üblichen Messverfahren dabei jedoch in der Regel auf dem Nettoäquivalenzeinkommen beruhen, gehen in einen solchen Indikator sowohl Veränderungen der Markteinkommen, des Steuersystems und der sozialstaatlichen Transfers als auch der Haushaltszusammensetzungen ein. Allein auf dieser Grundlage kann daher nicht entschieden werden, worauf eine mögliche Vergrößerung von Einkommensungleichheiten, die sich über kumulative Effekte im Zeitverlauf auch auf Vermögensungleichheiten auswirkenwürde, zurückzuführen ist: Verschärfte nationalewie internationale (Arbeitsmarkt- und Lohn-)Konkurrenz kann sich darin dann ebenso ausdrücken wie ein zunehmendes "Versagen" wohlfahrtsstaatlicher Ausgleichsbemühungen oder die voranschreitende Pluralisierung von Lebens- und Haushaltsformen, die u.a. zu einer Zunahme Alleinerziehender (insbesondere: Frauen) geführt hat.
Bemerkenswert bleibt aber trotz einiger in jüngster Zeit auftauchender Indizien für eine neuerliche Zunahme von Vermögens- und Einkommensungleichheiten vor allem ihre längerfristige Konstanz - sieht man hier einmal von Ostdeutschland ab, wo sich, ausgehend von einer gegenüber der alten Bundesrepublik deutlich egalitäreren Einkommensverteilung in der DDR, in dieser Hinsicht ziemlich rasch "westliche" Verhältnisse eingestellt haben. Bemerkenswert ist aber auch eine weitere (Fast-)Konstante in den Einkommensungleichheiten, nämlich die zwischen Männern und Frauen: Dass Frauen "im Durchschnitt" weniger verdienen als Männer, wurde, ganz im Sinne "leistungsgesellschaftlicher" Maximen, lange Zeit mit ihrer geringeren Qualifikation "begründet" und/oder auf die Konzentration von Frauen in bestimmten Berufsbereichen zurückgeführt. Neuere Untersuchungen können jedoch zeigen, dass sich in Westdeutschland auch dann, wenn man die Löhne vollzeitbeschäftigter Männer und Frauen bei gleicher Qualifikation in den gleichen Berufen (und Betrieben) miteinander in Beziehung setzt, eine zwischen 1993 und 2001 weitgehende konstante Lohndifferenz von 12 Prozent zu Gunsten der Männer ergibt. Differenzen dieser Art, die sich weder in marktbeherrschten Gesellschaft wie den USA noch beispielsweise im wohlfahrtsstaatlich geprägten Schweden finden lassen, können weder durch unterschiedliche Ausstattungen mit "Humankapital" erklärt noch durch Verweise auf das "Leistungsprinzip" gerechtfertigt werden.
Ungleichheiten auf hohem Niveau
Nachzutragen bleibt in dieser Skizze zu "deutschen Ungleichheiten" noch, dass es sich bei den gerade geschilderten Ungleichheiten von Vermögen und Einkommen im historischen wie im internationalen Vergleich zweifellos um Ungleichheiten auf hohem Niveau handelt. Ulrich Beck hat dafür im Zusammenhang mit seiner viel diskutierten "Individualisierungsthese" die Metapher vom "Fahrstuhleffekt" geprägt, und im englischsprachigen Raum findet sich das verwandte Bild des "Rolltreppeneffekts". Damit ist gemeint, dass der steigende Massenwohlstand - und mithin die für die überwiegende Mehrheit zumindest der westdeutschen Bevölkerung prägende Nachkriegserfahrung von "Wirtschaftswunder" und stetigem Wirtschaftswachstum, die Helmut Schelsky (1968) schon für die fünfziger und sechziger Jahre von einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" sprechen ließ, - zwar die Abstände zwischen Oben und Unten kaum tangiert, jedoch gleichzeitig das gesamte Ungleichheitsgefüge eine oder mehrere Etagen höher gefahren hat. Die international vergleichende Forschung zeigt dazu, dass zumindest im Raum der Europäischen Union Einkommensungleichheiten in der Regel umso niedriger sind, je höher das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung ist - ein Zusammenhang, der sich dann noch in Richtung geringerer Einkommensungleichheiten verstärkt, wenn man das Wirken wohlfahrtsstaatlicher Umverteilungen mit einbezieht.
Genau auf diese allgemeine Wohlstandssteigerung hat sich nun auch die Lebensstil- und Milieuforschung seit den achtziger Jahren immer wieder berufen, wenn es darum ging, die "relative Autonomie" von Lebensstilen und Milieus als (neue) Formen der sozialen Integration zu betonen. Zwar ist bis heute umstritten, ob dies einen endgültigen Abschied von der Vorstellung einer vertikal-hierarchisch klar gegliederten Ungleichheitsstruktur bedeutet - oder ob sich auch in Lebensstilen und Milieus ungleiche Lebensbedingungen bzw. unterschiedliche soziale Lagen ausdrücken. Der Blick richtete sich dabei aber meist auf Zusammenhänge zwischen (materiellen) Ungleichheiten einerseits sowie Lebensstilen und Milieus andererseits.
Zu wenig beachtet wurde und wird dabei jedoch, dass Lebensstile und Milieus nicht nur "Zugehörigkeiten" einfordern oder erzeugen, sondern die darauf aufbauende Minimierung "interner" Unterschiede und Ungleichheiten bei gleichzeitiger Abgrenzung "nach außen" zugleich direkt oder indirekt selbst zur Produktion und Reproduktion von Ungleichheiten beitragen können - etwa auf dem Wege einer "ständischen Regulierung" von Bildungschancen. Das kann aber auch durch die Verteidigung von Einkommenspositionen im komplizierten Geflecht von (Tarif- und Gehalts-)Verhandlungen, steuerlichen Begünstigen und sozialstaatlichen Transfers geschehen, bei der die (gleicheren) "Insider" allemal bessere Chancen haben als die (ungleicheren) "Outsider" und ähnliche Lebensstile die Suche nach Verbündeten erleichtern können. So gesehen, kann also nicht ausgeschlossen werden, dass der "illegitime" Einfluss von Zugehörigkeiten - und damit das "ständische Prinzip" - wider Erwarten auch dann virulent bleibt, wenn der "Fahrstuhl" des Wohlstandes in höheren Etage verharren oder gar noch weiter nach oben fahren sollte. Die angestrebte "Gleichheit" von Lebensbedingungen könnte dann allerdings auch bei großem gesellschaftlichen "Reichtum" mit einer verschärften Abgrenzung gegenüber Nicht-Zugehörigen einhergehen - und dies wäre wohl kaum mit "sozialer Gerechtigkeit" vereinbar.